Handelsblatt - 18.09.2019

(Sean Pound) #1

sischen Parlament sind 34 Prozent
der Abgeordneten weiblich – mehr als
in Deutschland.
Doch das Land ist gespalten in An-
hänger der mediterranen Lebensart
und solche, die streng gläubig leben
oder die Rolle der Religion zumindest
nicht antasten wollen.
Ouided Bouchamaoui ist dennoch
überzeugt: „Das Gesetz zum Erbrecht
wird kommen“, sagt die ehemalige
Chefin des tunesischen Arbeitgeber-
verbands UTICA. „Nur vor den Wah-
len wollte das Parlament es nicht dis-
kutieren.“
Die 58-jährige Managerin hat sich
wie Belhaj Hmida intensiv für die
Freiheit in ihrem Land engagiert: Sie
war Mitglied des „Dialog-Quartetts“,
das sich 2013 gründete, als das Land
nach zwei politischen Morden kurz
vor einem Bürgerkrieg stand und für
seine Vermittlung 2015 den Friedens-
nobelpreis bekam. „Wir haben als
Mitglieder der Zivilgesellschaft ge-
zeigt, dass der Dialog jedes Problem
lösen kann“, sagt Bouchamaoui.
Doch die tägliche Arbeit an der De-
mokratie fällt schwer. Die Machtspiele
ihrer Kollegen, die Korruption in der
Politik und der zähe Kampf um Refor-
men haben Belhaj Hmida frustriert.
Bei den Parlamentswahlen kandidiert
sie nicht mehr. „Man muss aufpassen,
dass man nicht verbittert“, sagt sie.
Die politische Blockade verhindert
Reformen, die wichtig für die lahmen-
de Wirtschaft wären. „Kein Land
schafft die Transformation zur Demo-
kratie, wenn die Leute nicht merken,
dass es ihnen auch ökonomisch bes-
ser geht“, sagt Hervé de Baillenx von
Democracy Reporting International in
Tunis. Die hohe Jugendarbeitslosig-
keit war 2013 einer der Treiber der
Revolution. Nun liegt sie bei 34 Pro-
zent – und damit über den 29 Prozent
im letzten Amtsjahr des Diktators Ben
Ali. Die Inflation liegt bei sieben Pro-
zent und setzt dem Mittelstand zu.
Schuld ist die Krise in Libyen und
der Einbruch des Tourismus nach
den Terroranschlägen von 2015. Hin-
zu kommen hausgemachte Probleme:
Um möglichst schnell Jobs zu schaf-
fen, erhöhte die tunesische Regierung
die Zahl der Beamten in den vier Jah-
ren nach der Revolution um 40 Pro-
zent und setzte mehrfach deren Ge-
hälter herauf. Die Beamtenbezüge
machen heute 15 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts aus, das ist einer der
höchsten Anteile weltweit.
Der internationale Währungsfonds
kritisiert zudem die üppigen Energie-
subventionen, von denen Wohlhaben-
de stärker profitieren als die Bedürfti-
gen. Doch Ankündigungen der Regie-
rung, die Energiepreise zu erhöhen,
führten sogleich zu wütenden Stra-
ßenprotesten, angefacht durch die
mächtige Gewerkschaft UGTT. Im-
merhin: Inzwischen kommen wieder
mehr Urlauber ins Land.
Angesichts der Probleme hat sich
Tunesien bislang als erstaunlich stabil
erwiesen. „Demokratien bilden sich
nicht über Nacht, und die tunesische
muss sich jetzt konsolidieren“, sagt
Hatem M’rad, Politologe an der Uni-
versität Tunis.
„Wir haben heute eine wirkliche
Demokratie mit einer freien Presse
und freier Meinungsäußerung“, sagt
Friedensnobelpreisträgerin Boucha-
maoui. „Wir sind noch dabei zu ler-
nen. Aber wir sind auf dem richtigen
We g.“


Großbritannien

„Das ist Machtmissbrauch“


Vor dem Obersten Gerichtshof
in London hat der Prozess
gegen die britische Regierung
begonnen. Auch Ex-Premier
Major wird zu Wort kommen.

