Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
Als der große Schöpfergott das Sendungs-
bewusstseinverteilte, hat der Regisseur
Ersan Mondtag vermutlich ziemlich laut
„Hier!“ geschrien. Man kann sich förmlich
vorstellen, wie er als kleiner Junge in sein
Tagebuch schrieb, dass er eines Tages alle
übertrumpfen, ja, die gesamte Theater-
welt in sein schaurig-schönes Gruselkabi-
nett verwandeln will. Und wenn der 32-Jäh-
rige so weitermacht – bis jetzt dreimal
beim Berliner Theatertreffen eingeladen,
beim letzten Mal mit dem 3Sat-Preis ausge-
zeichnet –, wird das vermutlich schneller
gehen, als einem lieb ist. Weil zu viel Ruhm
für keinen Künstler gut ist, und Mondtag
ein Künstler ist, so wie er einen immer wie-
der aufs Neue mit seiner Horror-Ästhetik
am Stuhl fixiert.
Diesmal hat er sich dazu das Schriftstel-
ler-Drama „Baal“ ausgewählt, eines der Pa-
radestücke für Männer mit einer leichten
Tendenz zur Hybris. Volker Schlöndorff
drehte mit Rainer Werner Fassbinder ei-
nen Film dazu, Frank Castorf mixte in sei-
ne Interpretation vor einigen Jahren so viel
fremde Herrschaftskritik hinein, dass ihm
eine Brecht-Erbin zeigte, wer in diesem
Fall die Hosen anhat. Und nun versucht
sich Mondtag an dem Porträt des saufen-
den, vergewaltigenden und mordenden

Bürgerschrecks, das Bertolt Brecht 1918
als Gegenentwurf zu Hanns Johsts Porträt
über eine empfindsame Künstlerseele an-
fertigte. Eine für damalige Verhältnisse
erstaunlich schonungslose Kritik am Ge-
niekult, die spätestens seit den Enthüllun-
gen rund um „Me Too“ nie dagewesene
Aktualität besitzt.
Brecht machte für die Boshaftigkeit
seiner Figur in den späteren Fassungen
seines Stücks die Gesellschaft verantwort-
lich, die seiner Ansicht nach Stellvertreter
braucht, die an ihrer statt lasterhaft leben.
So oder so ähnlich dürfte es auch Ersan
Mondtag sehen, dem es im Land der
beigefarbenen Nachtschattengewächse ja
bekanntlich viel zu unmenschlich zugeht,
weshalb er für seine Version von „Baal“ am
Berliner Ensemble auch gleich eine alb-
traumhafte Entsprechung gezimmert hat,

die an seine preisgekrönte Aufführung
„Das Internat“ vom Theater Dortmund
erinnert, so faszinierend und verstörend
wie ein Ernst-Ludwig-Kirchner-Bild.
Und wie jede gute Gruselgeschichte
fängt auch diese von Ersan Mondtag er-
staunlich harmlos an. Nur das lebens-
große, wie von einem Großwildjäger erleg-
te Stoffzebra, das vor dem Vorhang liegt,
lässt erahnen, dass es gleich zur Sache
geht. Dann ertönt kindliche Spieluhrmu-
sik, eine Drehbühne wird sichtbar, die
verschiedene perspektivisch verzerrte
Kulissen zeigt. Mal sieht man eine Jugend-
stil-Bar voller Absinth-Flaschen, dann
eine Hundertwasser-Häuserflucht. Später
eine satanistische Kapelle inklusive
Riesenbarbie mit männlichem Glied und
einen trostlosen Gespensterwald. Und
überall den herumschleichenden, geknech-
teten Mob, in expressionistisch bemalter
Kleidung, die blaugrauen Gesichter ein
einziger Bluterguss.

