Handelsblatt - 18.09.2019

(Sean Pound) #1
„Heute wird ja manchmal gesagt, das
Ordnungsrecht darf gar nicht mehr
angewendet werden. Ich glaube, ohne
Ordnungsrecht schaffen wir es nicht.“
Angela Merkel, Bundeskanzlerin, hält im Kampf für mehr
Klimaschutz gesetzliche Vorgaben für unerlässlich.

Worte des Tages


Grundschule


Mehr Geld,


jetzt!


D


ie Grundschule ist 100 Jahre
alt. Sie ist der einzige Ort,
an dem Kinder aller Schich-
ten zusammentreffen. Das ist ein
großer Wert für die Demokratie.
Schulisch gesehen, liegt jedoch vie-
les im Argen. Im internationalen
Vergleich haben sich die Leistungen
der Viertklässler seit anderthalb
Jahrzehnten nicht verbessert. Ande-
re Nationen haben aufgeholt und
überholt. Und so ist Deutschland
von der Spitze der Tabelle der Iglu-
Tests auf Platz 21 gerutscht.
Das kommt nicht von ungefähr:
Soeben erst hat die OECD wieder
einmal bemängelt, dass Deutsch-
land, gemessen am Bruttoinlands-
produkt, weniger für Bildung aus-
gibt als andere Industrieländer. Und
besonders wenig investieren wir in
die Grundschüler, obwohl es sich
hier am meisten lohnen würde,
weil hier die wichtigen Grundlagen
gelegt werden.
Stattdessen wird der gravierende
Lehrermangel dort hingenommen.
Auch das hängt mit Geld zusam-
men: Grundschullehrer stehen in
der Gehaltspyramide der Lehrer-
schaft vielfach noch immer am un-
tersten Rand. Das dämpft das Inte-
resse und führt zu dem Mangel an
Lehrkräften, während es an Gymna-
siallehrern derzeit eher zu viele
gibt. Zudem bieten diverse Bundes-
länder nicht genügend Studienplät-
ze für Grundschullehrer an.
Das ist umso dramatischer, als in
den ersten Schuljahren die Weichen
gestellt werden, die zu noch immer
gut sechs Millionen Analphabeten
im Land führen. Die Sprachförde-
rung der Vorschulkinder ist defizi-
tär, in der Schule wird nur halb so
viel gelesen wie im internationalen
Schnitt. Und schwächere Schüler
werden zu wenig unterstützt. Spä-
ter, nach der Grundschule, gibt es
kaum Chancen, Versäumtes aufzu-
holen – denn dafür sind Lehrer wei-
terführender Schulen nicht ausge-
bildet.
Der Streit darüber, ob die Grund-
schule vier oder sechs Jahre dauern
soll, hilft bei diesen Problemen
nicht weiter. Statt damit Energie zu
vertun, sind alle Beteiligten aufge-
rufen, „die Schule der Demokratie“
endlich wieder zu stärken.


Statt Strukturdebatten zu führen,
sollten alle Beteiligten für die
Stärkung der Grundschule
kämpfen, findet Barbara Gillmann.

Die Autorin ist Korrespondentin in
der Berlin-Redaktion.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]


E


inmal mehr stehen Osteuropas Regie-
rungen unter verschärfter Beobachtung
im Straßburger Parlament. Denn Un-
garn, Polen und Rumänien haben für die
EU-Kommission zweifelhafte Kommissa-
re nominiert, beispielsweise aus Ungarn den frühe-
ren Justizminister Laszlo Trocsanyi. Der Rechtspopu-
list war Architekt der mittlerweile von Premier Vik-
tor Orbán unter Druck gestoppten Justizreform. Aus
Polen ist Janusz Wojciechowski von der rechtsnatio-
nalen Regierungspartei PiS gesetzt. Gegen ihn ermit-
telt die EU-Antibetrugsbehörde Olaf wegen mögli-
cher Unregelmäßigkeiten bei Reisekostenabrechnun-
gen während seiner Zeit im Europaparlament. Und
schließlich gibt es aus Rumänien Rovana Plumb. Ge-
gen die ehemalige Ministerin der Regierungspartei
PSD laufen Ermittlungen wegen angeblichen Amts-
missbrauchs. Sollten die Kandidaten für das Kabinett
der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen im EU-Parlament durchfallen, wird es wieder
zu hören sein, das Klagen in den osteuropäischen
Hauptstädten darüber, dass die Brüsseler Bürokra-
ten den Osten herabwürdigend behandeln.
Das Selbstbild der Osteuropäer ist ein anderes: Vor
allem dank eines kräftigen Wirtschaftswachstums
sieht sich der Osten als neues Kraftzentrum Europas.
Tatsächlich ist die Wirtschaftsdynamik etwa in Un-
garn und Polen ungebrochen. Während Deutschland
eine Rezession fürchtet, erwarten Ökonomen für bei-
de Länder einen Anstieg des Bruttosozialprodukts
von über vier Prozent in diesem Jahr. Auch die bei-
den anderen Visegrád-Staaten, Tschechien und Slo-
wakei, erfreuen sich hoher Wachstumsraten.
Mit wachsender Wirtschaftskraft aber sinkt die Be-
reitschaft, den Führungsanspruch von Deutschland
und Frankreich in der EU zu akzeptieren. Warschau,
Budapest und Co. fordern mehr Mitsprache in Europa.
Das hat zuletzt Ungarns Premier Orbán bei seinem
Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel im ungarischen
Sopron unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.
Sein Traum ist ein neues europäisches Machtdreieck
aus Deutschland, Frankreich und den Visegrád-Län-
dern.
Vor fünfzehn Jahren, als Polen, Ungarn, Tsche-
chien, die Slowakei, Slowenien und die baltischen
Länder Estland, Lettland und Litauen der EU beitra-
ten, war die Begeisterung groß. Doch bei den Osteu-
ropäern stellte sich schnell ein Gefühl ein, EU-Mit-
glieder zweiter Klasse zu sein. Der frühere Minder-
wertigkeitskomplex hat sich mittlerweile in
nationalistischen Egoismus verwandelt.
Osteuropa inszeniert sich inzwischen offen als Ge-
genmodell zu den weltoffenen, liberalen Marktwirt-

