Die Weltwoche - 12.09.2019

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12 Weltwoche Nr. 37.
Bild: Jessica Taylor (House of Commons via AP, Keystone)


Die Einladung las sich wie eine Kampfansage:
«Komm rüber zum Essen, heute Abend planen
wir die Gegenrevolte», stand im E-Mail eines
Bekannten aus London, das mich letzte Woche
erreichte. Nicht in ein hippes Restaurant im
East End hatte er geladen, sondern in das
House of Lords zu Westminster. Schliesslich
ist der Bekannte kein kommuner Brite, viel-
mehr ein konservatives Mitglied jener Gilde
auf Lebenszeit ernannter Adliger, die den
Politbetrieb im Königreich mit über Jahrhun-
derte eingespielten Ritualen auf museale
Weise bereichern.
Lord Eaglestail* ist ausser sich. Und wie
meistens, wenn ein Brite ausser sich ist, mani-
festiert sich dies in einem gesteigerten Mass
an Zynismus, während er äusserlich Haltung
bewahrt. «Quite extraordinarily, indeed» sei
die Zeit, die sein Land durchlebe.


Der britische Premierminister Boris Johnson
hat eben seine «darkest hour» erlebt. Eine
Revolte in den eigenen Reihen beraubte ihn
seiner Regierungsmehrheit, derweil die Oppo-
sition unter dem marxistischen Labour-Lea-
der Jeremy Corbyn dem Premier mit Finten
und Tricks Steine in den Weg legte, um Britan-
niens Austritt aus der EU zu blockieren.

Brüssel mauert
Von «Stalingrad» und «Häuserkampf» ist un-
ter den Abgeordneten die Rede, als wir am
Mittwochabend in die Wiege der parlamenta-
rischen Demokratie eintreten. Johnson erlei-
det abermals eine knallende Niederlage. Das
Unterhaus verabschiedet ein Gesetz, das den
Premier zwingt, in Brüssel um eine weitere
Verlängerung in den Brexit-Verhandlungen
zu betteln. Johnson zeigt sich ungestüm.

Lieber sterbe er im Schützengraben, als nach
Brüssel zu kriechen.
Man kann es ihm nicht verübeln. Im Mai
2016 hatte das Volk gesprochen: Raus aus der
EU! Drei Jahre liess das Parlament mit end-
losen Reden verstreichen, ohne den Willen des
Souveräns umzusetzen. Wozu also soll eine
erneute Verhandlungsverlängerung gut sein?
Brüssel mauert. Aus Angst, weitere EU-Mit-
glieder könnten den Exit planen, wird an
Grossbritannien ein Exempel statuiert. Wer
noch an einen Deal glaubt, der den Namen
«Brexit» verdient, lebt in Nimmerland.
Lord Eaglestail bestellt Champagner an der
Hausbar. Auf dem Cocktailtisch liegt ein
Papier: «House of Lords Business No. 340». Er
und seine Brexit-Anhänger haben eine Flut
von 86 Anträgen eingereicht. Mit Dauerreden
wollen sie im Oberhaus das Verlängerungs-

Brennpunkt der Woche


Häuserkampf zu Westminster


Von Urs Gehriger _ Die Brexit-Gegner haben Boris Johnson mit Revolten, Tricks und Finten


zurückgebunden. Hat der ungestüme Premier noch ein Ass im Ärmel, um den Volkswillen umzusetzen?


Impressionen aus dem Haus der Fallensteller und Heckenschützen.


«Keine Sympathie für die Weicheier»: Boris Johnson belagert von Gegnern während der Brexit- Debatte im britischen Unterhaus.

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