Süddeutsche Zeitung - 18.09.2019

(Tina Sui) #1
interview: tobias kniebe

W

enn bewältigte Lebenskrisen ei-
ne solche Aura von souveräner
Freundlichkeit mit sich bringen,
wie sie Brad Britt, 55, an diesem heißen
Tag in Venedig ausstrahlt, wovor haben
wir dann überhaupt Angst? Bis 2016 bilde-
te er mit Angelina Jolie das Glamourmons-
ter „Brangelina“, das dann in einer hässli-
chen Operation wieder getrennt werden
musste. Negativität kam dabei allerdings
nie von seiner Seite – Grundlage für zwei
neue, sensationell gereifte Auftritte: in
Quentin Tarantinos „Once Upon A Time In
Hollywood“ und jetzt in „Ad Astra“.


SZ: Mr. Pitt, was war der Grund für Sie, zu
den Sternen aufzubrechen?
Brad Pitt: Zuallererst James(der Regisseur
James Gray, d. Red.) mit dem ich seit mehr
als zwanzig Jahren befreundet bin. Die Zeit
war reif, dass wir endlich einen Film zu-
sammen machen. Dann dieser Gedanke
über das Universum, der dem Autor Arthur
C. Clarke zugeschrieben wird: Entweder
sind wir nicht allein, das heißt, irgendwo
da draußen gibt es Aliens. Oder wir sind
doch allein, vollkommen und absolut. Bei-
des gleichermaßen furchterregend, wenn


man so darüber nachdenkt – das erschien
mir spannend. Und schließlich gab es et-
was in der Figur dieses Astronauten, das
mich sehr persönlich beschäftigt hat. Es
hat mit der Frage zu tun, was es eigentlich
heißt, ein Mann zu sein.


Große Frage, in der Tat...
Ich weiß ja nicht, wie Sie als Mann so ge-
prägt worden sind, aber ich bin mit einer
Idee von Maskulinität aufgewachsen, die
davon handelte, stark zu sein, mit Dingen
fertig zu werden, keine Schwäche zu zei-
gen, nicht verletzlich zu sein. Was ich dar-
an immer noch mag, und was mir auch ge-
holfen hat – das ist diese Vorstellung, dass
ich Dinge schaffen kann. Etwa den Sprung
aus einer Kleinstadt im Herzen der USA
nach Los Angeles. Nach diesem Prinzip
funktionieren wir einen Teil unseres Le-
bens – bis wir den Schattenseiten nicht
mehr entkommen können.


Oh ja.
Denn die große Falle ist doch die, dass wir
Männer so einen Teil unserer selbst ver-
leugnen müssen. Wir unterdrücken unse-
re Selbstzweifel, unsere inneren Schmer-
zen, unsere Trauer, unsere Reue. Das alles
wird nicht richtig anerkannt, nicht in die
große Inventur mit aufgenommen. Und
genau diese Fragen erforscht „Ad Astra“
an meiner Figur. Ob eine wirkliche Verbin-
dung mit einem anderen Menschen, ein
wirkliches Selbstvertrauen nicht doch
eher daher kommt, diese verdrängten Din-
ge anzunehmen – und viel offener damit
umzugehen.


In der Story geht es auch darum, wie Väter
das an ihre Söhne weitergeben. Roy, der
Astronaut, den Sie spielen, muss für diese
Antworten bis zum Neptun fliegen.
Ja klar. Gerade wir amerikanischen Män-
ner haben doch immer noch den Marlboro
Man als Idee im Kopf, oder diese Clint-East-
wood-Figur. Einen stoischen Individualis-
ten, der den Krieg überstanden hat, der am


Ende immer gewinnt – zumindest auf je-
den Fall im Kino. Väter und Söhne, das ist
ein großes Ding für mich. Unsere Eltern
sind doch wirklich unsere Götter und Rat-
geber, sie zeigen uns, wie die Welt zu meis-
tern ist. Und je älter ich werde, desto besser
verstehe ich sie, desto mehr Empathie spü-
re ich für sie, erkenne Dinge, die ich als
Kind falsch gedeutet habe, die mich da-
mals verletzt haben. Was meine Eltern mir
geschenkt haben, gewinnt mehr und mehr
an Wert. Aber sorry, beantworte ich noch
Ihre Frage?

Ja sicher.
Sehen Sie, dieser Film ist so dicht für
mich ... da drifte ich manchmal sonst wo-
hin.

