Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
von david steinitz

Ü


ber das sexuelle Erwachen junger
Frauen hat sich in der Filmgeschich-
te bislang vor allem eine Zielgruppe
viele Gedanken gemacht: ältere Männer.
Die Liste der erotischen Coming-of-Age-
Abenteuer, in denen ein Mädchen seinen
Körper entdeckt, während ein Mann im Re-
giestuhl sitzt und die Kontrolle darüber be-
hält, wie das im Detail auszusehen hat, ist
wohl nirgends so lang wie im französischen
Kino. Das ist natürlich nicht verboten, im
Gegenteil, es macht ja oft sogar großen
Spaß, anzuschauen, welche künstlerischen
Umwege sich manche Männer zumuten,
um in aller Ruhe ein bisschen Haut bewun-
dern zu dürfen. Und der ein oder andere
Klassiker ist ja auch dabei herausgekom-
men, „Belle de jour“, „Der letzte Tango in
Paris“, „Ein mörderischer Sommer“, „Blau
ist eine warme Farbe“... Aber die Erzählun-
gen von heranreifenden Mädchen hatten
dabei meist eine, wie soll man sagen, eindi-
mensionale Schlüssellochperspektive.
Das dachte sich auch die französische
Filmemacherin Rebecca Zlotowski. Die
39-Jährige gehört zu den wichtigsten
Regisseurinnen des französischen Auto-
renkinos. Sie drehte unter anderem das
Fantasydrama „Das Geheimnis der zwei
Schwestern“ mit Natalie Portman und die
Romanze „Grand Central“ mit Léa Sey-
doux. Und dieses Jahr stellte sie beim Festi-
val in Cannes in der Reihe Quinzaine des
Réalisateurs ihren Film „Une fille faci-
le/Ein leichtes Mädchen“ vor – ihre persön-
liche Variation des Genres Coming of Age.

Der Titel „Ein leichtes Mädchen“ ist
wörtlich zu nehmen in dieser Geschichte,
wenngleich auch nicht so, wie man sich das
zu Beginn mit den ersten Bildern vielleicht
vorstellt. Da sieht man aus der Vogelper-
spektive eine junge Frau mit sehr großen
Brüsten im Meer schwimmen, die nichts
außer einem sehr knappen Bikini-Tanga
trägt, in einem Postkartenidyll von einer
Bucht. Ein friedliches Bild, ganz selbstver-
gessen plätschert sie da vor sich hin. So viel
Ruhe, lernen wir bald, hat die 22-jährige
Sofia eher selten. Denn sobald sie anderen
Menschen begegnet, löst sie mit ihren
ultraknappen Kleidchen, den dicken
Schmolllippen, die stets ein perfektes O for-
men, und ihren immer im richtigen Mo-
ment lasziv hinters Ohr gestrichenen
blonden Haaren eine gewisse Nervosität
aus – was sie sichtlich genießt.
Diese pornöse Sexbombenhaftigkeit
wollte die Regisseurin besonders ein-
drucksvoll in den Zuschauerköpfen veran-
kern. Deshalb hat sie Sofia mit einer der
bekanntesten Figuren des französischen
Boulevards der vergangenen Jahre be-
setzt: Zahia Dehar gelangte zu gewissem
Ruhm, weil sie 2009 als minderjährige
Prostituierte mit dem Fußballstar Franck
Ribéry und anderen französischen Natio-
nalspielern schlief.
Die kamen aus der Sache gerade noch
mit einem blauen Auge heraus, weil die da-
mals 17-Jährige bezeugte, die Männer hät-
ten ihr wahres Alter nicht gewusst und sie
habe es ihnen auch nicht gesagt. Es folgte
eine Skandalbilderbuchkarriere unter den
lechzenden Augen der europäischen Pres-

se, in der sie öffentlichkeitswirksam der
Prostitution abschwor, um sich unter ande-
rem der Lingerie-Herstellung widmen zu
können. Und sie drehte über ihr bisheriges
junges Leben den Dokumentarfilm „Zahia
von Z bis A“.
Der Person Zahia Dehar kann man zehn
Jahre nach ihrem Bekanntwerden also fast
nur durch einen Mount-Everest-hohen
Berg an Vorurteilen begegnen. Was sich Re-
becca Zlotowski für ihren Film zunutze
macht, weil sie in ihr das perfekte „leichte
Mädchen“ gefunden hat, um mit den Zu-
schauererwartungen zu spielen. Denn die