Während man so vor sich hin staunt,
bricht plötzlich das Böse über einen her-
ein, in Gestalt von Stefanie Reinsperger,
denn Ersan Mondtag hat seinen „Baal“ mit
einer Frau besetzt. Ein kluger Schachzug
des jungen Theatermachers, weil er damit
den Zeitgeist auf seiner Seite weiß, und
gleichzeitig belegt, dass es bei Besetzun-
gen nicht darum geht, ob die Darsteller
Frauen oder Männer sind, sondern darum,
ob sie die Rolle mit ihrer Persönlichkeit aus-
füllen können.
Reinsperger, 31 Jahre alt, mehrfach aus-
gezeichnet, unter anderem für ihre Rolle
als somalischer Pirat in „Die lächerliche
Finsternis“ von Wolfram Lotz, seit 2017/
am BE, ist da die perfekte Wahl. Mal ganz
trotziges Kleinkind, mal sadistischer Ober-
macker, poltert, brüllt, säuselt und wälzt
sie sich herum, was das Zeug hält. Dann
reißt sie einer vor Angst erstarrten Figur
die Kleider vom Leib und macht ihren
Freund Johannes einen Kopf kürzer, der
von einer beeindruckenden Judith Engel
als Edvard Munchs zum Leben erwachter
Schrei gespielt wird. Viele der Frauenfigu-
ren werden von Männern verkörpert, mit
weiblichen Attributen ausgestattet. Damit
kommt Mondtag einer geschlechterbezo-
genen Interpretation zuvor und stellt die
Betrachtung von Gesellschaft und Indivi-
duum auf eine höhere Stufe.

Allerdings verliert der Abend immer
dann an Heftigkeit, wenn Stefanie Reins-
perger die Spielenergie nicht halten kann.
Vielleicht muss sie ihre Kräfte einteilen,
drei Stunden Scheusal zu spielen ist
schließlich keine Kleinigkeit. Aber spätes-
tens, wenn sie die nächste Ballade schmet-
tert oder mit der Taschenlampe durchs
Publikum fuchtelt, sind alle Einwände ver-
gessen. Außer einem: Warum wechselt sie
eigentlich immer, wenn es richtig arg wird,
in den österreichischen Dialekt? Das wirkt
in Berlin dann doch eher wie ein billiger
Witz. Ansonsten bekommt man in dieser
Inszenierung mehr Gänsehaut als in jeder
Geisterbahn. Würde man noch mal reinge-
hen? Auf keinen Fall. Dafür war es zu gut.
anna fastabend

In seinem Bestseller „Das Kapital im 21.
Jahrhundert“analysierte der französische
Ökonom Thomas Piketty vor sechs Jahren
kritisch die vermeintlichen Stabilisierungs-
effekte der Vermögensungleichheit für die
Demokratie. In seinem neuen Buch „Capi-
tal et Idéologie“, einem in Frankreich gera-
de erschienenen 1200-Seiten-Wälzer, ver-
tieft er seine Forschung. Unterschiedliche
Vermögens- und Einkommensverteilung
sei nicht wirtschaftlich oder technisch be-
gründet, also keine unabwendbare Tatsa-
che, sondern eine ideologische und politi-
sche Konstruktion, lautet die Grundthese.
Via Steuersatz und Rechtssystem, Bildungs-
angebot und politischem Programmspek-
trum spiegele sie die jeweilige Vorstellung
von sozialer Gerechtigkeit der Epoche.
Seit dem 18. Jahrhundert, schreibt Piket-
ty, hätten diese Vorstellungen sich stark ver-
ändert. Nach einem relativen Ausgleich in
den westlichen Sozialdemokratien um die
Mitte des 20. Jahrhunderts sei man heute
in Sachen Ungleichheit wieder beinahe zu
den Verhältnissen des 19. Jahrhunderts zu-
rückgekehrt. Die reflexhafte Verteidigung
allen Privateigentums unter Hinnahme
wachsender Gegensätze zwischen Arm und
Reich sieht der Autor als Reaktion der Ge-
sellschaft auf die labile Weltlage. Die „harte
Eigentümerideologie“ („idéologie propriéta-
riste dure“) stelle einerseits für viele einen
durchdachten und potenziell überzeugen-
den Diskurs für die gesellschaftliche Ent-
wicklung des Individuums bereit; anderer-
seits verschleiere sie den harten Kern gesell-
schaftlicher Inegalität. Thomas Piketty will
sein neues Buch als Beitrag zu der Einsicht
verstanden wissen, dass ungerechte Vermö-
gensverteilung nie in der Natur der Sache
liege, sondern immer gemacht sei und alter-
native Lösungsmodelle verlange.

