Handelsblatt - 18.09.2019

(Sean Pound) #1
Sandra Louven Tunis

I


med Zdiri wünscht sich die
Diktatur zurück. „Mir war die
Zeit lieber, als noch Ben Ali
Tunesien regiert hat“, sagt
der 56-jährige Hotelangestellte
in Tunis. „Unter ihm konnten wir alle
nicht frei reden, das ist wahr. Aber
jetzt kritisieren sich alle pausenlos ge-
genseitig“, sagt er. „Das Leben ist
nicht besser geworden, nur viel teu-
rer, und die Politiker sitzen auf ihren
Stühlen und machen nichts.“
Mit seiner Wut steht Zdiri nicht al-
lein. Acht Jahre nach der friedlichen
Revolution sind viele Tunesier des -
illusioniert. Die Wirtschaft steht
schlechter da als zu Zeiten des Dikta-
tors Ben Ali, das Parlament ist zerstrit-
ten und einigt sich nicht auf die nöti-
gen Reformen.
Das Schicksal Tunesiens ist für den
Rest der Welt von enormer Bedeu-
tung: Auf dem Land ruhen die Hoff-
nungen des Westens, dass auch in der
arabischen Welt liberale Systeme
möglich sind. Tunesien hat als einzi-
ges Land nach dem arabischen Früh-
ling den friedlichen Übergang zur De-
mokratie geschafft. Doch nun steht ei-
ne Neuordnung der politischen
Landschaft an.
Bei den Präsidentschaftswahlen am
Sonntag machten die Tunesier ihrem
Ärger Luft: In der Stichwahl stehen
nun zwei Männer von außerhalb des
politischen Establishments. Der am-
tierende Premierminister und andere
Größen der tunesischen Politik hatten
dagegen das Nachsehen.
Neuer Präsident wird entweder
Kaïs Saïed, ein parteiloser Jurist mit
erzkonservativen Positionen, der 18,
Prozent der Stimmen bekam; oder

Nabil Karoui, ein Medienunterneh-
mer, der seit dem 23. August wegen
Steuerhinterziehung und Geldwäsche
im Gefängnis sitzt und der auf 15,
Prozent kam.
Karoui verspricht, gegen die Armut
im Land zu kämpfen. Sein TV-Sender
berichtet über seine Wohltätigkeits -
organisation, die im armen Süden Le-
bensmittel und Medikamente verteilt.
Was Karoui darüber hinaus politisch
erreichen möchte, ist unklar. Anhän-
ger halten seine Verhaftung für poli-
tisch motiviert, da die Vorwürfe ge-
gen ihn bereits aus dem Jahr 2016
stammen.
Damals hatte „I watch“ sie erhoben,
die tunesische Version der Antikor-
ruptionsorganisation Transparency
International. Karoui bestreitet die
Anschuldigungen, und solange er
nicht rechtskräftig verurteilt ist, darf
er kandidieren.
Der Jura-Professor Kaïs Saïed hat
für seine Kampagne keine finanzielle
Unterstützung in Anspruch genom-
men, um sich als durch und durch in-
tegrer Kandidat zu präsentieren. Er
will die Politik radikal dezentralisie-
ren, um besser auf regionale Bedürf-
nisse eingehen zu können. Der 61-Jäh-
rige lehnt eine Gleichbehandlung von
Frauen und Männern beim Erbrecht
ebenso ab wie die Abschaffung der
Strafe auf Homosexualität und die Ab-
schaffung der Todesstrafe. Wegen sei-
ner emotionslosen Rhetorik trägt er
den Spitznamen „Robocop“. Obwohl
er islamistisch-konservative Positio-
nen vertritt, betont Saïed, kein Isla-
mist zu sein.
Die Wahl, an der sich nur 45 Pro-
zent der Tunesier beteiligten, war vor-

gezogen worden, nachdem der
92-jährige Amtsinhaber Beji Caid Es-
sebsi Ende Juli gestorben war. Geplant
war sie erst nach den Parlamentswah-
len, die am 5. Oktober stattfinden und
damit wohl vor dem zweiten Wahl-
gang der Präsidentschaftswahl.
Bei der Parlamentswahl hat die isla-
mistische Partei Ennahda gute Chan-
cen zu gewinnen. Sie ist als einzige
Partei gut strukturiert und im ganzen
Land vertreten. Bislang regierte sie
zusammen mit dem säkularen Ver-
band Nidaa Tounes. Doch Nidaa Tou-
nes hat sich aufgespalten.
Die Mehrheitsfindung nach der
Wahl könnte schwierig werden. Ein
Programm, hinter dem sich eine
deutliche Mehrheit der Tunesier ver-
sammeln möchte, zeichnet sich nicht
ab.
„Die Politik diskutiert nicht die
grundlegenden Probleme, da domi-
nieren persönliche Egos und ein Krieg
um die Macht“, sagt Bochra Belhaj
Hmida. Die Anwältin war zunächst
Mitglied im Exekutivkomitee von Ni-
daa Tounes und danach parteilose
Abgeordnete. Die 64-Jährige leitete
die Kommission für individuelle Rech-
te und Freiheiten (Colibe), die 2017
auf Initiative von Präsident Essebsi
entstand. Das Ziel war, eine der letz-
ten großen Diskriminierungen der

Frauen abzuschaffen und sie im Erb-
recht den Männern gleichzustellen.
Derzeit gilt in Tunesien, dem islami-
schen Recht entsprechend: Frauen er-
ben die Hälfte dessen, was Männern
zusteht.
Die Feministin empfahl 2018 im Ab-
schlussbericht nicht nur, das Erbrecht
zu egalisieren, sondern auch, die
Strafbarkeit von Homosexualität ab-
zuschaffen und die Todesstrafe eben-
so. Doch gerade der Eingriff in das
Erbrecht ging vielen Muslimen zu
weit. „Wir haben damit alles berührt:
das Geld, das Patriarchat und aus
Sicht der Kritiker auch die Religion“,
sagt Hmida. Sie hat für ihren Bericht
Morddrohungen erhalten und
braucht jetzt einen Leibwächter, der
diskret an einem Tisch vor dem Café
Platz genommen hat. Selbst Frauen
wandten sich gegen den Bericht: Sie
wollten nicht, dass sich Politiker über
das Gesetz Gottes stellen, erklärt Hmi-
da.
Die heftigen Reaktionen zeigen, wie
schwer die Öffnung islamischer Län-
der für liberale Systeme ist. Dabei hat
Tunesien die liberalsten Frauenrechte
in der arabischen Welt. Schon 1956
schaffte Staatsgründer Habib Bourgui-
ba die Polygamie ab und legalisierte
Scheidungen. Seitdem sind zahlreiche
Freiheiten hinzugekommen. Im tune-

Tunesien


Freiheit auf Bewährung


Acht Jahre nach der Revolution sind viele Tunesier wieder unzufrieden.


Bei der Präsidentschaftswahl haben sie zwei Anti-System-Kandidaten gewählt.


Stimmenauszählung
in Tunis: Keiner der
Kandidaten hat die
Massen begeistert.

ddp/abaca press

Nabil Karoui:
Medienunternehmer und
Armutsbekämpfer.

AFP

Wir sind


noch dabei


zu lernen.


Aber wir sind


auf dem


richtigen Weg.


Ouided Bouchamaoui
Friedensnobelpreis -
trägerin

Kaïs Saïed:
Jura-Professor mit islamistisch-
konservativen Ansichten.

imago images / PanoramiC

Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 18. SEPTEMBER 2019, NR. 180
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