widerlegt sie natürlich im Lauf des Films,
an dessen Ende man beeindruckt festhal-
ten muss: Diese Zahia Dehar ist in der
Schauspielerei wirklich gut aufgehoben.
Dass man auf dem Weg zu dieser Er-
kenntnis überhaupt mitgeht, löst die Regis-
seurin über einen kleinen Trick. Denn die
Protagonistin des Films, durch deren Per-
spektive wir Sofia kennenlernen, ist ihre
16-jährige Cousine Naïma (Mina Farid).
Die Schülerin hat einen langen Sommer in
Cannes vor sich, was glamouröser klingt,
als es ist. Denn Naïma und ihre Mutter, die
als Reinigungskraft in einem der vielen Lu-
xushotels an der Croisette arbeitet, kom-
men mit der Champagnerseite von Cannes
nur als Angestellte in Kontakt. Bis plötzlich
ihre ältere Cousine aus Paris auftaucht

und ihr Leben aufmischt. Gemeinsam stür-
zen sie sich ins bunte Treiben von Cannes,
flanieren auf dem Boulevard de la Croiset-
te, den Sofia selbstbewusst als Laufsteg be-
nutzt. Im Hafen zwinkert sie den begeister-
ten Männern mit den etwas zu weit aufge-
knöpften Hemden auf ihren Yachten zu.
Wie leicht sich Sofia auf diese Männer
und ihr Alphamännchengebalze einlässt,
auf die ungenierte Zurschaustellung ihres
Wohlstands, stößt Naïma zunächst ab.
Aber je mehr sie ihr bei diesen Spielchen zu-
schaut, desto mehr merkt sie, wie frei ihre
Cousine von all den Verhaltensimperati-
ven ist, die die meisten Menschen sich zur
Vorurteilsvermeidung selbst auferlegen:
Sofia ist es vollkommen egal, was die Leute
von ihr denken. Weil sie weiß, dass sie
jederzeit alle Angriffe parieren kann. Aber
eben nur, wenn sie Lust dazu hat. Womit
sie von einer Freiheit beseelt ist, wie sie
vermutlich nur die wenigsten Menschen
besitzen.
Auf einem Bootsausflug versucht eine
Frau, Sofia als dummes Flittchen zu enttar-
nen, glaubt, sie mit einem Gespräch über
Literatur in eine peinliche Situation brin-
gen zu können. Aber Sofia rückt sich ent-
spannt die Brüste im tiefen Ausschnitt
zurecht und hält mit ihrem O-Mund ein
Stegreifreferat über Marguerite Duras,
das sich gewaschen hat.

Une fille facile, Frankreich 2019 – Regie: Rebecca
Zlotowski. Buch: Rebecca Zlotowski, Teddy Lussi-
Modeste.Kamera: Georges Lechaptois. Mit: Mina
Farid, Zahia Dehar. Alamode, 92 Minuten.