Gerade waren wir bei der Maskulinität
der Väter.
Oh ja, ich sehe meinen Dad in allem, was
ich tue. Entweder, indem ich ihm nacheife-
re und wie er sein will, oder indem ich ir-
gendwie gegen ihn rebelliere. Er hat mich
unauslöschlich geprägt. Er kannte wirkli-
che Not und Armut, und er wollte uns Kin-
dern ein besseres Leben ermöglichen, als
er es selbst hatte. Dieses Gefühl erkenne
ich in mir wieder, jetzt bei meinen eigenen
Kindern.

Konnten Sie all das für die Rolle nutzen?
Ja, mit einer ziemlich schmerzhaften Ehr-
lichkeit. Ich reise zwar in die Weiten des
Weltraums, aber eigentlich geht es hier um
Introspektion – und wenn man da unehr-
lich wird, sieht man es sofort, das entwer-
tet dann alles. Du findest dich also in Zo-
nen deines Inneren wieder, die nicht leicht
zugänglich sind, in denen du nicht so gern
verweilst.

Vergleicht man Cliff, die tolle Figur, mit
der Sie gerade in Quentin Tarantinos „On-
ce Upon A Time In Hollywood“ im Kino
sind, mit Roy in „Ad Astra“, fällt eine Ge-
meinsamkeit auf: Beide halten beharrlich
an etwas fest. An einer Art Common Sense
vielleicht?
Ja, da würde ich zustimmen, aber ist es
Common Sense? Ich habe ein anderes Wort
auf der Zunge, Moment, was ist es? Ich
glaube, Vernunft. Miteinander zu Einsich-
ten kommen, und mit sich selbst. Aber
man muss schon durch die dunkle Nacht
der Seele gehen, wie Roy, all den Schrecken
gegenübertreten, die wir selbst sind, um
zu einem Ort wie Cliff zu kommen, wo die
Dinge dann leicht werden, wo man jeden
Tag annimmt, wie er kommt.

Die Versuchung im Weltraum ist ja auch,
sich einfach fallen zu lassen ins große
Nichts, in die Unendlichkeit.Warum über-
haupt zurückkehren?
Hm, ja, warum? Das Leben ist unordent-
lich und schwierig, eine ewige Herausforde-
rung ... und das sagt jetzt der Typ, der in
der Lotterie gewonnen hat, was Geld und
Ruhm betrifft. Was immer dich antreibt –
das ist es dann auch, was dich aus dem All
zurückbringt.

Sie selbst treibt erkennbar das Ziel an, Fil-
me in die Welt zu bringen, die nicht leicht
zu machen sind. Etwa, wenn Sie bei „AdAs-
tra“ auch als Produzent einsteigen, oder
in derselben Funktion Filme wie „12 Years

A Slave“ oder „The Big Short“ auf den Weg
bringen.
Ja, ich bin stolz auf die Filme, die ich mit mei-
nen Partnern so realisieren konnte. Das war
häufig ein Spiel mit hohem Einsatz, das die
Studios aus Kostengründen nicht mehr spie-
len, weil es eben um komplexe und heraus-
fordernde Stoffe geht. Die aber nach wie vor
das sind, was die meisten Filmemacher be-
wegt, und darum geht es doch. Ich bin froh,
dass ich Regisseuren helfen konnte, die ich
sehr bewundere, und Geschichten, die
durch meinen Namen vielleicht einen klei-
nen Schubs bekommen haben. Wenn ich das
amerikanische Kino so anschaue, würde ich
zwischen Spektakeln unterscheiden, davon
gibt es genug, und Filmen, die einer Wahr-
heit auf der Spur sind. Die sind gefährdet,
die müssen heutzutage meistens kleiner,
überschaubarer realisiert werden. „Ad As-
tra“ versucht, diese beiden Welten noch ein-
mal zu verbinden.

Wie gehen Sie damit um, wenn im Zusam-
menhang mit Ihnen jetzt wieder öfter das
Wort „Oscar“ fällt?
Erst einmal bin ich einfach neugierig, wie
dieser komplexe und subtile Film so lan-
den wird. Die Story sollte ja Bedeutung ha-
ben, über den Tag hinaus, aber da müssen


  • Achtung Wortspiel! – die Sterne schon
    günstig stehen, damit diese Konstellation


eintritt. Filmpreise sind dann eher ein schö-
nes Nebenprodukt, da freut man sich doch
für jeden, dessen Nummer gezogen wird.
Sollte so ein Preis aber der Grund sein, war-
um du das alles überhaupt machst –then
you’re fucked.

