Handelsblatt - 18.09.2019

(Sean Pound) #1

Sonderveröffentlichung zum Thema „RESTRUKTURIERUNG UND TRANSFORMATION“ | September 2019 HandelsblattJournal


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von Nils Seebach


D


ass der deutsche Einzelhandel ein ernst-
zunehmendes Problem hat, ist mittler-
weile so off enkundig, dass selbst die
zweckoptimistische Prosa in Quartals-
berichtsberichten nicht länger darüber
hinwegtäuschen kann. Jahrelang wurde entweder
schlechtes oder gutes Wetter, wurde eine “Eintrü-


bung der Konjunktur” dafür verantwortlich gemacht,
dass die Ketten hinter den Erwartungen lagen. In die-
sem Jahr sprechen nun die nackten Tatsachen. Das


Jahr fi ng mit der Hiobsbotschaft an, dass Kaufhof-
cum-Karstadt 2.600 Stellen abbauen muss, nachdem
es im Weihnachtsgeschäft zu einem Umsatzrückgang


von 4 % gegenüber dem Vorjahr gekommen war. Wei-
ter ging es mit klassischen Mittelklasse-Modemar-
ken wie Gerry Weber, Tom Tailor und Esprit, die sich


nun allesamt gezwungen sehen, harte Sanierungs-
maßnahmen durchzuführen. Mitte März feierte H&M
es als großen Erfolg, zum ersten Mal seit Jahren die


Bestände an unverkaufter Kleidung etwas gedrückt
zu haben – und schloss in aller Stille Filialen. Die ers-
ten Insolvenzen hat es auch schon gegeben: Im Mai


musste Bree die Verwalter auf den Plan rufen. Seine
30 Filialen schweben in Lebensgefahr.


lich, dass dieses Wunder nur den wenigsten gelingt.
Es hilft auch nicht, Führungspersonal auszutauschen
oder „neue Kollektion“ oder gar “innovative Kon-
zepte“ anzukündigen. Denn das Modell stationärer
Einzelhandel in seiner derzeitigen Form hat schlicht
ausgedient.

(Distanz-)Handel liegt in der Natur des Menschen
Dabei ist der Handel an und für sich quickleben-
dig. Menschen wollen nach wie vor Waren kaufen und
nicht jeder Hersteller ist in der Lage, die von ihm pro-
duzierten Waren ohne Mittler an die Konsumenten zu
bringen. Seit Menschengedenken verhält es sich zwi-
schen Erzeugern und Kunden ähnlich: So hat es immer
einen Platz für Händler gegeben. Daran wird sich auch
nichts ändern. Allerdings ändern Online-Handel und
der Aufstieg weltweiter Plattform-Riesen das Format
des jetzigen Einzelhandels grundlegend. Zwei Phäno-
mene sind dabei besonders hervorzuheben.
Erstens hat der Online-Handel den Beweis gelie-
fert, dass viele Konsumenten eigentlich lieber von zu
Hause aus einkaufen. Der Blick für diese simple Wahr-
heit wurde lange dadurch getrübt, dass es den Distanz-
handel zwar Jahrzehnte lang gab, er aber immer eine

Der stationäre


Einzelhandel ist tot –


Es lebe der Handel!


TRANSFORMATION


Die Entwicklung war und ist absehbar
Das Erstaunliche daran ist dabei nicht, dass in kur-
zer Zeit so viele – für deutsche Fußgängerzonen prä-
gende – Marken in Existenzkrisen geraten sind, son-
dern dass es erst jetzt passiert. Schließlich sind bei
einem infl ationsbereinigt seit zwei Jahrzehnten sta-
gnierendem Einzelhandelsmarktvolumen Online-
Händler – allen voran Amazon – in den letzten Jahren
überproportional gewachsen. Im selben Zeitraum seit
der Jahrtausendwende sind aber rund 20 Millionen
Quadratmeter neue stationäre Verkaufsfl äche gebaut
worden: 2019 wird voraussichtlich das erste Jahr seit
2011 sein, in dem die Summe der Einzelhandelsfl ä-
chen eine Nullrunde dreht und bei 124 Millionen Qua-
dratmeter stehen bleibt. Sonst kannte dieser Wert nur
eine Richtung.
Dass zwischen einem Flächenzuwachs von 20 %
einerseits und entfesseltem Wachstum im E-Com-
merce andererseits die Flächenrentabilität in Ein-
zelhandel zwangsläufi g zurückgehen, ja existenzi-
ell werden musste, war den meisten zwar klar. Nur
haben alle Einzelhandelsketten ihre eigenen Anleger-
berichte geglaubt und meinten, dem branchenwei-
ten Trend trotzen zu können. Nun wird es überdeut-

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