Stacy L. Smith, Professorin an der Annen-
bergSchool for Communication and Jour-
nalism der University of Southern Califor-
nia, erforscht seit mehr als 15 Jahren die
Rollenverteilungen in Hollywood. Die ech-
ten Rollen, die man auf den Leinwänden
sieht, genauso wie die Verteilung der Jobs
hinter der Kamera. Es muss manchmal ein
ziemlich frustrierender Job sein, den sie da
macht. Denn die meisten ihrer Studien, oft
in Zusammenarbeit mit dem Geena Davis
Institute oder dem Sundance Institute er-
stellt, kamen immer wieder zu demselben
Ergebnis: Es passiert nicht viel in Holly-
wood, zumindest nicht, was die Darstel-
lung von Frauen oder Minderheiten in
Filmen angeht, und schon gar nicht, was
die begehrten Regiejobs betrifft. So gese-
hen war die Präsentation der neuen Studie
der Annenberg-Inclusion-Initiative für sie
sicher eine Abwechslung: Smith konnte
tatsächlich einen signifikanten Anstieg
weiblicher Hauptfiguren im amerikani-
schen Kino verkünden.
Für die Studie wurden 53 178 Charakte-
re in 1200 der einträglichsten Filme aus
den Jahren 2007 bis 2018 untersucht. Im
vergangenen Jahr, 2018, gab es in 39 der
hundert Filme, die in die Studie eingegan-
gen sind, eine weibliche Hauptfigur – im
ersten Jahr, das die Studie untersucht hat,
2007, waren es nur zwanzig. Und in immer-
hin 27 der profitabelsten hundert Filme
von 2018 (als auch „Black Panther“ ein
Riesenerfolg war), hatte auch mindestens
eine der Hauptfiguren eine andere Hautfar-
be als immer bloß weiß. Genau darum geht
es einer Forscherin wie Smith ja: Zu bele-
gen, wie öffentliche Debatte und Diversität
hinter der Kamera dazu führen, dass das
Kino die Unterschiede in der Gesellschaft
besser repräsentiert. Die Studie verzeich-
net einen starken Anstieg von schwarzen
Filmfiguren – aber auch von schwarzen
Regisseuren.
Wenn Frauen Filme inszenieren, steigt
auch der Anteil der weiblichen Figuren im
Film um 15 Prozent, schlüsselt die Studie
auf. Das ist keine neue Erkenntnis. Wenn
dann aber alle Filme, die von Männern und
von Frauen, ausgewertet werden, verän-
dert das in der Summe nicht viel. Es gibt
inzwischen mehr große Rollen für Frauen,
aber nicht mehr Rollen. Weiterhin sind
weniger als ein Drittel der Charaktere in
den untersuchten Filmen weiblich, was
nicht wirklich der Geschlechterverteilung
in der realen Welt entspricht.

Und diese Leinwand-Frauen tragen, ne-
benbei bemerkt, auch nicht mehr Kleider
als in früheren Filmen. Weibliche Figuren
sind immer noch wesentlich häufiger
nackt und wesentlich häufiger sexualisiert
als männliche Charaktere. Vielleicht wäre
das anders, würden hinter der Kamera
mehr Frauen agieren. Was das angeht, sind
Smiths Zahlen wahrlich ernüchternd: Es
wurde im vergangenen Jahr nicht häufiger
einer Frau die Regie eines Films anvertraut
als zwölf Jahre zuvor, der Anteil stagniert
hartnäckig bei etwas über vier Prozent. In
absoluten Zahlen: Bei den 1200 Filmen in
der Studie führten insgesamt 47 Frauen
und 657 Männer Regie (teilweise natürlich
mehrfach über die Jahre). Bei der Filmmu-
sik ist das Ergebnis noch drastischer – ins-
gesamt waren in den zwölf Jahren 1308
Komponisten am Werk und 19 Komponis-
tinnen. Die Entwicklungen haben also nur
vor der Kamera stattgefunden, dahinter ist
der Anteil von Frauen seit Jahrzehnten
nicht gestiegen. Es hat sich da etwas getan,
wo man es gleich bemerkt – da, wo es nicht
so schnell auffällt, bleibt alles beim Alten.
Fast könnte man meinen, der Film-
branche ginge es weniger um echte Verän-
derung als um das Wahren der liberalen
Fassade. Wären Frauen als Filmemacher
nämlich wirklich gleichberechtigt in
Hollywood – dann würde die Macht neu
verteilt. susan vahabzadeh
„Die Brüder sind da“, ruft eine Frauenstim-
me in den Garten, einer jungen Frau zu, die
dort selbstvergessen irrlichternd Blumen
gießt. Ein wenig gleicht sie einer Fee,
durchlässig und unberechenbar, Ginnie
wird sie genannt, was ein bisschen klingt
wie der Dschinn aus den arabischen Mär-
chen.
Ohne Vorwarnung wird man als Zu-
schauer mitten in diesen Garten, in ein
Haus am Stadtrand von Berlin und die kom-
plexe Dynamik unter den drei Brüdern
und zwei Schwestern hineingeworfen, die
sich, wie sich bald herausstellt, hier im El-
ternhaus zum letzten Mal gemeinsam ein-
finden. Man muss sich langsam orientie-
ren, aus kleinen Bemerkungen am Rande
und mal verhaltenen, mal ruppigen Reakti-
onen die Teile einer Familiengeschichte zu-
sammensetzen, mit all den Rückständen
vergangener Verletzungen und verdräng-
ter Wahrheiten, von Eifersucht und