Das weiß man als junger Schauspieler
aber auch noch nicht, oder?
Ja sicher, man wird älter, man wird freier!
Oder sagen wir so: Entweder steigert
man sich immer mehr in seinen egomanen
Irrsinn hinein, oder man gewinnt an Weis-
heit. Zwangsläufig. Ich ziehe einen gewis-
sen Stolz daraus, nicht mehr so ... reaktiv
zu sein. Ein bisschen wie Cliff im Film von
Tarantino. Zu akzeptieren, was meines We-
ges kommt. Und zu wissen, dass Gott ...
oder der Geist ... oder das Universum, wie
auch immer du es nennen willst, nicht ge-
gen dich ist. Dass alles eine Gelegenheit ist,
größer zu werden.

Wie allerdings kommt man zu so einem
Punkt der Bescheidenheit, wenn man
trotzdem eben immer noch, nun ja...Brad
Pitt ist?
Was Sie da gerade sehen, ist die Außenseite.
In mir drin ist aber immer noch das Kind aus
den Ozarks, aus armen Hinterwäldern. Der
Junge, der eines Tages seinen Kofferraum
vollgeladen hat, um sein Glück in der Frem-
de zu suchen. Für den New York das Unbe-
kannte war und Los Angeles ein fremder Pla-
net. Der 23 Jahre alt werden musste, bis er
sein erstes Flugticket in der Hand hielt. Ver-
stehen Sie, dieser Kerl ist immer noch da
drin. Nur heute versucht er halt, zu wachsen
und zu lernen, und liest bei den Philosophen
nach, wann immer er kann. Die antiken Stoi-
ker zum Beispiel, die sind gerade wirklich
wichtig für mich. Es ist überwältigend, wie
sehr sie ihrer Zeit voraus waren. Oder aber,
wie wenig wir in den letzten zweitausend
Jahren gelernt haben. Praktisch nichts, um
genau zu sein.

„Das Leben ist unordentlich
und schwierig, eine
ewige Herausforderung.“

„Was Sie da
geradesehen, ist
die Außenseite.“

Die Osterfestspiele in Salzburg verlängern
den Vertrag des künstlerischen Leiters
Christian Thielemann und der Sächsi-
schen Staatskapelle Dresden nicht. Das
entschied der Aufsichtsrat. Der künftige In-
tendant Nikolaus Bachler will stattdessen
nach 2022 jährlich wechselnde Orchester
nach Salzburg holen. Zwischen Thiele-
mann, seit 2013 künstlerischer Leiter in
Salzburg, und Bachler war ein Streit um
das Programm bei den Osterfestspielen ab
2022 entbrannt. Von da an ist Bachler, der
bereits kaufmännischer Geschäftsführer
ist, Intendant mit künstlerischer Gesamt-
verantwortung. Während im kommenden
Jahr Verdis „Don Carlos“ und 2021 Pucci-
nis „Turandot“ gespielt werden, gab es für
die Folgejahre große Unstimmigkeiten. Of-
fenbar wollte Thielemann Wagners „Lo-
hengrin“ und Strauss’ „Elektra“ auf die
Bühne bringen, Bachler soll sich dagegen
für Webers „Freischütz“ und Wagners
„Der fliegende Holländer“ ausgesprochen
haben. Wie das Land Salzburg mitteilte, zei-
gen die Osterfestspiele 2022 unter dem Di-
rigat von Thielemann „Lohengrin“. Dann
endet Thielemanns Vertrag. „Ich wurde en-
gagiert, um das Festival über 50 Jahre nach
seiner Gründung neu zu gestalten und in
die Zukunft zu führen – sowohl inhaltlich
als auch strukturell“, sagte Bachler zu der
Entscheidung. Von 2023 an soll jedes Jahr
„eines der weltbesten Orchester mit einem
namhaften Dirigenten“ gastieren. dpa

Mit Stoizismus zu den SternenWie derSuperstar Brad Pitt seiner Karriere noch mal neuen Schub verleiht


Die früher in München lehrende Philoso-
phin Lisa Herzog, 35, erhält den mit
100 000 Euro dotierten Deutschen Preis
für Philosophie und Sozialethik. Ausge-
zeichnet würden insbesondere ihre beiden
Bücher „Freiheit gehört nicht nur den Rei-
chen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Libe-
ralismus“ (2014) und „Die Rettung der Ar-
beit. Ein politischer Aufruf“ (2019), teilte
die Hamburger Max-Uwe-Redler-Stiftung
mit. Der Preis gilt als höchstdotierter im
deutschsprachigen Raum auf dem Gebiet
der Philosophie. Er wird am 28. Oktober in
Hamburg verliehen. Lisa Herzog lehrt an
der Universität Groningen. epd

