Die Welt Kompakt - 19.09.2019

(C. Jardin) #1

30 PANORAMA DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DONNERSTAG,19.SEPTEMBER2019


A

cht Monate ist es her,
dass Detlef Seif erst-
mals von diesem The-
ma hörte. Es war bei ei-
nem dieser Bürgergespräche, die
man als Bundestagsabgeordneter
regelmäßig in seinem Wahlkreis
abhält, meist geht es dabei um
Verkehrswege oder Einkaufs-
möglichkeiten. An diesem Tag al-
lerdings ließ ein Gespräch am
Rande zu einem ganz anderen
Thema Seif aufhorchen.

VON CHRISTINA BRAUSE
UND ANETTE DOWIDEIT

Eine Frau aus seinem Wahl-
kreis erzählte, sie sei vor Kurzem
Großmutter geworden – und ihr
Enkelkind habe nur eine Hand.
Die Frau sagte noch etwas: In ih-
rem Dorf, das zwischen Feldern
liegt wie fast alles im ländlichen
Euskirchen südlich von Köln, sei
kurz zuvor noch ein Kind auf die
Welt gekommen, auch mit nur ei-
ner Hand. Und ein paar Orte wei-
ter ein drittes Kind. Mit der glei-
chen Fehlbildung.
Neugeborene mit nur einer ge-
sunden Hand – über das Thema
berichten Medien seit Tagen
bundesweit. Diese Welle wurde
in einem anderen Teil Nord-
rhein-Westfalens ausgelöst. In
Gelsenkirchen war den Hebam-
men eines Krankenhauses aufge-
fallen, dass dort zwischen Juni
und Anfang September drei Kin-
der geboren wurden, denen eine
Hand komplett oder teilweise
fehlte. Die Hebammen schrieben
einen Brief an die Klinikleitung:
„Das mehrfache Auftreten jetzt
mag eine zufällige Häufung sein.
Wir finden jedoch den kurzen
Zeitraum, in dem wir diese drei
Fälle sehen, auffällig.“ Die Klinik-
leitung des Marien-Hospitals
reagierte, indem sie die Fälle öf-
fentlich machte.
Drei Kinder, die in kurzem Ab-
stand mit nur einer Hand gebo-
ren werden, im selben Kranken-
haus, das kann Zufall sein. Ge-
nauso wie die Fälle vor rund ei-
nem Jahr im Kreis Euskirchen,
auf die der Politiker Seif stieß.
Nicht jedes Baby wächst im Mut-
terleib gleich, Fehlbildungen sind
häufig, sagen Pränatalforscher.
Derzeit gibt es keinerlei Erkennt-
nis darüber, ob es einen äußeren
Auslöser für die Fehlbildungen
gegeben haben könnte.
Man weiß noch nicht einmal,
ob es sich tatsächlich, wie die
Gelsenkirchener Hebammen ver-
muteten, um eine außergewöhn-
liche Häufung handelt. Oder viel-
leicht einfach nur um eine Laune
der Natur. In Frankreich waren
Ende 2018 ähnliche Fälle bekannt
geworden – und auch hier ist
noch längst nicht absehbar, ob es
dafür einen äußeren Auslöser