Schuld. Ginnie ist das Nesthäkchen der Fa-
milie, sie ist geistig behindert und wurde
viele Jahre von ihrer älteren Schwester He-
li (Jördis Triebel) versorgt. Die will jetzt mit
einem Mann ein neues Leben beginnen,
und Ginnie soll ins Heim, nach diesem ge-
meinsamen Abschiedswochenende, an
dem noch mal alles aufbricht.
Michael Klier erzählt kleine Geschich-
ten aus dem wirklichen Leben. Statt for-
dernd zu inszenieren, beobachtet er eher
geduldig, mit dokumentarischem Gespür,
schaut da genauer, wo andere sich lieber

abwenden. In „Überall ist es besser, wo wir
nicht sind“ folgte er einem jungen Polen
auf der Flucht über Ost- und Westberlin
nach Amerika. In „Ostkreuz“ spürte er
dem Alltag in den Wohncontainern von
Flüchtlingen und Umsiedlern nach, und in
„Heidi M.“ begleitete er eine Frau Mitte
vierzig in der Existenzkrise. „Mich interes-
siert der mentale Zustand der Gesell-
schaft“, sagt er und schöpft dabei immer
wieder auch aus der eigenen Autobio-
grafie.
Nach neun Jahren Spielfilmpause seit
„Alter und Schönheit“ ist er dieses Mal be-
sonders nah an der eigenen Geschichte,

auch er hat mehrere Brüder und Schwes-
tern, eine davon ist – wie Ginnie – geistig
behindert und seit dem zwanzigsten Le-
bensjahr im Heim. „Aber wir kümmern
uns um sie“, sagte er. In der einfachen Si-
tuation scheinen komplexe Fragestellun-
gen auf, über die Rivalität unter Geschwis-
tern, die alle mit ihren Lebensentscheidun-
gen hadern. Das ist eben die ältere Schwes-
ter, die sich immer gekümmert hat, dann
der erstgeborene Sohn (Kai Scheve), der als
Konzertpianist dem Vater nacheifert, der
mittlere (Hanno Kofler), der sich in die Un-
gebundenheit eines freien Musikerlebens
geflüchtet hat, und der jüngste, ein Intel-

lektueller (Florian Stetter), dessen Weltver-
besserergeschäftigkeit sich in unange-
nehm überheblichen Monologen entlädt,
die undankbarste Rolle, vielleicht gerade
weil diese Figur auch Stellvertreter des Re-
gisseurs ist.
Neben den intimen Rivalitäten geht es
auch um gesellschaftliche Fragen, um das
Abwägen zwischen individueller Lebens-
verwirklichung und solidarischer Verant-
wortung für Schwächere. Ganz spontan
wirft der sympathischste unter den Brü-
dern ein, er könne sich ja um Ginnie küm-
mern. So ernst das in diesem Moment ge-
meint ist, so überfordert wäre er.
Unter dem Druck der Verhältnisse
scheint das Haus fast zu ächzen, nur ein-
mal gibt es einen Ausbruch aus dem Kam-
merspiel, ins Freie, zu einem Jungen, mit
dem Ginnie sehr zur Überraschung der Ge-
schwister ein intimes Verhältnis hat. Lilith
Stangenberg spielt Ginnie auf eine geheim-
nisvoll irritierende Weise, so wie nur sie
derzeit eine geistige Behinderte spielen
kann, ganz ohne exaltierte Ausbrüche,
eher in sich gekehrt, aber auch mit der un-
beugsamen inneren Stärke, die sie schon
in der engen Beziehung zu einem Wolf in
Nicolette Krebitz’ „Wild“ durchscheinen
ließ. Damit setzt sie sich auch gegen die
Übergriffigkeiten ihrer Brüder zur Wehr.
Zu den Idioten dieser Familie gehört sie
nicht. anke sterneborg

Idioten der Familie, D 2018 – Regie: Michael Klier.
Buch: Karin Aström, Michael Klier. Kamera: Patrick
Orth.Schnitt: Katja Dringenberg. Musik: Tilmann
Dehnhard. Mit: Lilith Stangenberg, Jördis Triebel,
Kai Scheve, Hanno Kofler, Florian Stetter. Verleih:
farbfilm, 102 Minuten.

Die Starts ab 12. September auf einen
Blick, bewertetvon den SZ-Kritikern.
Rezensionen ausgewählter Filme folgen.