„Was meine Eltern mir
geschenkthaben, gewinnt
mehr und mehr an Wert.“

Der Jury des Deutschen Buchpreises hat
die sechs Titel der Shortlist bekannt gege-
ben: die Romane „Das flüssige Land“, von
Raphaela Edelbauer, „Kintsugi“ von Miku
Sophie Kühmel, „Nicht wie ihr“ von Tonio
Schachinger, „Herkunft“ von Saša
Stanišić, „Winterbienen“ von Norbert
Scheuer und „Brüder“ von Jackie Thomae.
Vergeben wird der Preis zum Auftakt der
Frankfurter Buchmesse.
Dabei fallen verschiedene Dinge auf.
Zum einen hat die Jury neuen Stimmen
den Vorzug vor etablierten Autoren gege-
ben. Nora Bossongs viel gelobter Roman
„Schutzzone“ etwa oder Marlene Streeru-
witz’ „Flammenwand“ galten als Favoriten
der Longlist, fehlen jetzt aber auf der Short-
list. Stattdessen haben es gleich drei Debü-
tanten in die engere Auswahl geschafft.
Die Hälfte der Shortlist-Autoren wurde in
den Neunzigerjahren geboren.
Diese Altersstruktur rückt Themen in
den Vordergrund, die in der deutschen Lite-
ratur relativ neu sind. In allen nominierten
Romanen gehe es „um den Ort der globa-
len Welt, von dem aus das eigene Dasein zu
begreifen ist“, so der Jury-Sprecher Jörg
Magenau. Vor allem die Identität des Man-
nes sei problematisch geworden. Vielleicht
habe der Generationswechsel damit zu
tun, „dass die Jüngeren bei diesen Themen
schärfer hinschauen“, so Magenau. In der
Zusammensetzung der Liste wird außer-
dem die Ambition erkennbar, die literari-
sche Landschaft in Deutschland in ihrer Ge-
samtheit abzubilden. Die Hälfte der Nomi-
nierten ist weiblich und wenn man den An-
teil der Migrationshintergründe auszählen
wollte, geriete man schnell an die Grenzen
des Konzepts. Auch das ist eine Leistung
dieser Liste.
Wäre zum Beispiel Jackie Thomae mit-
zuzählen, weil sie einen guineischen Vater
hat, den sie allerdings erst spät kennen ge-
lernt hat? Oder Tonio Schachinger, der laut
Verlagsauskunft in Neu Delhi geboren und
in Nicaragua aufgewachsen ist? Das ist
eher selten: Schon die Liste selbst erschüt-
tert die Begriffe. felix stephan

Riesig ragt die Antenne in die oberen
Schichten der Erdatmosphäre, viele Kilo-
meter hoch. Wartungsarbeiten in diesen
Höhen durchzuführen, das ist nur etwas
für Leute mit Nerven und Berufsethos.
Ohne psychologischen Test wird auf der
Station am Gipfel der Anlage niemand
durch die Luftschleuse ins Draußen gelas-
sen, wo das Blau des Himmels und das Dun-
kel des Weltraums ineinander übergehen.
So spricht der Ingenieur Roy McBride eini-
ge Sätze in den Computer, bevor er im
Raumanzug aussteigen darf. Seine Stim-
me ist leise. Man könnte meinen, er sei
traurig, doch in Wahrheit ist er einfach ru-
hig. Er ist der perfekte Mann für den Job.
Ein Profi. Und natürlich schwindelfrei.
Schwindelfreiheit empfiehlt sich auch
für den Zuschauer in diesen ersten Minu-
ten von „Ad Astra – Zu den Sternen“, dem
neuen Film von James Gray, der gerade bei
den Filmfestspielen in Venedig uraufge-
führt wurde. Es ist Brad Pitts zweiter Groß-
auftritt in diesem Jahr, nach Quentin
Tarantinos „Once Upon a Time in Holly-
wood“, wo er den Stuntman eines Schau-
spielers im Hollywood der späten Sechzi-
gerjahre verkörperte. Stuntleute werden
bekanntlich fürs Hinfallen bezahlt. Mit ei-
nem tiefen Sturz beginnt auch dieser Film.
Denn während der von Pitt gespielte McBri-
de auf dem Gerüst arbeitet, kommt es über
ihm zu einer Explosion. Er verliert den
Halt, fällt in die Tiefe, dreht sich mehrfach
um die eigene Achse, bis er doch noch den
Fallschirm öffnen kann.
Unten angelangt wartet ein Auftrag auf
ihn. In einem großen, leeren, grauen Raum
erklären Offiziere des Weltraumpro-
gramms, dass der Vorfall an der Antenne
kein Einzelfall war. Überall auf der Welt
kommt es zu elektromagnetischen Stür-
men, ausgelöst von Energiewellen, deren


