Handelsblatt - 18.09.2019

(Sean Pound) #1
Heike Anger Berlin

E


in halbes Jahr ist es nun
her, dass die Gegner ei-
nes neuen EU-Urheber-
rechts auf die Straße gin-
gen, um gegen Uploadfil-
ter und für ein freies Internet zu de-
monstrieren. Am Ende gab Deutsch-
land eine Erklärung ab, nach der
Uploadfilter „nach Möglichkeit zu
verhindern“ seien. Dann war die
Brüsseler Reform beschlossene Sa-
che.
Doch wie das Versprechen zum
umstrittenen „Artikel 17“ eingelöst
werden soll, ist nach wie vor völlig
unklar. Das geht aus der Antwort der
Bundesregierung auf eine Kleine An-
frage der FDP-Fraktion hervor, die
dem Handelsblatt vorliegt.
Dort heißt es, das zuständige Bun-
desjustizministerium habe „mit der
Erarbeitung eines Entwurfs für ein
Gesetz“ zur Umsetzung der EU-Richt-
linie in deutsches Recht begonnen.
Aber: „Die Frage, welchen Vorschlag
die Bundesregierung dem Deutschen
Bundestag zur Umsetzung des Arti-
kels 17 (...) unterbreiten wird, ist
noch nicht entschieden.“
Mit der Reform sollte das Urheber-
recht an das Internet-Zeitalter ange-
passt werden. Künftig sollen Plattfor-
men wie Youtube bereits beim Hoch-
laden überprüfen müssen, ob in
Inhalten urheberrechtlich geschütz-
tes Material steckt. Experten gehen
davon aus, dass dies nur über auto-
matisierte Filter geschehen kann. Kri-
tiker fürchten darum, dass mehr
Material als nötig im Filter „hängen
bleibt“, was die Meinungsfreiheit im
Internet einschränken würde.

In ihrem Koalitionsvertrag hatten
sich CDU, CSU und SPD noch aus-
drücklich gegen Uploadfilter ausge-
sprochen. Schon bei den Verhand-
lungen in Brüssel hatte die damalige
Bundesjustizministerin Katarina Bar-
ley allerdings keine besonders gute
Figur gemacht. Ihre Nachfolgerin
Christine Lambrecht (beide SPD)
muss nun die schwierige Umsetzung
in nationales Recht hinbekommen.
In ihrer Antwort auf die Kleine
Anfrage der FDP beteuert die Bun-
desregierung, „etwaige bestehende
Umsetzungsspielräume“ zu prüfen,
„um einerseits Urheberrechte im In-
ternet zu schützen und andererseits
die Meinungs- und Informationsfrei-
heit zu wahren“. Ziel der Bundesre-
gierung sei es hierbei nach wie vor,
das Instrument „Uploadfilter“ so
weit wie möglich überflüssig zu ma-
chen.
Zudem wird versichert: „Die Refe-
rate des Bundesministeriums der Jus-
tiz und für Verbraucherschutz wer-
den mit einer dem jeweiligen Arbeits-
anfall angemessenen Personalstärke
ausgestattet.“

Hilferuf an Experten
Doch offenbar sind die Experten des
Justizministeriums ziemlich ratlos.
Zumindest verschickte Lambrechts
Ressort kürzlich ein Schreiben an Ex-
perten, mit der Aufforderung, doch
bitte „konkrete Regelungstexte“ für
die Umsetzung in das deutsche Recht
einzureichen.
In der Antwort der Bundesregie-
rung auf die FDP-Anfrage heißt es da-
zu nun, das Ministerium werde „die

abgegebenen Stellungnahmen veröf-
fentlichen, auswerten und die Ergeb-
nisse dieser Prüfung in die Überle-
gungen auch bei der Umsetzung von
Artikel 17“ einbeziehen.
Die Umsetzung der deutschen Pro-
tokollerklärung ist auch deswegen
heikel, weil eine nationale Lösung
den Prinzipien eines europäischen
digitalen Binnenmarktes widerspre-
chen würde. Entweder müsste der
Verzicht von Uploadfiltern also euro-
paweit gelten – was sich derzeit nicht
andeutet, weil es in anderen EU-Mit-
gliedstaaten wesentlich weniger Vor-
behalte gegen diese Technologie gibt.
Oder die Regelungen für Deutschland
müssen europarechtskonform sein –
eine Herausforderung bei der schwie-
rigen Materie.
Die Bundesregierung verweist in
diesem Punkt lediglich auf „Umset-
zungsworkshops“ der EU-Kommissi-
on mit Vertretern der Mitgliedstaa-
ten. Mit der Richtlinie hatte sich die
Kommission verpflichtet, einen Dia-
log mit allen betroffenen Interessen-
gruppen zu führen, um „Leitlinien“
zur Anwendung des Artikels 17 zu
entwickeln.
Die CDU hatte zur Hochzeit der
Proteste Lizenzmodelle vorgeschla-
gen, mit denen Plattformen die Urhe-
ber an Einnahmen beteiligen. Das
Motto: „Bezahlen statt blockieren“.
Demnach würden originale Musikstü-
cke, Filme oder Audiobooks mit ei-
nem „digitalen Fingerabdruck“ ver-
sehen. Jedes Werk, so versicherte die
CDU, könnte dann zweifelsfrei identi-
fiziert und dem Urheber zugeordnet
werden. Die Plattform müsste dann
für gekennzeichnete Werke Lizenzen
erwerben. Im Übrigen solle eine ge-
setzlich verpflichtend ausgestaltete
Pauschallizenz gelten. Dadurch wür-
de für die Plattformen die individuel-
le Überprüfungspflicht auf Urheber-
rechtsverletzungen vor dem Upload
entfallen – und damit auch die Not-
wendigkeit, diese zu filtern. Doch ob
solche Modelle mit der EU-Urheber-
rechtsrichtlinie vereinbar sind, ist un-
klar.
Die Opposition sieht das Vorgehen
der Bundesregierung zur Urheber-
rechtsreform kritisch: In den vergan-
genen Monaten sei immer wieder das
Argument zu hören gewesen, Arti-
kel 17 zwinge die Plattformen nicht
ausdrücklich zum Filtern. Es sei je-
doch fraglich, ob sich das, was in der
Theorie möglich erscheine, praktisch
umsetzen lasse.
„Die Regierung muss endlich zuge-
ben, dass sie uns Uploadfilter einge-
brockt hat“, sagte FDP-Rechtspoliti-
ker Roman Müller-Böhm dem Han-
delsblatt. Das sei ein „Erdbeben“ für
die Meinungsfreiheit im Internet.
Das Gesetzgebungsvorhaben muss
bis zum Ende der Umsetzungsfrist
am 7. Juni 2021 abgeschlossen sein.
„Das ist keine lange Frist“, heißt es
im Bundesjustizministerium.

