Die Welt Kompakt - 19.09.2019

(C. Jardin) #1

DIE WELIE WELIE WELT KOMPAKTT KOMPAKT DONNERSTAG, 19. SEPTEMBER 2019 POLITIK 9


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den 90er-Jahren nahm hier die
Wahlbeteiligung kontinuierlich
ab. Bei den letzten Wahlen im
April erreichte sie gar einen Tief-
punkt von 45 Prozent.
Auch in diesem Wahlkampf
stilisierte Netanjahu Israels Ara-
ber erneut pauschal zu Staats-
feinden und potenziellen Wahl-
fälschern. Doch bei vielen
scheint das eher eine Trotzreak-
tion ausgelöst zu haben. Hinzu
kommt, dass die mehrheitlich jü-
dischen Parteien sich diesmal
auch aktiv um Israels arabische
Wähler bemühten.
Diese Anstrengungen zeigen
nun Erfolg. Die Wahlbeteiligung
im arabischen Sektor stieg und
trug so maßgeblich dazu bei, dass
es Netanjahus rechtem Lager
auch diesmal nicht gelang, eine
Mehrheit im Parlament zu errin-
gen.
Mehr noch: Der Zusammen-
schluss der arabischen Parteien
ist die drittgrößte Fraktion im
Parlament. Kommt es zu einer
nationalen Einheitsregierung,
würde ihr Parteivorsitzender Ai-
man Odeh Oppositionsführer
werden – das erste Mal, dass ein
Araber diese bedeutende Funkti-
on im jüdischen Staat über-
nimmt.
Israels Araber wären also kei-
ne unbedeutende Randgruppe
mehr, sondern ein wichtiger und


vor allem sehr sichtbarer Akteur
der Innen- und Außenpolitik. So
zeichnete sich bereits Dienstag-
abend ein Wandel im Verhältnis
zu ihnen ab: Oppositionsführer
Gantz kontaktierte Odeh gleich
nach den Wahlen – ein Novum in
der israelischen Politik. Der hatte
im Laufe des Wahlkampfes sei-
nerseits nicht ausgeschlossen, ei-
nen Teil der Regierungsverant-
wortung als Minister zu überneh-
men – ebenfalls eine revolutionä-

re Idee für Israels Araber, die die
ideologischen Grundlagen des
zionistischen Staates und seine
Exekutive Jahrzehnte lang ab-
lehnten.
Aber nicht nur Lieberman und
Israels Araber werden in den
kommenden Tagen stark umwor-
ben werden. Netanjahu ist be-
kannt für seine erfolgreichen
Versuche, die Parteien seiner po-

litischen Rivalen zu zerstückeln.
Immer wieder fand er Schwach-
stellen in Form von Politikern,
die er mit großen Anreizen in sei-
ne Koalition holte.
Diesmal müsste er fünf Über-
läufer finden, dann hätte er die
erhoffte Mehrheit. Dies ist zwar
schwer, aber nicht unmöglich,
vor allem wenn man bedenkt,
dass ein großer Teil der größten
Oppositionspartei Blau-Weiß aus
ehemaligen Mitgliedern von Net-

anjahus Likud besteht. Die ver-
ließen den Likud zwar vor allem
wegen ihrer Unzufriedenheit mit
dem Premier. Doch solcher Un-
mut ließ sich in der Vergangen-
heit oft durch das Angebot eines
hohen Amtes wieder vergessen
machen.
Ähnliche Kräfte könnten zu-
gleich aber auch Gantz helfen,
Netanjahu abzusetzen. Prinzi-

piell ist seine Partei mehr als wil-
lig, eine große Koalition mit dem
Likud zu bilden – nur unter einer
Bedingung: Der Likud muss dafür
Netanjahu absetzen, der schon in
wenigen Wochen in drei Fällen
wegen Korruption angeklagt wer-
den könnte.
Rebelliert Netanjahus Partei
jetzt, auch, weil Israel sonst un-
regierbar wird? Während des
Wahlkampfs hatte die Oppositi-
on immer wieder behauptet, die
Führung des Likud sei bereit,
Netanjahu im Falle einer Wahl-
niederlage fallen zu lassen. Die
Frage ist nun, ob Netanjahus
Schlappe, und der wachsende
Unmut im Likud, groß genug
sind, um einen solchen Putsch
herbeizuführen. Für den Likud,
der dafür bekannt ist, dass seine
Mitglieder ihrem Vorsitzenden
die Treue halten, wäre das voll-
kommen neu: Die Partei hatte in
den vergangenen 70 Jahren nur
vier Führer. Netanjahu besitzt
hier inzwischen einen fast my-
thischen Status. Und dennoch:
Es gibt eine neue Generation
ambitionierter Politiker, die seit
mehr als einem Jahrzehnt darauf
warten, Netanjahu zu beerben,
und die mit dessen konstanten
Abdriften nach rechts, seinen
Angriffen auf Israels demokrati-
sche, staatliche Institutionen
und seinem Führungsstil unzu-

frieden sind. Den Likud in einer
großen Einheitsregierung an der
Macht zu halten wäre ein trifti-
ger Grund, um den Premier ab-
zusetzen. Natürlich gibt es auch
andere Möglichkeiten: Gantz
könnte seine Forderung aufge-
ben, der Likud müsse Netanjahu
stürzen, um Israel Chaos zu er-
sparen. Netanjahu könnte frei-
willig seinen Hut nehmen, oder
sich Gantz unterordnen.
Doch diese Szenarien scheinen
vorerst höchst unwahrschein-
lich, weil sie Gantzs und Netanja-
hus Interessen zuwiderlaufen.
Gantz hat nur als Alternative zu
Netanjahu eine politische Zu-
kunft. Ein Bündnis mit Gantz
wwwürde Netanjahus Hoffnung zu-ürde Netanjahus Hoffnung zu-
nichtemachen, Immunität vor
seinen Korruptionsprozessen zu
erhalten. So wird Israels Zukunft
wohl dadurch entschieden wer-
den, wer zuerst nachgeben wird:
Wird es Lieberman sein, der zu
seinem ehemaligen Boss zurück-
kehren will? Oppositionspoliti-
ker, die eine einmalige Chance
ergreifen wollen, um in Netanja-
hus Regierung zu dienen? Oder
Mitglieder des Likud, die ihres
VVVorsitzenden überdrüssig gewor-orsitzenden überdrüssig gewor-
den sind und ihre Partei endlich
selber anführen wollen? Die
kommenden Wochen werden in
Israel spannend und voller Über-
raschungen sein.

Es gibt eine neue Generation


ambitionierter Politiker, die seit


mehr als einem Jahrzehnt darauf


warten, Netanjahu zu beerben

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