Die Welt Kompakt - 19.09.2019

(C. Jardin) #1

Spahn, fragt, warum es keine
zentrale Erfassung gebe.
Der Minister antwortete auf
Fragen von WELT, ob er eine ge-
setzliche Vorgabe für eine zen-
trale Erfassung solcher Fälle für
notwendig halte, er nehme das
Thema „sehr, sehr ernst“. Er
wehre sich nicht gegen die Schaf-
fung eines zentralen Fehlbil-
dungsregisters. Mittlerweile for-
dern auch andere Politiker eine
solche systematische Erfassung,
etwa die Expertinnen in der Grü-
nen-Bundestagsfraktion.


Wie langwierig die Spurensu-
che in solchen Fällen ist, zeigen
die ähnlich gelagerten Fälle in
Frankreich von 2018. Dort war be-
kannt geworden, dass es in drei
Regionen seit mehreren Jahren
auffällig viele Handfehlbildungen
bei Neugeborenen gegeben haben
soll. Darüber, wie viele Kinder be-
troffen sein könnten, herrscht
aber bis heute Uneinigkeit. Mal
ist von insgesamt zwölf Kindern
die Rede, mal von 15 oder mehr.
Experten des Fehlbildungsre-
gisters Remera hatten schon seit

2011 auf ihrer Ansicht nach unge-
wöhnliche Häufungen aufmerk-
sam gemacht. Das Register ist für
die Region Rhône-Alpes an der
Grenze zur Schweiz und zu Ita-
lien zuständig. Jahrelang, scheint
es, wurden die Experten von der
zuständigen staatlichen Behörde
Santé Publique France (SPF), die
dem Gesundheitsministerium
untersteht, ignoriert.
Im vergangenen Herbst
schließlich gelangte der Streit
über „Babys ohne Arme“ in die
Medien, was den öffentlichen
Druck erhöhte. Frankreichs Re-
gierung setzte eine Experten-
kommission ein, die klären sollte,
ob es tatsächlich eine ungewöhn-
liche Häufung von Fällen gab
und, wenn ja, was deren Ursache
sein könnte.
Mitte Juli stellte die Kommis-
sion ihren ersten Bericht vor. Sie
empfahl, weitere Untersuchun-
gen im Departement Morbihan
an der nördlichen Atlantikküste
durchzuführen. Zwischen 2011
und 2013 waren dort drei Kinder
mit Fehlbildung geboren worden.
Die Fälle im benachbarten Gebiet
Loire-Atlantique werden laut
Kommission noch geprüft. 2007
und 2008 kamen dort ebenfalls
drei Kinder mit der Fehlbildung
zur Welt. Die sechs bis sieben
Fälle, die es zwischen 2009 und
2014 im Departement Ain nahe
der schweizerischen Grenze ge-
geben hat, hält die Kommission
jedoch nicht für auffällig.

Die Experten von Remera, je-
ner Einrichtung, die schon seit
2011 nähere Untersuchungen for-
dert, sprechen hingegen von ei-
nem 58 Mal höheren Wert als
normal. Mindestens ein betroffe-
nes Elternpaar soll laut der Zei-
tung „Le Parisien“ Klage einge-
reicht haben. Auch die Eltern aus
den anderen betroffenen Regio-
nen zeigten sich nach dem ersten
Bericht enttäuscht. Die angesetz-
ten Untersuchungen seien zu
lasch. Die Eltern zweifeln am
Aufklärungswillen der französi-
schen Behörden.
In Frankreich gibt es derzeit
insgesamt sechs Register – vier in
der Metropolregion, eins auf der
Insel Réunion und eins auf den
Antillen. Eine flächendeckende
Überwachung ist damit auch dort
nicht möglich. Derzeit decken
die Register rund 19 Prozent der
Lebendgeburten in Frankreich
ab. Im Bericht der Expertenkom-
mission ist jedoch vom geplanten
Aufbau eines siebten Registers
die Rede.
Als die französischen Fälle be-
kannt wurden, stand schnell auch
diese Frage im Raum: ob die Fehl-
bildungen bei den Babys mögli-
cherweise damit zu tun haben
könnten, dass die betroffenen Fa-
milien in der Nähe landwirt-
schaftlich genutzter Felder le-
ben. Auch im Kreis Euskirchen
gilt das für die betroffenen Fami-
lien. Gelsenkirchen dagegen ist
nicht ländlich geprägt.

„Der derzeitige Informations-
stand“, so schreibt es die Charité
Berlin auf Anfrage von WELT,
„erlaubt keine inhaltliche Stel-
lungnahme zu diesem Thema“.
Das Fehlbildungsmonitoring
Sachsen-Anhalt entschied sich zu
einem ungewöhnlichen Schritt:
Obwohl die Daten für 2018 noch
analysiert werden, wurden die
Zahlen schon vorab veröffent-
licht. Aktuell gebe es demnach
„keinen Anlass für eine örtliche
oder zeitlich auffällige unge-
wöhnliche Häufung der Extremi-
tätenfehlbildungen in Sachsen-
Anhalt“. Generell träten angebo-
rene Fehlbildungen immer wie-
der mit schwankender Häufigkeit
auf. In Sachsen-Anhalt werden
Fehlbildungen seit 39 Jahren
kontinuierlich erfasst. Das er-
mögliche erst Aussagen zu aktu-
ell auftretenden Phänomen der
scheinbaren Häufung und deren
Einordnung.
Laut Experten der Mainzer
Uniklinik weisen durchschnitt-
lich sieben von 10.000 Föten feh-
lende oder verkürzte Gliedma-
ßen auf. Rechne man die Totge-
burten nicht mit ein, seien drei
von 10.000 Babys betroffen.
Fest steht nur eines: Solange in
Deutschland nicht erfasst wird,
wie oft welche Fehlbildung bei
Neugeborenen überhaupt auf-
tritt, in welchen Regionen und in
welchen Zeiträumen – so lange
wird sich die Frage nach dem Wa-
rum nicht beantworten lassen.

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DONNERSTAG, 19. SEPTEMBER 2019 PANORAMA 31


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