Kerstin Leitel London

E


s ist ein heikler Fall mit wo-
möglich weitreichenden Fol-
gen für die britische Regie-
rung und ihre Brexit-Politik: Der
Oberste Gerichtshof in London soll in
den kommenden Tagen entscheiden,
ob Regierungschef Boris Johnson das
Recht hatte, das Parlament bis zum


  1. Oktober auszusperren – und ob er
    im Zuge dessen Königin Elisabeth II.
    belogen hat.
    In den vergangenen Wochen hat-
    ten einige Gerichte bereits über den
    Fall geurteilt. Sie waren dabei zu wi-
    dersprüchlichen Urteilen gekommen.
    Sie sind sich nicht einmal einig darin,
    ob sich die Justiz in den Streit zwi-
    schen Regierung und Parlament


überhaupt einschalten sollte. Nach-
dem die Regierung Revision gegen
ein für sie ungünstiges Urteil schotti-
scher Richter einlegte, haben nun die
elf Richter des Supreme Court in
London das letzte Wort.
Am Dienstag erklärten zunächst
die Kläger um Anti-Brexit-Aktivistin
Gina Miller, warum Boris Johnson ih-
rer Meinung nach nicht rechtmäßig
gehandelt habe. „Natürlich“ habe der
Premier das Recht, dem Parlament
eine Pause zu verordnen, sagte David
Pannick als Vertreter der Kläger, aber
in diesem Fall seien „Umstände und
Länge“ anders als sonst: Der Regie-
rungschef versuche, sich einen politi-
schen Vorteil zu verschaffen, indem
er sich der Kontrolle des Parlaments
entziehe. „Kein Premierminister in
den letzten 50 Jahren hat seine
Macht im gleichen Maße miss-
braucht.“
Der Königin, die wie üblich auf An-
raten der Regierung ihre Zustim-
mung zu dem Vorgehen gegeben ha-
be, sei aber kein Vorwurf zu machen,
schließlich müsse sich diese auf die
Empfehlungen des Premiers verlas-
sen.

Zweite Aussetzung?
Bis Donnerstagabend wird verhan-
delt. Auch Ex-Premier John Major,
der sich der Miller-Klage gegen die
Regierung angeschlossen hatte, wird
angehört. Das hat einige Briten verär-
gert. Sie werfen ihm Verlogenheit
vor, weil Major dem Parlament wäh-
rend seiner Amtszeit eine Zwangs-
pause von drei Wochen verordnet

hatte. Üblicherweise dauert die Pau-
se lediglich ein paar Tage.
Das Urteil des Supreme Court wird
nicht vor Ende der Woche erwartet.
Premier Johnson äußerte seinem
Sprecher zufolge „Zuversicht“ ange-
sichts der Argumente der Regierung.
Davon unabhängig befürchten eini-
ge Briten, dass die Regierung eine
zweite Aussetzung des Parlaments er-
wägt, um den von den Abgeordneten
kritisierten Brexit-Kurs durchzuzie-
hen. Als Justizminister Robert Buck-
land im Radio gefragt wurde, ob die
„entfernte Möglichkeit“ bestünde,
dass das Parlament vor dem 31. Okto-
ber noch einmal ausgesperrt werden
könnte, wollte er das nicht ausschlie-
ßen. Ex-Premier Harold Wilson habe
einmal gesagt: „Eine Woche ist in der
Politik eine lange Zeit.“ Momentan
aber erscheine selbst eine Stunde als
lange Zeit. „Ich denke, es wäre mü-
ßig, wenn ich jetzt hier sitze und mir
vorstelle, was Ende Oktober passiert.“

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WOCHEN
Pause hat Premier
Boris Johnson den
Abgeordneten verordnet.
Üblich ist eine Woche.

Quelle: Kläger

Demonstranten vor dem Obersten Gerichtshof in
London: Bis Ende der Woche wird verhandelt.

Bloomberg

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Wirtschaft & Politik
MITTWOCH, 18. SEPTEMBER 2019, NR. 180
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