gab. Die Fehlbildungen in NRW
lassen jedoch viele aufhorchen,
die sich mit Kindermedizin und
Pränataldiagnostik beschäftigen.
Eine Erklärung dafür, dass die
drei Fälle in Gelsenkirchen bun-
desweit derart viel Aufsehen er-
regen, liefert ein einziges Wort,
das sich ins Kollektivbewusstsein
der Deutschen eingebrannt hat:
Contergan.
Auch der wohl größte Medizin-
skandal in der Geschichte der
Bundesrepublik in den frühen
Sechzigerjahren begann mit ein
paar Einzelfällen: Kinder mit
Fehlbildungen der Gliedmaßen,
deutlich verkürzte Arme oder
Beine – nach und nach wurden
immer mehr solcher vermeintli-
chen Einzelfälle bekannt. Bis
Forscher ermitteln konnten, dass
das Beruhigungsmittel des Aa-
chener Pharmaunternehmens Li-
lienthal – das Ärzte damals Müt-
tern häufig während der Schwan-
gerschaft verschrieben – der Aus-
löser für all die Fehlbildungen
war, vergingen Jahre.
Umso mehr wundert es viele
Experten im Medizinbetrieb, dass
auch 58 Jahre nach dem Conter-
gan-Skandal in Deutschland nicht
systematisch erfasst wird, wie vie-
le Neugeborene mit welcher Fehl-
bildung auf die Welt kommen.
Detlef Seif, der CDU-Abgeord-
nete aus Euskirchen, erzählt: Als
er damals von den drei Kindern
mit den fehlenden Händen in sei-
nem Wahlkreis erfuhr, habe er
gleich seinen Mitarbeiter gebe-
ten, die erste Familie anzurufen
und sich die Geschichte noch ein-
mal genau erzählen zu lassen. Die
Mutter des Kindes habe berich-
tet, wie sie die beiden anderen be-
troffenen Familien gefunden ha-
be, über den Bekanntenkreis und
soziale Netzwerke. Allen drei Fa-
milien sei das komisch vorgekom-
men – gleich drei Babys mit ganz
ähnlichen Fehlbildungen, die so
nahe beieinander lebten?
Auch ihm sei das merkwürdig
erschienen, sagt Seif. Also be-
gann er nachzuforschen. Er rief
beim Kreisgesundheitsamt sei-

nes Landkreises an und fragte,
wie viele Babys im vergangenen
Jahr geboren wurden, denen eine
Hand fehlte – und ob dies mehr
seien als in anderen Jahren oder
anderswo in Deutschland. „Das
konnte mir aber niemand beant-
worten“, sagt er.
Stattdessen habe man ihm bei
der Behörde erklärt, dass eine so
genaue statistische Aufschlüsse-
lung von Fehlbildungen nicht
vorgesehen sei. Erfasst werde
nur die Zahl aller Kinder mit kör-
perlicher Behinderung im Land-
kreis. Daraus lasse sich aber
nicht das Alter der betroffenen
Kinder erkennen – man weiß also
nicht, ob sie im untersuchten
Zeitraum geboren wurden oder
als ältere Kinder in den Land-
kreis zugezogen sind. Und auch
nicht, welche Fehlbildung bei ih-
nen festgestellt wurde.
Bundesweit gibt es zwar die
sogenannte Perinatalstatistik des
Instituts für Qualitätssicherung
und Transparenz im Gesund-
heitswesen. Doch auch sie unter-
scheidet nicht exakt die Arten
von Behinderungen. Derzeit
existiert nur in Sachsen-Anhalt
ein Gesetz, das eine dezidierte
Erfassung von Fehlbildungen re-
gelt – und selbst dort erfolgt die
Meldung von Krankenhäusern an
die Erfassungsstelle freiwillig.
Die fehlenden Daten seien ein
Problem, findet Seif. „Wenn wir
solche elementaren Zahlen nicht
erfassen, fehlt uns die Grundvo-
raussetzung, um überhaupt zu
wissen: In welchen Fällen gibt es
statistische Ausreißer, die eine
Suche nach möglichen äußeren
Ursachen notwendig machen
würden.“
Derselben Meinung sind Ge-
burtshelferinnen, etwa die Köl-
ner Hebamme Sonja Liggett-
Igelmann, die den Gelsenkirche-
ner Fall in der Kölner Boulevard-
zeitung „Express“ öffentlich
machte. Durch die fehlende Da-
tenlage sei völlig unklar, ob „der
Fall nicht weitaus größere Di-
mensionen hat“.
Auf die jüngsten Medienbe-
richte hin meldeten sich, etwa
bei der „Bild“-Zeitung, viele Fa-
milien, die von ähnlichen Fehl-
bildungen bei ihren Kindern be-
richteten. Und auch bei Detlef
Seif lief diese Woche der Fall ei-
ner vierten Familie in seinem
Landkreis auf.
Der Euskirchener Politiker
fordert, es müsse ein Gesetz ge-
ben, das bundesweit eine einheit-
liche Erfassung von Fehlbildun-
gen vorschreibt. Vergangene Wo-
che hat er darum einen Brief ans
Bundesgesundheitsministerium
geschrieben, in dem er die Fälle
in seinem Landkreis schildert
und seinen Parteikollegen, den
Bundesgesundheitsminister Jens

In Gelsenkirchen


kamen Babys ohne


Hände auf die Welt.


