Die Welt Kompakt - 19.09.2019

(C. Jardin) #1

24 BÜCHER DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DONNERSTAG, 19. SEPTEMBER 2019


E

s ist ein schöner Ort
zum Größenwahnsin-
nigwerden. Ein gläser-
ner Pavillon, gefühlt
meilenweit über der Spree. Un-
ten rattert die Hochbahn über
die Oberbaumbrücke, aber das
hört man nicht, weil überall, von
den Baustellen auf den Dächern
links und rechts, die Schleifma-
schinen kreischen. Ein panopti-
sches Herz der Hauptstadt, viel-
leicht, von weiter weg betrachtet,
auch bloß ein Blinddarm.


VON JAN KÜVELER

Mittendrin sitzt Norman Oh-
ler, groß, dünn, barfüßig, weder
jung noch alt. Wenn man sich
entscheiden müsste: jung. Er hat
schon einige Bücher geschrieben,
darunter vier Romane, auch mit-
gearbeitet am Drehbuch für den
misslungensten Film von Wim
Wenders, „Palermo Shooting“,
aber da war Campino schuld. Be-
rühmt ist Ohler für sein Sach-
buch „Der totale Rausch“. Es er-
zählt die Geschichte des Zweiten
Weltkriegs neu, mit Hitler und
seinen Soldaten auf Crystal
Meth.
Der englische Titel heißt kon-
genial „Blitzed“. Es gibt viele
fremdsprachige Ausgaben. Da-
heim in Zweibrücken hat der Pa-
pa, lange skeptisch ob der Berufs-
wahl des Sohns, alle gesammelt,
31 sind es wohl. Wenn Bekannte
erstaunt fragen: „Die hat alle der


Norman geschrieben?“, sagt der
Vater mit vor Stolz platzender
Lakonie: „Nur das eine.“
So ähnlich ist auch Ohler jr.,
ganz trockener Humor. Mit un-
bewegter Miene haut er die irrs-
ten Sätze raus. Zum Beispiel:

„Ich hab in den Nullerjahren viel
gefeiert und dann irgendwann er-
kannt, dass alles nur Recherche
war“ (über die Entstehung von
„Der totale Rausch“). Oder: „Ich
war ja mal der Stadtschreiber von
Ramallah“ (über seine Zeit in Is-

rael). Oder: „Wir sind da illegale
Autorennen gefahren, würde ich
heute nicht mehr machen“ (über
seine Zeit in Johannesburg).
Oder: „Ich wollte Arafat hier Asyl
gewähren. Hat leider nicht ge-
klappt“ (über den gläsernen Pa-

villon, genannt „Schreibturm“,
den man über eine Stiege aus sei-
ner im obersten Stockwerk gele-
genen Wohnung erreicht). Oder:
„Ich bin mal bis nach Heidelberg
gefahren“ (über seine Liebe zum
Bootsfahren, „ich kenne hier al-

les“, sagt er auch und meint
Spree, Havel, die brandenburgi-
schen Seen et cetera, wahr-
scheinlich bis nach Heidelberg).
Oder: „Ich wollte nur wandern
und schreiben, wie W.G. Se-
bald.“ So geht das immer weiter,

vom Schweizer Hochgebirgsort
Sils Maria schwärmt er, wo er
häufig hinfährt und sich drei Wo-
chen ayurvedisch ernährt, von
nichts als Kitchari, einem indi-
schen Mungbohnencurry, ge-
würzt mit Kreuzkümmel, Korian-

der und Kurkuma. Dazu die Ley-
Lines, die heiligen Adern der Er-
de, die sich direkt unterm Nietz-
sche-Haus kreuzen, und die Seele
ist gereinigt, der Roman schreibt
sich wie von selbst.
Apropos Roman. Ohler hat ge-
rade mal wieder keinen geschrie-
ben. Man müsste also sagen, das
Buch schreibt sich von selbst. Die
Genrebezeichnung für das, was
er macht, ist noch nicht erfun-
den. Man kann es nicht mal Do-
ku-Fiction nennen, weil es ei-
gentlich gar keine Fiktion ist,
sondern exakt recherchierte
Montage von Quellen, Extrapola-
tion von in Archiven, Büchern
und Briefen verstreuten Tatsa-
chen.
Diesmal geht es um die zentra-
len Gestalten der sogenannten
Roten Kapelle, einer Berliner Zel-
le der Resistance im Dritten
Reich, die beinahe zehn Jahre be-
stand und sich um das junge Ehe-
paar Harro und Libertas Schulze-
Boysen gruppierte. So heißt auch
das Buch: „Harro und Libertas.
Eine Geschichte von Liebe und
Widerstand“. Es ist eine fast ver-
gessene Geschichte, wie sich
zwei Menschen ein Herz fassten
und im untergründigen Protest
gegen die Nazis ihr Leben riskier-
ten. Etwa mit einer Flugblattak-
tion, in der sich eines Nachts im
Mai 1942 in Berlin acht Paare
küssten und am Ende Tausende
Flugblätter an Fenstern und Fas-
saden klebten mit der Aufschrift:

Die Liebe in den


Zeiten des


Widerstands


Norman Ohler macht aus Zeitgeschichte rauschhafte


Bücher. In „Harro und Libertas“ geht es um


die zentralen Figuren der Roten Kapelle, ein Paar aus


der Berliner Bohème, das gegen die Nazis anfeierte

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