„Die Sakralisierung des Privateigentums
ist im Grunde eine natürliche Antwort auf
die Angst vor dem Vakuum. Sobald man
das Drei-Funktionen-Schema zur Ausba-
lancierung der Macht zwischen Kriegern
und Klerus aufgegeben hat, das weitge-
hend auf einer religiösen Transzendenz be-
ruhte (einer für die Legitimierung des Kle-
rus und seiner weisen Ratsprüche notwen-
digen Transzendenz), muss man neue Vor-
richtungen finden, um die Stabilität der Ge-
sellschaft sicherzustellen. Die absolute Ein-
haltung des in der Vergangenheit errunge-
nen Eigentumsrechts bietet eine solche
neue Transzendenz, die vor dem allgemei-
nen Chaos schützt und das durch das Ver-
schwinden der Drei-Funktionen-Ideologie
hinterlassene Vakuum füllt. Die Sakralisie-
rung des Privateigentums ist gewisserma-
ßen eine Antwort auf das Ende der Religi-
on als ausformulierte politische Ideologie.
Auf der Grundlage der historischen Erfah-
rung und eines auf Beobachtung gestütz-
ten rationalen Wissens ist es meiner Ein-
schätzung nach möglich, diese natürliche
und nachvollziehbare, aber auch etwas
nihilistische, faule und hinsichtlich der
menschlichen Natur wenig optimistische
Antwort zu überwinden.“ sz

Ächzend öffnet sich die Schiebewand,
weicht knirschend nach links und rechts,
gibt einen trüben Raum frei, von einer Fun-
zel vage beleuchtet. An der Rückwand öff-
net sich eine Tür, dickes, gelbes Licht und
ein wenig Nebel dringen herein, drei wuch-
tige Männer betreten den Raum. Sie tragen
Gummischürzen und Gummistiefel, ha-
ben Eimer und Schrubber dabei, versprit-
zen Putzmittel, beginnen, Boden und Wän-
de zu säubern – ein von keinem Erfolg ge-
kröntes Unterfangen. Von rechts hört man
Musik, da sitzen die Bochumer Symphoni-
ker und der Staatschor Latvija, von dort
dringen dunkle Liegeklänge und ein amor-
phes Summen, als ein Raunen versteht
man die ersten, zerdehnten Worte: „Requi-
em aeternam.“
Der ungarische Film- und Theaterma-
cher Kornél Mundruczó inszeniert bei der
Ruhrtriennale in der Jahrhunderthalle in
Bochum György Ligetis Requiem als „Evo-
lution“. Und zwar abendfüllend, was zu-
nächst verblüfft, denn eine Aufführung
des Werks, uraufgeführt 1965 in Stock-
holm, dauert etwa 27 Minuten. Ligeti ver-
tont lediglich den Introitus, das Kyrie, die


Totensequenz („Dies irae“), endend mit ei-
nem apotheotischen Lacrimosa. Dabei ist
ihm nicht der semantische Gehalt wichtig,
der läuft sozusagen als Unterschicht mit.
Ligeti interessiert der Klang der Worte,
die er meist stark zerdehnt, zu einem mehr-
stimmigen, kaum zu entwirrenden Gebil-
de zusammenwebt, das Orchester legt mul-
tipolyphon diverse Schichten darunter.
Mitunter wird das auch dramatisch, gera-
de wenn die beiden Gesangssolistinnen
hinzutreten – in Bochum sind dies Yeree
Suh und Virpi Räisänen. Meist aber ent-
steht ein irisierender, flirrender Klang, der
in der Wirkung vom Tod und Schmerz an
sich kündet. Ligeti hat Nazidiktatur und
Stalin erlebt, wenn er in seiner Vertonung
mit dem Flehen um Erbarmen und um die
ewige Ruhe der Toten endet, dann hofft er
darauf, dass die Gräuel nie wiederkehren.
Kornél Mundruczó macht daraus im fan-
tastischen Bühnenbild von Monika Porma-
le ein Triptychon, einen dreiflügeligen Al-


tar mit dem Namen „Evolution“. Auch ihn
beschäftigen Erinnerung und Wiederho-
lung. Der erste Teil, „Eva“, spielt in der Ver-
gangenheit, der zweite, „Lena“, ist die Ge-
genwart, der dritte, „Jonas“, die Zukunft.
Drei Generationen.
Den Raum des ersten Bilds erkennt man
bald als Gaskammer, Duschen, Guckloch
in der Stahltür. Die drei wuchtigen Putz-
männer – Schauspieler von Mundruczós
Proton Theater in Ungarn – entdecken in
den Ablaufgittern und in Duschköpfen
Haare. Riesige Haarstränge ziehen sie her-
vor, verheddern sich in ihnen, es wird ein
Kampf, die Musik schäumt auf zum „Dies
irae“, Wasser springt in Fontänen aus dem

