Die Weltwoche - 12.09.2019

(lu) #1
Weltwoche Nr. 37.19 5
Bild: Richard Baker (Getty Images)

S


o viele Rechtsextreme gab es noch nie.
Salvini ist rechtsextrem, Orbán ist es, Trump
sowieso, Österreichs FPÖ, möglicherweise
sogar Ex-Kanzler Sebastian Kurz, selbstver-
ständlich die SVP oder wenigstens Teile davon,
Le Pens Rassemblement national und, auf jeden
Fall, keinen Zweifel, die Alternative für
Deutschland (AfD), also jene Partei, die sich für
die Einführung der direkten Demokratie in
Deutschland einsetzt. Noch nicht ganz einig
sind sich die medialen Rechtsextremismus-
Experten bei Grossbritanniens Premier Boris
Johnson. Er ist noch auf Bewährung, unter
Beobachtung. Deshalb wird er lauernd als
«radikaler Volkstribun» bezeichnet.
Wer heute «rechtsextrem» sagt, will die ge-
meinten Politiker und Parteien mit den Ver-
brechen der Nationalsozialisten beschmut-
zen. Er stellt sie in eine Reihe mit den Horden
Hitlers, die den Planeten mit Krieg, Völker-
mord und monströsen Untaten überzogen
haben. Der «Rechtsextremismus» Hitlers war
eine gewalttätige, antibürgerliche, antidemo-
kratische und rassistische Form des Sozialis-
mus, also eigentlich links, gegen die Markt-
wirtschaft und die Freiheits rechte gerichtet.
Anders als die internationalen roten Sozialis-
ten jedoch setzte Hitlers brauner Sozialismus
auf die homogene «Volksgemeinschaft», die
Staatszugehörigkeit und Bürgerrechte, sofern
man davon überhaupt sprechen konnte, auf
Blut, Boden und Abstammung abstellte.
Als Hitler von konservativen, rechten Politi-
kern als Verzweiflungswaffe gegen den Mar-
xismus Moskaus an die Macht gehoben wurde,
war in Deutschland, war in Europa keineswegs
klar, welcher Staatsform die Zukunft gehören
würde. Die polarisierenden Debatten zwi-
schen Rechten, Bürgerlichen und Linken wa-
ren Verfassungsdebatten, Diskussionen über
die Staatsform. Im Unterschied zur Schweiz,
die trotz autoritären Versuchungen an ihrem
freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat
festhielt, waren in Deutschland auf der rech-
ten Seite bald die Stimmen in der Überzahl,
die den Liberalismus und die Demokratie
durch einen korporatistischen Führerstaat
ersetzen wollten. Es ging damals also nicht um
Fragen wie Vaterschaftsurlaub oder das richti-
ge Rezept gegen den Asylmissbrauch, sondern
um Grundausrichtungen der Staatsform und
der Entscheidungsfindung in der Politik.

Dieser kleine historische Exkurs macht deut-
lich, dass die charaktermordende Anspielung
auf die damaligen Zeiten, die mit dem Adjek-
tiv «rechtsextrem» bis heute von links immer
wieder versucht wird, in die Irre geht. Orbán,
Salvini, Trump, Kaczynski in Polen und selbst
Marine Le Pen sind keine Rechtsextremen in
diesem historisch belasteten Sinn. Sie wollen
weder die Demokratie abschaffen, noch stre-
ben sie eine «homogene Volksgemeinschaft»
an, höchstensfalls restriktivere Regelungen
der Einwanderung. Auch in Deutschland ist
die Panikmache verfehlt. Ein Politiker, der
ernsthaft in die Hitlerzeit zurückwollte, wür-
de in Wahlen einen Stimmenanteil erzielen,
der nicht einmal mit dem Elektronenmikro-
skop zu erkennen wäre. Es ist nicht nur eine
Verleumdung der Deutschen, sondern auch
eine Verharmlosung der Nazis, wenn man den
heutigen Bewohnern der Bundesrepublik
unterstellt, sie hätten relevante Sympathien
für Politiker, die das schändlichste Kapitel der
deutschen Geschichte nochmals aufschlagen
möchten.

K


lar gibt es in Europa heute rechtsextreme
Parteien. Dazu gehören Jobbik in Ungarn
oder die postfaschistischen Fratelli d’Italia.
Andere Parteien haben rechtsextreme Hinter-
gründe, sind mittlerweile aber durch Häutun-
gen entgiftet, wie etwa die FPÖ, die nordita-
lienische Lega oder die Schwedendemokraten,
die sich zum Teil regelrecht gesäubert und
rechts extreme Mitglieder hinausgeworfen
haben. Auch Marine Le Pens Rassemblement
natio nal ist nicht mehr die antisemitische,
militaristische und offen autoritäre Partei
ihres Vaters. Man sollte diesen Parteien zu-
billigen, was man ihren linken Pendants ohne
weiteres zubilligt: dass sie sich von der extre-
mistischen Vergangenheit gelöst haben und

Editorial


Was heisst


rechtsextrem?


Sinn und Unsinn
eines Adjektivs.
Von Roger Köppel

auf dem rechtsstaatlichen Boden der jewei-
ligen Verfassungen solide verankert sind. Es
ist nicht fair, wenn man einem Politiker, der
einmal Mussolini lobte, diese Entgleisung
lebenslang vorwirft, während ein Linker, der
wie Deutschlands Ex- Aussenminister Joschka
Fischer als linker Steine werfer einst die Polizei
attackierte, zum Vorbild an Reife und Läute-
rung verherrlicht wird.

D


ie Rechtsextremismus-Keule fällt auf
deren Anwender zurück. Demokratie
heisst Diskussion, Auseinandersetzung, freie
Rede. Mit dem Wörtchen «rechtsextrem» aber
sollen Meinungen skandalisiert, Personen dis-

kreditiert und eine breitere Öffentlichkeit von
Leuten eingeschüchtert, mundtot gemacht
werden, die eine andere Ansicht vertreten als
die offiziell genehme. Es ist tragisch, dass viele
Journalisten, die sich dauernd auf die Mei-
nungsäusserungsfreiheit berufen, selber deren
Abbau betreiben, indem sie die meisten, ja
eigentlich alle rechten Politiker früher oder
später mit missbräuchlichen Nazianspielun-
gen anschwärzen. Hitler oder Mussolini hät-
ten Freude gehabt an diesen linken Meinungs-
ajatollahs, die jede abweichende Äusserung
strafrechtlich verbieten oder durch Einschüch-
terung präventiv unterbinden wollen.
Der inflationäre Gebrauch des Rechtsextre-
mismus-Vorwurfs nützt sich ab. Und vor allem
ärgert er die Leute und Wähler, die sich da-
durch zu Recht verunglimpft sehen. Selbst die,
die sich ernsthaft Sorgen machen über eine
neue gefährliche Rechte in Europa und sich
dafür ein mediales Frühwarnsystem wün-
schen, sollten bedenken: Wer bei jeder nicht-
linken Wortmeldung reflexhaft «rechts-
extrem» ruft, wird nicht mehr gehört, wenn
irgendwann wieder echte Rechtsextreme auf-
marschieren. Vieles spricht dafür, die Begriffe
abzurüsten und sich mit der Tatsache abzu-
finden, dass es in der Politik immer links und
rechts, Streit und Auseinandersetzung geben
wird, hoffentlich auf der Grundlage des plura-
listischen demokratischen Rechtsstaats.

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Nazi-Keulen überall: Briten-Premier Johnson.
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