Handelsblatt - 18.09.2019

(Sean Pound) #1
Frank M. Drost Berlin

A


m 30. September startet der Muster-
prozess gegen Volkswagen vor dem
Oberlandesgericht in Braunschweig
mit einer öffentlichen Anhörung.
438 000 Kläger, die vom Dieselskan-
dal betroffen sind, hoffen auf Schadensersatz we-
gen manipulierter Abgassysteme. Der Fall hat welt-
weit Beachtung gefunden. Weil Dieselfahrzeuge
wegen ihrer höheren Umweltbelastung zuneh-
mend Ablehnung erfahren, ist der Anreiz für Käu-
fer groß, sich wieder davon zu trennen.
„Mit der Musterfeststellungsklage gegen VW set-
zen wir uns dafür ein, dass Volkswagen für seine
Taten Verantwortung übernehmen muss und Ver-
braucher nicht auf dem entstandenen Schaden sit-
zen bleiben“, sagt der Vorstand der Verbraucher-
zentrale Bundesverband (vzbv), Klaus Müller. Doch
es ist strittig, ob ein geschädigter Fahrzeugkäufer
über eine Musterfeststellungsklage am besten zu
seinem Recht kommt.

Wozu dient eine Musterfeststellungsklage?
Mit der Musterfeststellungsklage hat der Gesetzge-
ber eine neue Klageart eingeführt. Es gibt sie seit
dem 1.1.2018. Der Gesetzgeber hat Konsequenzen
aus der Tatsache gezogen, dass das Kräfteverhält-
nis zwischen dem Unternehmen, das Verbraucher
geschädigt hat, und dem einzelnen Verbraucher
ungleich ist: Der Verbraucher hat schlechte Chan-
cen, sich gegen die juristischen Abteilungen von fi-
nanzkräftigen Unternehmen durchzusetzen. Mit
der Musterfeststellungsklage können Schadensfäl-
le, die bei einer Vielzahl von Verbrauchern auftre-
ten und die gleiche Ursache haben, gebündelt wer-
den. Die damalige Bundesverbraucherministerin
Katarina Barley hat die Musterfeststellungsklage
„Eine-für-alle-Klage“ genannt. Sie bietet die Chan-
ce, dass Ansprüche der Verbraucher kostengünstig
und unbürokratisch durchgesetzt werden können.

Wer klagt für die Verbraucher?
Die Musterfeststellungsklage kann nur von Ver-
braucherschutzverbänden erhoben werden, die
bestimmte Voraussetzungen erfüllen. In diesem
Fall reichte die vzbv in Kooperation mit dem ADAC
die erste Musterfeststellungsklage gegen VW am
Oberlandesgericht Braunschweig ein.

Wie können Verbraucher sich beteiligen?
Ein klageberechtigter Verband muss die Klage an-
melden, die wiederum vom zuständigen Oberlan-
desgericht zugelassen werden muss. Wenn das der
Fall ist, wird die Klage im Klageregister des Bundes-
amts für Justiz veröffentlicht. Die Registrierung ist
für jeden Betroffenen kostenlos und hat den Vor-
teil, dass die Verjährung der Ansprüche gehemmt
wird. Die Prozess- und Anwaltskosten werden vom
entsprechenden Verband getragen. Im Fall VW ha-
ben sich bereits 438 000 Verbraucher der Klage an-
geschlossen. Anmeldungen ins Klageregister kön-
nen bis zum letzten Tag vor Verhandlungsbeginn
vorgenommen werden.

Worum geht es in der Klage gegen VW?
Verbraucherschützer haben beim OLG die Feststel-
lung beantragt, dass VW prinzipiell schadenser-
satzpflichtig ist. Konkret geht es um Fahrzeuge der
Marken VW, Audi, Seat und Skoda, in denen Diesel-
motoren des Typs EA 189 eingebaut wurden und
die nach dem 1. November 2008 gekauft wurden.
Betroffen sind Vierzylinder-Fahrzeuge, die einen
Hubraum von 1,2 l bis 2 l haben. Weitere Bedin-
gung: In diesen Fahrzeugen muss eine illegale Ab-
schalteinrichtung verwendet worden sein. Dazu ge-
hört auch, dass sie auf Geheiß einer europäischen
Genehmigungsbehörde wie beispielsweise des
Kraftfahrtbundesamts eine legale Motorsteuerung
erhalten haben. Kunden, die klagen wollen, sollten
unbedingt prüfen, ob auf ihre Fahrzeuge die ent-
sprechenden Kriterien zutreffen. Sie könnten spä-
ter das Nachsehen haben, wenn ihre Fahrzeuge
nicht die nötigen Voraussetzungen erfüllen.

Was können Kläger erhoffen?
Die Klage muss nicht mit einem Urteil enden, es

kann auch zu einem Vergleich kommen. In den
USA und in Australien hat sich VW schon auf diese
Weise verständigt. Mit einem Vergleich ist keinerlei
Schuldeingeständnis verbunden. Bei dem anste-
henden Prozess ist noch nicht absehbar, ob sich
die Kontrahenten auf diese Weise einigen werden
oder nicht. Das dürfte auch vom Verlauf des Pro-
zesses abhängen. Ein wichtiger Punkt aber: Sollte
das OLG ein Musterfeststellungsurteil zugunsten
der Verbraucherschützer fällen, fließt trotzdem zu-
nächst noch kein Geld.

Was muss der Verbraucher dann tun?
Ein Feststellungsurteil ist für den Verbraucher nur
eine Grundlage, um den Anspruch auf Schadenser-
satz individuell einzuklagen. Danach ist also ein
zweites Verfahren nötig. Individuelle Schadenser-
satzansprüche werden durch das Musterfeststel-
lungsverfahren nicht geklärt. Aber das dann zu-
ständige Gericht ist an die grundsätzlichen Feststel-
lungen des OLG Braunschweig oder des Bundesge-
richtshofs gebunden.

Was ist der Schwachpunkt des Konzepts?
Das Fehlen eines individuellen Anspruchs ist ein

VW-Kunden wollen


Geld zurück


Die Regierung hat die Position der Verbraucher im Rechtsstreit mit


Konzernen verbessert. Jetzt naht die große Bewährungsprobe.


Besser als der Dax
Prozentuale Veränderung seit 22.9.2015

Volkswagen Vz. inkl. Dividenden

Dax

HANDELSBLATT

22.9.2015 17.9.2019
Quelle: Bloomberg

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MITTWOCH, 18. SEPTEMBER 2019, NR. 180
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