Boden. Die Kammer des Mordens wandelt
sich zum Ritualbad, die Männer entledi-
gen sich ihrer Kleidung, geben ihre Arbeit
auf, wollen gehen, doch da schreit ein Ba-
by. Unter einem Bodengitter, unter Bergen
von Haaren bergen sie es, nehmen es mit,
als wären sie die Könige aus dem Morgen-
land. Die Kammer schließt sich, das Baby
ist Eva.
Dieser erste Teil, bei dem Ligetis Musik
komplett durchläuft, ist an Beklemmung

kaum zu überbieten. Gleichzeitig hat man
das irritierende Gefühl, Ligeti habe seine
Musik genau für Mundruczós Bildwelt
komponiert.
Im zweiten Teil sitzt Eva, inzwischen alt
und gespielt von der wundervollen Lili Mo-
nori, mit ihrer Tochter Lena, gespielt von
Annamáría Láng, in der Küche ihrer Woh-
nung. Die sieht man durch die Fenster, im
Video links und rechts sieht man die Frau-
en, jeweils aus der Perspektive der einen
wie der anderen. Sie streiten. Darüber,
dass die Tochter nach Berlin floh, wo sie
über die jüdische Gemeinde einen Schul-
platz für Jonas bekam. Darüber, dass die
Mutter immer noch in der Vergangenheit
lebt, Budapest nicht verlassen will, kein
Wiedergutmachungsgeld und keine Eh-
rung annehmen will. Es ist so hart wie aus-
weglos. Ligetis Musik erklingt nur noch als
Echo, sehr sporadisch, das lange Reden ist
quälend. Am Ende öffnet sich der Raum,
Wasserfontänen ergießen sich aus der De-
cke, aus Schränken. Die Flut ist eine der Er-
innerung, aber auch eine Reinwaschung.
Lena steht in der Küche und lächelt.
Bei Kornél Mundruczó gehen Narration
und Abstraktion Hand in Hand. Seine hy-
perrealistischen Bilder haben stets ein sur-
reales Element. Auch der dritte Teil be-
ginnt noch sehr konkret, man sieht den
Jungen Jonas mit seinem Handy, man liest
Whatsapp-Nachrichten, er wird wegen sei-
ner langen Nase gehänselt. Langsam brei-
tet sich auf der Bühne ein gleißender Licht-
tunnel aus, die Lichtinstallation von Felice
Ross malt mit Laser, Licht und Nebel eine
extreme Zentralperspektive, in deren
Fluchtpunkt eine Erdkugel ohne Men-
schen ruht, nur Wasser, Wolken. Jonas und
vierzehn andere Kinder erobern den
Raum, als beträten sie eine Zukunft. Die
Musik dafür hat Steven Sloane zuvor mit
den Bochumer Symphonikern eingespielt,
nun kommt sie, elektronisch bearbeitet,
vom Band, schwebend zwischen Ahnung
und Verheißung.
Dieses optisch umwerfende Schluss-
bild, eingetaucht in den Klang von Ligetis
Lacrimosa, hat sicherlich auch ein biss-
chen was von zukunftsschimmernder Eso-
terik. Vor allem aber ist es ein Ringen um
Hoffnung. Insgesamt ist „Evolution“ eine
Aufführung, wie sie wohl nur ein Festival
wie die Ruhrtriennale zeigen kann. Gewal-
tig, erschütternd, groß. egbert tholl

von dorion weickmann

B


litzeblau strahlt der Himmel über
dem Tempelhofer Feld, der Sonnen-
schein lässt die Asphaltbahnen glit-
zern. Die Tänzerin, die darauf ihre Runden
dreht, scheint nichts davon zu kümmern.
Zwanzig Minuten lang zirkelt sie Schleifen
auf den Boden, in vollkommener Harmo-
nie mit sich selbst. Diese Frau, soviel ist
klar, tanzt für sich allein, in ihrem eigenen
Universum – obwohl Hunderte Menschen
ihr zusehen. Sie lauscht dem eigenen
Atem, treibt die Hüften in Halbkreisen
vorwärts und schlenzt die Arme in den
Klangraum hinein, den Steve Reichs mini-
malistische „Violin Phase“ aufreißt.
Es ist ein magischer Moment, und ein
historischer dazu. Ereignet hat er sich
2017, als die belgische Choreografin Anne
Teresa De Keersmaeker in Berlin einen Aus-
schnitt aus ihrem Frühwerk „Fase“ (1982)
unter freiem Himmel noch einmal selbst
verkörperte: mit einer Reife und Selbst-
verständlichkeit, die nichts von Wirkung
wissen will. Und deshalb ein auratisches
Kunstwerk hervorbringt.
Zeitsprung, gleiches Stück, Ortswechsel
von Tempelhof nach Tiergarten: Im Au-
gust 2019 entert eine junge Tänzerin die
Bühne der Akademie der Künste (AdK). Sie
setzt die Schritte entschieden, präzise, mit
leicht ungestümem Elan. Was „Fase“ in
druckvollere, weniger abgeklärte Schwin-
gung bringt und mit scharfen Ausschlägen
versieht. Soa Ratsifandrihana hat das Solo
von Anne Teresa De Keersmaeker anver-
traut bekommen. Ihr Auftritt im Rahmen
des AdK-Festivals „Was der Körper erin-
nert“ liefert ein großartiges Beispiel dafür,
wie Weitergabe im Tanz funktioniert:
Nicht als Kopie eines Originals, sondern als
Inbesitznahme eines fremden Bewegungs-
profils, das an neu- und andersartige Ener-
gien gekoppelt wird.