Nationales Recht


Keine Alternativen zu


Uploadfiltern in Sicht


Die Bundesregierung hat mit der Umsetzung des neuen


EU-Urheberrechts begonnen. Wie sie ihr Versprechen halten will,


Uploadfilter zu vermeiden, ist noch unklar.


Demo gegen
Uploadfilter:
Schwer zu halten-
des Versprechen.

dpa

AOK-Studie


Homeoffice


kann krank


machen


Gregor Waschinski Berlin


D


as Büro in den eigenen vier
Wänden hat viele Vorteile,
doch die Tätigkeit im Home-
office kann auch psychisch belastend
sein und krank machen, wie eine ak-
tuelle Befragung des Wissenschaftli-
chen Instituts der AOK (WIdO) zeigt.
Etwa 74 Prozent der Befragten, die
häufig im Homeoffice arbeiten, fühl-
ten sich demnach in der letzten Zeit
erschöpft. Bei Beschäftigten, die aus-
schließlich im Büro tätig sind, lag der
Anteil hingegen bei 66 Prozent. Be-
schäftigte im Homeoffice klagten zu-
dem häufiger über Nervosität, Lustlo-
sigkeit, Schlafstörungen und Selbst-
zweifel. Für die Studie hat das Institut
rund 2 000 Beschäftigte zwischen 16
und 65 Jahren befragt.
Die Grenze zwischen Job und Pri-
vatleben verschwimme stärker, wenn
Beschäftigte von zu Hause arbeiten,
sagt der stellvertretende WIdO-Ge-
schäftsführer Helmut Schröder. „Da-
mit wächst das Risiko, dass Erho-
lungsphasen schrumpfen.“
Der Studie zufolge verlegt jeder
Dritte mit Homeoffice häufig Arbeits-
zeit auf den Abend oder das Wochen-
ende. Fast ein Fünftel der betroffenen
Befragten berichtet über Probleme
mit der Vereinbarkeit von Arbeitszeit
und Freizeit oder über Anrufe bezie-
hungsweise E-Mails des Arbeitgebers
außerhalb ihrer Arbeitszeiten.
Mehr als jeder dritte Beschäftigte,
der auch im Homeoffice arbeitet, hat
nach eigenen Angaben Probleme,
nach Feierabend abzuschalten – bei
Beschäftigten im Betrieb nur jeder
vierte. Auch im Urlaub kommt die Er-
holung nicht selten zu kurz: Rund 25
Prozent der Homeoffice-Befragten
denken in den Ferien manchmal an
Jobprobleme, bei Inhouse-Arbeiten-
den sind es nur gut 13 Prozent.


Auch gute Effekte


Dennoch hätten flexible Arbeitsbe-
dingungen auch gute Seiten, sagt
Schröder. Die Studie zeigt, dass viele
Befragte mit Homeoffice die Auto-
nomie schätzen und zu Hause kon-
zentrierter arbeiten können als im
Betrieb.
Die Digitalisierung befeuert den
Trend zum Homeoffice. Ob sich
durch die Veränderungen „gesund-
heitsförderliche oder gesundheits-
schädigende Effekte ergeben, ist we-
sentlich von der konkreten Gestal-
tung der Arbeit abhängig und von
den digitalen Kompetenzen der Men-
schen“, sagt Antje Ducki, Professorin
an der Beuth Hochschule für Technik
und Mitherausgeberin der Studie.
Auch WIdO-Vizechef Schröder for-
dert, dass der Rahmen für Tätigkeiten
im Homeoffice stimmen müsse. Das
Gesundheitsmanagement in Unter-
nehmen müsse die externen Beschäf-
tigten stärker berücksichtigen.
Bislang würden betriebliche Gesund-
heitsprogramme „oft an den Werks -
toren“ enden, sagt er.
Die Grünen forderten die Große
Koalition zum Handeln auf. „Homeof-
fice braucht klare Regeln zum Schutz
der Beschäftigten vor psychischen
Belastungen“, erklärten die Spreche-
rinnen der Grünen-Bundestagsfrakti-
on für Arbeitnehmerrechte und Ge-
sundheitspolitik, Beate Müller-Gem-
meke und Maria Klein-Schmeink.


Wirtschaft & Politik


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MITTWOCH, 18. SEPTEMBER 2019, NR. 180
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