Quelle am Rand des Sonnensystems lokali-
siert wurde. Und da kommt McBride ins
Spiel. Dessen Vater (Tommy Lee Jones) be-
fehligte einst das sogenannte Lima-Pro-
jekt, eine Forschungsmission zum Neptun.
Roy war zehn, als sein Vater fortging, er
war neunundzwanzig, als jegliche Kommu-
nikation mit dessen Raumschiff abbrach.
Hat dieser am Ende etwas mit den Gescheh-
nissen auf der Erde zu tun? McBride soll Nä-
heres herausfinden, Kontakt zu seinem Va-
ter herstellen, die Quelle der Schockwellen
neutralisieren.

Der Plot hört sich nach dem Stoff an, aus
dem viele Hollywoodfilme gemacht sind:
Ein einsamer Held wird ausgesandt, um
die Menschheit zu retten. Doch nichts fühlt
sich hier nach einer heroischen Mission an.
„Sind Sie einverstanden?“, fragt man
McBride. „Habe ich eine Wahl?“, entgegnet
er. Seine Stimme ist immer noch leise. Nun
klingt sie doch etwas traurig. Die bevorste-
hende Reise wird eine schmerzhafte Aus-
einandersetzung mit einer komplizierten
Vaterfigur werden. McBride besteht noch
eine Weile seine psychologischen Tests, de-
nen er am Computer regelmäßig unterzo-
gen wird. Bis er irgendwann durchfällt.
Für Hollywood-Verhältnisse ist nicht
nur McBrides Mission, sondern auch
Grays Film keine einfache Angelegenheit.
James Gray ist kein anonymer Blockbuster-
Regisseur, sondern ein renommierter Fil-
memacher, der die Filmgeschichte kennt
und sein Handwerk als Ausübung einer
Kunst begreift. Nun wurde im März das
produzierende Studio, Fox, von Disney ge-

kauft, dem Unterhaltungsriesen, der end-
lose Neuauflagen etablierter Marken be-
vorzugt: Lieber einen zwanzigsten „Star
Wars“- oder Marvel-Film als ein kommer-
zielles Risiko eingehen, Brad Pitt hin oder
her. Der Starttermin wurde verschoben.
Man kann von Glück sagen, dass „Ad As-
tra“ doch noch im Kino gelandet ist. Für sol-
che Filme sieht es in Hollywood im Lichte
des Disney/Fox-Deals düster aus.
Komplex ist „Ad Astra“ allein wegen sei-
ner Zwischentöne. Die Zukunft ist weder
dystopisch noch besonders strahlend, son-
dern eine Zeit, in der die Menschen begon-
nen haben, ernsthaft Raumfahrt zu betrei-
ben und den Weltraum zu kolonisieren –
aus rationalen, wirtschaftlichen Motiven.
Raketenflüge wie der, mit dem McBride zu-
nächst zum Mond gelangt, sind mittlerwei-
le Routine. Es gibt Weltraumbahnhöfe wie
Flughäfen. Auf der Mondbasis springen Fi-
lialen von Subway und DHL ins Auge. Das
Product Placement vermittelt den Ein-
druck von Alltäglichkeit. Die Mondbasis
empfängt einen mit den Worten: „Wo die
Welt zusammenkommt.“ Währenddessen