Ob es sich dabei


aber um


außergewöhnliche


Häufungen handelt,


weiß niemand –


denn keine Stelle


erfasst solche


Fehlbildungen genau


ITALIEN


Drei Tote nach


Rennboot-Unfall


Ein Rennboot-Rekordversuch
hat für drei Menschen in Vene-
dig ein tödliches Ende genom-
men. Ihr Boot raste in der Nähe
des Lidos gegen einen Damm,
wie die italienische Feuerwehr
erklärte. Drei Leichen seien aus
der unter Wasser liegenden
Kabine geborgen worden. Eines
der Opfer war ein italienischer
Rennbootkonstrukteur und
-fahrer, der versucht habe, ei-
nen Geschwindigkeitsrekord
von Monte Carlo nach Venedig
aufzustellen. Bei den beiden
anderen Opfern soll es sich um
einen weiteren Italiener und
einen Holländer handeln. Das
Rennboot könne Geschwindig-
keiten bis 130 Kilometer pro
Stunde erreichen. Es war kurz
vor der Ziellinie verunglückt.


BAYERN


Lebenslange Haft für


Mord an Tramperin


Im Fall der getöteten Trampe-
rin Sophia L. hat das Land-
gericht Bayreuth den Lastwa-
genfahrer Boujemaa L. wegen
Mordes in Tateinheit mit ge-
fährlicher Körperverletzung zu
einer lebenslangen Haftstrafe
verurteilt. Nach zweimonatiger
Prozessdauer kam das Gericht
wie die Anklage zu der Über-
zeugung, dass der aus Marokko
stammende Mann die 28-jährige
Studentin im Juni vergangenen
Jahres im Streit niedergeschla-
gen und schwer verletzt sowie
dann bei einer zweiten Attacke
getötet hatte. Damit handelte
es sich nach Überzeugung des
Gerichts um Mord zur Ver-
deckung der vorangegangenen
Körperverletzung.


BERLIN

Tote Mutter jahrelang
im Keller versteckt

In einem selbst gezimmerten
Brettersarg hat ein Berliner
seine tote Mutter mehr als zwei
Jahre lang in einem Pankower
Mietshaus versteckt – ver-
mutlich um ihre Rente zu kas-
sieren. Die Staatsanwaltschaft
habe den Fall übernommen und
prüfe den Verdacht des Leis-
tungsbetrugs, sagte ein Spre-
cher. Der 57-Jährige habe einge-
räumt, die Tote versteckt zu
haben. Die 85-Jährige starb
nach bisherigen Erkenntnissen
im Frühjahr 2017 eines natürli-
chen Todes. „Es gibt keine
Hinweise auf ein Fremdver-
schulden“, sagte der Sprecher.
Der Sohn habe die Seniorin
aber nicht bestatten lassen,
sondern in der selbst gebauten
Kiste in seinen Kellerverschlag
geschafft, so die Polizei. Dies
sei, „so makaber das klingen
mag“, lediglich eine Ordnungs-
widrigkeit, sagte die Spreche-
rin. In Deutschland müssen
Tote bestattet werden. Das
Versteck wurde bei einem Poli-
zeieinsatz in dem Haus ent-
deckt. Dabei sei aufgefallen,
dass die Frau in der Wohnung
des Sohnes zwar gemeldet war,
aber nicht angetroffen wurde.
Der Sohn habe sich in Wider-
sprüche verstrickt. Noch blei-
ben einige Fragen offen: Wa-
rum bemerkte niemand Lei-
chengeruch? Und wie kam die
Bretterkiste in den Keller?

KOMPAKT


LOTTO
Die Zahlen
Lotto: 1 8 - 24 - 34 - 44 - 46 -48
Superzahl: 8
Spiel 77: 5272656
Super 6: 641105
(Alle Angaben ohne Gewähr)