Gut gegen Nordwind
josef grübl:Am Anfang war nicht das
Wort, sondern ein Tippfehler. So lernen
sich die zwei Stadtromantiker Leo und
Emmi in Daniel Glattauers viel verkauf-
tem E-Mail-Roman kennen, ein „e“ zu
viel bringt sie auch in der Verfilmung
vonVanessa Joppnäher. Seit dem Er-
scheinen des Buchs sind dreizehn Jahre
vergangen, was sich im Zeitalter digita-
ler Kommunikation anfühlt wie ein
Jahrhundert. Also schaut man Nora
Tschirner und Alexander Fehling dabei
zu, wie sie sich Mails schicken und versi-
chern, den anderen digital nicht zu stal-
ken. Das glaubt ihnen zwar kein Mensch,
ist aber hübsch erzählt und charmant
rückwärtsgewandt.


Idioten der Familie
(Siehe Kritik unten.)


Ein leichtes Mädchen
(Siehe Kritik nebenan.)


Liberté
fritz göttler:Deutscher Wald als
letzter Zufluchtsort. Drei ruchlose Adeli-
ge werden vom Hof des französischen
Königs Ludwigs XVI. verjagt. Auf einer
Lichtung irgendwo zwischen Berlin und
Potsdam probieren sie ihre Utopie, die ei-
ner grenzenlosen, absoluten, die Körper
verachtenden und verzehrenden Lust.
Fünfzehn Jahre sind es noch bis zur Fran-
zösischen Revolution. Der deutsche Her-
zog von Walchen, nicht minder berüch-
tigt, soll ihnen dabei helfen. Man plant
(und zerredet diesen Plan zugleich), aus
einem nahe gelegenen Kloster die Novi-
zinnen zu entführen. Ein kühnes, aber
immer wieder zögerliches Experiment,
ein finsterer (Selbst-)Befriedigungstrip,
vonAlbert Serraerst auf dem Theater in-
szeniert, an der Berliner Volksbühne,
dann für das Kino. Mit dem Visconti-
Star Helmut Berger als Herzog von Wal-
chen.


Mein Leben mit Amanda
philipp stadelmaier: Mikhaël
Herserzählt erneut von einem traumati-
schen Verlust und seiner Heilung: Nach-
dem seine Schwester in Paris bei einem
Anschlag stirbt, muss der von Vincent La-
coste gespielte David, 24, seine Nichte, 7,
in Obhut nehmen. In seinem letzten tol-
len Film „Dieses Sommergefühl“ zeigte
Hers subtil das Verschwinden von Trau-
er, hier leider nur die triviale Idee des Le-
bens als Spiel, bei dem man zurückfallen
kann und wieder aufholen muss.


Schwimmen
annett scheffel:Auf den ersten
Blick istLuzie LoosesDebüt ein klassi-
scher Coming-of-Age-Film. Aber die jun-
ge Regisseurin erzählt die brüchige
Freundschaftsgeschichte zweier Mäd-
chen in eindrücklich rauschhaften,
zärtlichen und subjektiven Bildern und
Stimmungen. Zwischen Mobbing in der
Schule, Konflikten mit den Eltern und
den ersten euphorischen Ausflügen in
die Nacht suchen die Mädchen aneinan-
der Halt und halten alles fest – in Videos
auf ihren Mobiltelefonen, die bald auch
zur Waffe gegen die Mitschüler werden.
Trotz, Selbstvergewisserung und Verletz-
lichkeit liegen nie weit entfernt. Die
Übergänge sind bei Loose sinnliche Er-
fahrung.


Thinking Like a Mountain
philipp bovermann:Das Volk der
Arhuacos kämpft in den Bergen Kolum-
biens um sein Land und seine Kultur. So
ähnlich beginnen häufig die Inhaltsbe-
schreibungen von Dokumentarfilmen,
die ethnokitschige Indianergeschichten
abspulen. Der Film vonAlexander Hick
hingegen interessiert sich angenehm
wenig für Politik und die Systematik hin-
ter der Unterdrückung der Arhuacos,
sondern wandelt wie ein melancholi-
scher Flaneur zwischen den Indigenen,
die dort für die Handyfotos der Touri-
sten aus dem Fluss trinken, aber tatsäch-
lich an dieses Leben glauben, das in der
Erde, dem Fels und den Schatten der Wäl-
der wurzelt, im gespenstischen Land zwi-
schen Tradition und Moderne.