gehen die Kämpfe um Ressourcen weiter,
gerade auf dem Mond. Fährt man, wie
McBride, mit einem Mondrover von einer
Basis zur anderen, riskiert man, von Pira-
ten überfallen zu werden.
In dieser „Zeit von Hoffnung und Kon-
flikt“, die eine Texteinblendung anfangs
ankündigt, hat die Menschheit jedoch
auch in die Idee investiert, nach außerirdi-
schem Leben zu suchen, daher die Welt-
raumantenne, daher die Neptun-Mission
von McBrides Vater. Es gibt Zeichen für
Hoffnung, für Forschergeist, für Fort-
schritt. Doch wo die Grenzen des Bekann-
ten übertreten werden, lauern auch Hybris
und Wahnsinn. Sein Vater, so findet McBri-
de heraus, ist über seiner Suche nach Ali-
ens offenbar verrückt geworden. Der Film
erinnert darin an Coppolas „Apocalypse
Now“, in dem Martin Sheen im Vietnam-
krieg einen Fluss hinauf ins Reich der
Dunkelheit fährt, errichtet von einem von
Marlon Brando gespielten Colonel, der den
Verstand verloren hat.
Andere haben den Film mit Kubricks
„2001 – Odyssee im Weltraum“ verglichen.

Aber „Ad Astra“ hat nicht wirklich etwas ge-
mein mit diesen bildgewaltigen Phantas-
magorien der Filmgeschichte. Die Kraft
von Grays Film besteht in seiner visuellen
Zurückhaltung. Dies zeigt sich vor allem
im Vergleich mit einem jüngeren Welt-
raumspektakel, Christopher Nolans „Inter-
stellar“. Dort wurden die Wunder des Alls
in majestätischer Weise ausgestellt, etwa
der Saturn mit seinen Ringen. Gray arbei-
tet zwar mit Nolans Kameramann Hoyte
van Hoytema, doch gerade der Saturn, an
dem McBride auf seiner Reise vorbeifliegt,
bleibt hier ganz unscheinbar. Das Endziel
der Reise ist der bläulich-fahle Gasplanet
Neptun, der fast mit der Dunkelheit um
ihn herum zu verschmelzen scheint. Es
gehört zu Grays Handschrift, sich Orte wie
diesen auszusuchen, denen jede Opulenz
abgeht.
Denn was McBride erwartet, sind weni-
ger die letzten Geheimnisse des Univer-
sums, sondern es ist das Allzuvertraute.
Wie immer bei Gray ist die Familie das be-
stimmende Thema. In seinem letzten,
großartigen Film „Die versunkene Stadt Z“
verließ ein Entdecker immer wieder seine
Heimat, um eine geheimnisvolle Stadt im
Amazonas zu suchen. In „Ad Astra“ reist
ein Sohn bis an die Ränder des Sonnensys-
tems, um den Entdecker-Vater wiederzu-
finden, der einst alles hinter sich ließ. Man
mag nach außerirdischem Leben suchen,
nach der Ferne streben – vor den eigenen
Wurzeln gibt es kein Entkommen. Man
fällt immer wieder auf die Erde zurück.
philipp stadelmaier

Ad Astra, USA 2019. – Regie: James Gray. Buch:
Gray, Ethan Gross. Kamera: Hoyte Van Hoytema.
MitBrad Pitt, Tommy Lee Jones, Donald Suther-
land. Fox, 124 Min.

DEFGH Nr. 216, Mittwoch, 18. September 2019 HF2 9


Feuilleton
Warum das „Museum des


  1. Jahrhunderts“ in Berlin
    einen Neustart braucht 11


Literatur
„Das Duell“ – Volker Weidermann
über den Schaukampf zwischen
Grass und Reich-Ranicki 12

Wissen
Wird ein einfacher Bluttest
auf Down-Syndrom künftig
von den Kassen bezahlt? 14

 http://www.sz.de/kultur

„Man gewinnt


an Weisheit.


Zwangsläufig“


Brad Pitt über Väter und Söhne,


die Fallstricke der Männlichkeit,


Philosophen als Lebenshelfer


und seinen Film „Ad Astra“


Salzburg: Bachler sticht


Thielemann aus


Ausgezeichnete


Philosophin


Globaler Ort


Die Shortlist des Deutschen
Buchpreises ist jung und weiblich

Eine Reise an die Ränder des Sonnensystems


James Gray hat mit „Ad Astra – Zu den Sternen“ einen ungewöhnlich zurückhaltenden Science-Fiction-Film gedreht


Der Film erinnert mit seiner
Flussfahrt ins Reich der
Dunkelheit an „Apocalypse Now“

FEUILLETON


Alltag imAll – eine Dienstfahrt auf dem Mond. FOTO: FOX

Brad Pitt vor der Weltpremiere von „Ad Astra – Zu den Sternen“ beim Film-
festival von Venedig. FOTO: TRISTAN FEWINGS / GETTY IMAGES

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