Wirtschaft/Finanzen: Olaf Gersemann Sport: Vol-
ker Zeitler Wissen: Dr. Pia Heinemann Kultur: Dr.
Jan Küveler Bücher: Dr.MaraDelius Panorama:
Claudia Kade, Falk Schneider Alle: c/o Axel Springer
SE, 10888 Berlin, Axel Springer Straße 65.
Hamburg: Claudia Sewig, Axel-Springer-Platz 1,
20355 Hamburg Anzeigen: Kai-G. Ehrenschneider-
Brinkmann, Axel Springer SE, 10888 Berlin
Axel Springer SE vvvertreten durch den Vorstand Dr.ertreten durch den Vorstand Dr.
Mathias Döpfner (Vorsitzender), Jan Bayer, Dr. Stepha-
nie Caspar, Dr. Julian Deutz, Dr. Andreas Wiele Ge-
schäftsführer Print: Christian Nienhaus Verlagslei-
ter Print: Petra Kalb, Stv. Heiko Rudat Anzeigen:
Kai-G. Ehrenschneider-Brinkmann Redaktion Son-
derthemen: Matthias Leonhard
Verlag und Druck: Axel Springer SE, Vertrieb: Sales
Impact GmbH & Co. KG, alle 10888 Berlin, Axel-
Springer-Straße 65. Tel.: 030/25910.
Es gilt die WELT-Preisliste Nr. 97a, gültig ab 1. Januar


  1. Alle Rechte vorbehalten. Die Rechte für die
    Nutzung von Artikeln für elektronische Pressespie-
    gel erhalten Sie über die PMG Presse-Monitor
    GmbH, http://www.presse-monitor.de. E-Mail: info@pres-
    se-monitor.de. Der Preis für das Abonnement beträgt
    monatlich 18,90 € und kann zum Monatsende been-
    det werden. Abbestellungen müssen dem Verlag
    schriftlich sieben Tage vor Monatsende vorliegen.
    Rechtshinweis: Alle Inhalte (Text- und Bildmaterial)
    werden Internetnutzern ausschließlich zum priva-
    ten, eigenen Gebrauch zur Verfügung gestellt, jede
    darüberhinausgehende Nutzung ist unzulässig. Für
    die Inhalte fremder, verlinkter Internetangebote
    wird keine Verantwortung übernommen.
    Digitale Angebote erreichen Sie unter:
    Tel. +800 / 95 15 00 0 E-Mail: [email protected]
    Informationen zum Datenschutz finden Sie unter
    http://www.welt.de/datenschutz. Sie können diese auch
    schriftlich unter Axel Springer SE, Datenschutz, Axel
    Springer Straße 65, 10969 Berlin anfordern.


IMPRESSUM Verleger Axel Springer (1985 †)
Herausgeber: Stefan Aust
Chefredakteur: Dr. Ulf Poschardt

Stellvertreter des Chefredakteurs:
Oliver Michalsky, Arne Teetz
Chefredakteure in der Welt-Gruppe:
Johannes Boie, Dagmar Rosenfeld
Stellvertretender Chefredakteur: Robin Alexander
Geschäftsführender Redakteur:Thomas Exner
Leitung Editionsteam: Christian Gaertner,
Stellv.: Philip Jürgens, Lars Winckler
Redaktionsleiter Digital: Stefan Frommann
Politik: Marcus Heithecker, Claudia Kade, Lars
Schroeder, Dr. Jacques Schuster Investigation/Re-
portage:
Wolfgang Büscher, Stv. Manuel Bewarder
Außenpolitik: Clemens Wergin, Stv. Klaus Geiger,
Silke Mülherr Wirtschaft: Jan Dams, Olaf Gersemann
Kultur: Dr. Jan Küveler, Andreas Rosenfelder, Stv.
Hannah Lühmann Sport: Stefan Frommann Wissen:
Dr. Pia Heinemann, Stv. Wiebke Hollersen Regional-
red. Hamburg:
Jörn Lauterbach WELT Editorial
Studio:
Matthias Leonhard Layout/Produktion:
Ronny Wahliß, Philippe Krueger, Gesa Vollborn Foto:
Stefan A. Runne Grafik: Karin Sturm Nachrichten/
Unterhaltung:
Falk Schneider WELTplus: Sebastian
Lange Community/Social: Thore Barfuss, Wolfgang
Scheida und Andreas Müller (Social Media) Video:
Martin Heller


WELT kooperiert mit „El País“ (Spanien),
„La Repubblica“ (Italien), „Le Figaro“ (Frankreich),
„Le Soir“ (Belgien), „Tages-Anzeiger“,
„Tribune de Genève“ (beide Schweiz) und
„Gazeta Wyborcza“ (Polen)


Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes:Seite
1:
Christian Gaertner Deutschland: Claudia Kade
Ausland: Clemens Wergin Forum: Rainer Haubrich


NRW: Rätseln um


behinderte Kinder

Free download pdf