Über Grenzen
doris kuhn:Auf Reisen gehen, den
persönlichen Blick auf die Welt filmisch
festhalten und dann übers Kino ausstel-
len – das ist ein populäres Prinzip der
Selbstvermarktung. Hier sucht die Rent-
nerin Margot aus Hessen die Begegnung
mit der Fremde und fährt mit einer
Honda 125 durchs Pamirgebirge, das
sich über Tadschikistan, China, Afgha-
nistan und Kirgisistan erstreckt. Ihr Ent-
schluss, zeitweise die FilmemacherJo-
hannes Meier und Paul Hartmann
mitzunehmen, zahlt sich in brillanten
Landschaftsbildern aus. Der Amateur-
film-Charakter wird durch ihre steten
Kommentare trotzdem deutlich.


Die untergegangene Familie
anna steinbauer:Nach dem plötzli-
chen Tod ihrer Schwester versinkt die
dreifache Mutter Marcela (Mercedes Mo-
rán) immer mehr in ihrer eigenen Welt.
Zwischen den Möbelstücken und Fotos
der Verstorbenen überlagern sich zuneh-
mend Vergangenheit und Gegenwart,
Erinnerungen vermischen sich mit Fami-
lienkonflikten und amourösen Verstri-
ckungen. In der Tradition des magi-
schen Realismus zeigt das feinsinnige
Debüt der ArgentinierinMaría Alcheei-
ne Frau, die im Taumel zwischen Trauer
und Verlust die eigene Wirklichkeit infra-
ge stellt.


Das Wunder im Meer von Sargasso
annett scheffel:Zwei Frauen ste-
cken fest. In einem griechischen Küsten-
kaff, in dem es nicht viel mehr gibt als
eine Aalfabrik und heiße Einöde, plus
männerdominiertem Morast aus Dro-
gen, Gewalt, Inzest. Eine kaputte Polizis-
tin und die Schwester des örtlichen
Schnulzensängers, dessen Tod die bei-
den zusammenführt.Syllas Tzoumer-
kaverrennt sich in seinem Kunstkrimi
zwar etwas zwischen mythologischem
Thriller, Greek Weird Wave und David-
Lynch-Hommage. Die Atmosphäre der
Kleinstadthölle zeichnet er aber ein-
drucksvoll nach: eine Welt der Verbitte-
rung und Fluchtfantasien, in der Wun-
der immer nur Metaphern bleiben.

Wer 4 sind
jakob biazza:Als Deutschrapper rele-
vant bleiben? Schwer. Über Jahrzehnte?
Eigentlich unmöglich. Eigentlich. Die
Fantastischen Vierspielen in Jahr 30 seit
ihrer Gründung Soloshows in Stadien,
sind also groß wie nie, und Regisseur
Thomas Schwendemannwill deshalb
wissen, wie zum Teufel das sein kann.
Seine Theorie: Eine spezielle Form von
Freundschaft treibt die Band an. In
diesem Punkt ist seine Doku ein mittel-
schwerer Herzensbrecher. Auf der Ebe-
ne drüber ist sie ein famoses Stück dar-
über, wie man trotz Wohlstandsbauch
und einsetzendem Ideenmangel nicht
peinlich wird.

Denk, was du willst


Die ehemalige Prostituierte Zahia Dehar wurdeberühmt, nachdem sie mit Franck Ribéry schlief.


Als Schauspielerin ist sie nun in „Ein leichtes Mädchen“ zu sehen – einer Tragikomödie über Vorurteile


Die geistig behinderte Schwester
hat eine Stärke, die ihren vier
Geschwistern fehlt

Augenwischerei


Eine Diversitätsstudie analysiert
wieder das amerikanische Kino

Wir kümmern uns


Meine Geschwister und ich: Für „Idioten der Familie“ schöpft Michael Klier aus seinem eigenen Leben


Hinter der Kamera hat sich
wenig getan, 657 Regisseure
stehen 47 Frauen gegenüber

Die Frau möchte Sofia als dummes
Flittchen enttarnen und verwickelt
sie in ein Gespräch über Literatur

NEUE FILME (1)


NEUE FILME (2)


(^10) FILM Donnerstag, 12. September 2019, Nr. 211DEFGH
Ein Sommer in Cannes: Sofia (Zahia Dehar, links) und ihre Cousine Naïma (Mina Farid). FOTO: ALAMODE
Familienbande: Jördis Triebel, Lilith Stangenberg, Florian Stetter (v.l.). FOTO: NADJA KLIER

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