Handelsblatt - 18.09.2019

(Sean Pound) #1
Barbara Gillmann Berlin

V


or 100 Jahren startete
nicht nur die erste deut-
sche Demokratie samt
Frauenwahlrecht, son-
dern auch die Grund-
schule: 1919 saßen erstmals alle
Schichten gemeinsam auf einer
Schulbank. Damals wie heute war die
Grundschule „eine Schule der Demo-
kratie“, lobte Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier zum Jubilä-
um.
Just zur Feier kocht indes die De-
batte über die Dauer hoch: Sowohl
der Philologenverband der Gymnasi-
allehrer als auch der Lehrerverband
fordern, die Grundschule solle in
ganz Deutschland nur vier Jahre dau-
ern. Das richtet sich gegen Berlin und
Brandenburg, wo sie sechs Jahre dau-
ert, und Mecklenburg-Vorpommern,
wo nach der vierjährigen Grundschu-
le alle Kinder seit 2006 eine zweijäh-
rige Orientierungsstufe besuchen.
„Gymnasiasten sollten mindestens
acht Jahre zur Vorbereitung des Abi-
turs haben – besser neun und nicht
nur sechs“, fordert die Vorsitzende
des Philologenverbands, Susanne
Lin-Klitzing. In den drei Ländern sei
die Durchfallerquote beim Abitur seit
vielen Jahren höher als im Bundes-
durchschnitt: „Es spricht sehr viel da-
für, dass das auch mit der kürzeren
Vorbereitungszeit am Gymnasium
selbst zusammenhängt, auch wenn
das bisher nicht empirisch unter-
sucht ist.“
„Die langjährige Behauptung von
Rot-Grün, eine vierjährige Grund-
schule selektiere zu früh und verteile

Schüler in Schubladen, aus denen sie
nicht mehr herauskommen, ist heute
angesichts von freiem Elternwillen
und Abituroption auch in nichtgym-
nasialen Bildungswegen nicht mehr
haltbar“, sagt der Vorsitzende des
Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidin-
ger. Das Problem der sechsjährigen
Grundschule sei auch, „dass sie von
ihren Befürwortern immer bewusst
‚leistungsfern‘ angelegt wurde“.
„Nicht zufällig haben Schulsysteme
mit sechsjähriger Grundschule oder
Orientierungsstufe bis Klasse 6 mit
die schlechtesten Leistungsergebnis-
se“, so Meidinger.
Nach dem Pisa-Schock, der den
Deutschen 2001 klarmachte, dass ih-
re 15-Jährigen im internationalen Ver-

gleich nur im unteren Mittelfeld ran-
gieren, galt „längeres gemeinsames
Lernen“ viele Jahre als ein Heilmittel
gegen die Misere. Dafür warben vor
allem die Pisa-Experten der OECD, in
Deutschland aber auch die Bertels-
mann Stiftung und diverse Bildungs-
experten.
In der Politik setzten sich SPD, Lin-
ke, Grüne und FDP dafür ein, Kinder
länger gemeinsam zu unterrichten
und so vor allem Schwächeren mehr
Zeit zu geben, bevor sie auf verschie-
dene Schulformen verteilt werden.
Das werde auch die in Deutschland
besonders starke Abhängigkeit von
Schulerfolg und Elternhaus senken,
so die Hoffnung.
In den Iglu-Studien der Viertkläss-
ler lagen die Deutschen anfangs an
der Spitze. Grundschullehrer könn-
ten besser mit Vielfalt umgehen,
Schwächere profitierten von Stär-
keren, lautete die verbreitete
Analyse.
Doch lediglich Mecklen-
burg-Vorpommern verlänger-
te das gemeinsame Lernen
um zwei Jahre. In Hamburg
scheiterte 2010 Schwarz-Grün
mit dem Plan einer sechsjähri-
gen Grundschule krachend an
einem Volksentscheid. Dage-
gen war vor allem das Bil-
dungsbürgertum.
Unverdrossen forderte die Bun-
desvorsitzende des Grundschul-
verbands, Maresi Lassek, eine
längere Grundschulzeit. Nur vier
Jahre gemeinsames Lernen
reichten nicht, weil sich vor al-

lem Kinder aus schwierigen Verhält-
nissen nicht entfalten könnten. Zu-
dem sei die vierjährige Grundschule
international ohnehin eine Ausnah-
me.
Eine Verlängerung jedoch steht in
keinem Bundesland an. Genauso we-
nig denken die drei Ausnahmeländer
an Verkürzung, teilten sie zur Forde-
rung des Philologenverbands mit.
Nach Ansicht des renommierten
Bildungsforschers Olaf Köller „ist die
Diskussion über die vier- oder sechs-
jährige Grundschule genauso über-
flüssig wie die G8/G9-Debatte. Viel-
leicht sollte sich der Philologenver-
band lieber darum kümmern, dass
die Unterrichtsqualität in den Grund-
schulen und Gymnasien besser
wird“, empfiehlt der Leiter des Leib-
niz-Instituts für die Pädagogik der Na-
turwissenschaften und Mathematik
in Kiel. Längeres gemeinsames Ler-
nen „reduziert etwas, aber bei Wei-
tem nicht vollständig soziale Un-
gleichheiten beim Übertritt auf das
Gymnasium“ und sei „per se nicht
besser aber auch nicht schlechter als
kürzeres gemeinsames Lernen“.
Sinnvoll sei, sich vielmehr um die Un-
terrichtsqualität und die Förderung
benachteiligter Kinder zu kümmern.
Als Mindestziel fordert auch Lin-
Klitzing längeren Unterricht. Denn
Berlin und Mecklenburg-Vorpom-
mern unterrichteten die 5. und 6.
Klassen im Schnitt zwei Stunden we-
niger pro Woche als anderswo: „Das
summiert sich.“

> Kommentar Seite 14

100 Jahre Grundschule


Neuer Krach um die


„Schule der Demokratie“


Vier Jahre oder sechs Jahre Unterricht – darüber wird erbitterter denn je gestritten.


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INTERFOTO

Schulkind 1928:
Auslese nach
vier oder nach
sechs Jahren?

TV-yesterday


Die Primarstufe
Zahl der Grundschüler in Millionen

3,18 Mio.

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2017/2018 2030/
Quelle: Bertelsmann Stift.

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Prognose

Wirtschaft & Bildung


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MITTWOCH, 18. SEPTEMBER 2019, NR. 180
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