schaften des Westens. Orbán nennt das „illiberale
Demokratie“ – so als wäre das kein Widerspruch in
sich selbst. Vor allem auf Druck Brüssels bleiben die
demokratischen Institutionen wie schöne Fassaden
bestehen. Doch dahinter lässt das autokratische Ab-
bruchkommando keinen Stein auf dem anderen.
Grundrechte werden systematisch beschnitten. Wie
das in der Praxis aussieht, lässt sich in Ungarn genau
studieren. Die Unabhängigkeit der Justiz und die
Freiheit von Wissenschaft, Kultur und Medien wer-
den dort zerstört.
Das EU-Parlament hat daher ein Strafverfahren
nach Artikel 7 eingeleitet – zu Recht. Eines sollte den
Regierungen klar sein: Der Traum von einem neuen
europäischen Machtdreieck wird nicht in Erfüllung
gehen, solange die beiden Protagonisten der „illibe-
ralen Demokratie“, Ungarn und Polen, europäische
Werte verhöhnen und verletzten. Denn wer die Mag-
na Charta der Demokratie in der EU nicht achtet,
verspielt seinen Führungsanspruch. Die demokrati-
schen Defizite sind von Polen über Ungarn bis nach
Rumänien unübersehbar. Ausländerfeindlichkeit,
Vetternwirtschaft und Korruption gehören zum All-
tag. Wenn ausländische Investoren nicht spuren, be-
kommen sie die Macht der Regierung zu spüren.
„Zur Abschaffung von Demokratie eignet sich nichts
besser als Demokratie“, sagt Peter Sloterdijk. Nir-
gendwo lässt sich diese Erkenntnis besser studieren
als in Osteuropa.
Das Modell der „illiberalen Demokratie“ ist vor al-
lem auch deshalb brandgefährlich, weil es durchaus
Nachahmer findet – etwa unter den EU-Bewerber-
ländern. Autokratisch regierte Balkanstaaten wie
Serbien oder Montenegro sind dafür Beispiele. Auch
dort sind demokratische Institutionen kaum mehr
als Fassaden.
Vor allem Deutschland steht nicht zuletzt wegen
seiner nationalsozialistischen Vergangenheit in der
Pflicht, sich um die Demokratie in Osteuropa zu sor-
gen. Auch aus ökonomischer Sicht ist die Region
wichtig. Was hierzulande oft nicht berücksichtigt
wird: Der Außenhandelsumsatz Deutschlands mit
Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei ist
deutlich höher als der mit China.
Die Integration Osteuropas in die Europäische
Union war die große Erfolgsgeschichte des Konti-
nents. Drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen
Vorhangs steht vor allem auch Deutschland in der
Pflicht, dass das auch so bleibt.

Leitartikel


Machtanspruch


ohne Legitimation


Die Osteuropäer
fordern in Europa
mehr Mitsprache


  • manövrieren
    sich aber
    zunehmend ins
    Abseits, weil sie
    die Grundwerte
    missachten, sagt
    Hans-Peter
    Siebenhaar.


Vor allem dank


eines kräftigen


Wirtschafts-


wachstums


sieht sich der Os-


ten als neues


Kraftzentrum


Europas.


Tatsächlich ist


die Wirtschafts-


dynamik


etwa in Ungarn


und Polen


ungebrochen. Der Autor ist Korrespondent für Südosteuropa.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

MITTWOCH, 18. SEPTEMBER 2019, NR. 180
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