Werktreue im strengen Sinn ist dem-
nach im Tanz eine Illusion. Das gilt umso
mehr für die Zeitspanne, die nun von der
AdK im Verbund mit den Tanzarchiven in
Köln, Leipzig und Bremen beleuchtet wird.
Gemeinsam hat man eine Ausstellung
über die Auf-, Aus- und Umbrüche be-
stückt, die sich leitmotivisch durch die
Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts zie-
hen. Was es mit einzelnen Fortschrittskapi-
teln auf sich hat, thematisieren Gespräche
und Aufführungen, für die hauptsächlich
der Tanzfonds Erbe verantwortlich zeich-
net. Die Initiative der Bundeskulturstif-
tung hat in den letzten acht Jahren an die
60 Inszenierungen ermöglicht, viele davon


Rekonstruktionen verlorener, weil nie ins
Repertoire eingegangener und trotzdem
wegweisender Werke.
Das Revival ist im Akademie-Gebäude
am Hanseatenweg geradezu ideal unterge-
bracht, fand hier doch der Anschluss des
Nachkriegswestens an die internationale
Avantgarde statt. Nele Hertling und Dirk
Scheper holten ab den Siebzigerjahren die
seinerzeit kreativsten Köpfe und ihre Kom-
panien nach Berlin – eine legendäre Ära,
die das bis 21. September laufende Festival
demnächst wiederbelebt.

Wie aber lässt sich Tanzgeschichte in Ar-
tefakten und toten Objekten, in statischem
Museumsmaterial verdichten? Das Kurato-
renteam um Johannes Odenthal hat sich für
eine puristische Variante entschieden. Aber-
tausende Archivalien und Zeugnisse künst-
lerischen Schaffens wurden gesichtet, um
schließlich die Tanzwelt des 20. Jahrhun-
derts in 75 Exponaten abzubilden.
Sie stammen ausschließlich von der
historischen Prominenz, angefangen bei
Isadora Duncan, deren Jahrhundertwende-
schrift zum „Tanz der Zukunft“ vom dunk-
len Grund der ersten Vitrine leuchtet, bis
hin zur Tanztheatermatadorin Susanne
Linke.
In kerzengerader Linie reihen sich die
Glaskästen im Obergeschoss der Akade-
mie, dahinter laufen Fotoserien und Filme,
die vom Revue-Star Josephine Baker über
Steve Paxtons monolithische „Gold-
berg“-Variationen bis zu Ohad Naharins
„Virus“ den Bogen über 80 Jahre spannen.
Optisch bereitet dieses Setting großes
Vergnügen, weil es die Opulenz der Tanz-
moderne stilvoll bebildert und den Be-
trachter mit sinnlichen Reizen überflutet.
Immerhin hat kaum eine andere Kunst so
viele Häutungen durchlaufen und dabei
ein Spektrum ausgebildet, in dem figura-
tiv und abstrakt, formstreng und norm-
frei, narrativ und experimentell bestens ko-
existieren.
Wer allerdings unbeleckt in die Präsen-
tation spaziert, hat wenig Chance, Zusam-
menhänge zu kapieren, geschweige denn
soziokulturelle Vernetzungen herzustel-
len. Warum liegt da ein Laissez-passer für
die Olympischen Spiele von 1936? Wie
sieht die Genealogie der Moderne aus? Wer
hat bei wem gelernt, getanzt, unterrichtet?
Wieso ist Pina Bausch auf der Schau-
strecke nicht vertreten? Und wie steht es
überhaupt um das deutsche Tanztheater
gestern, heute und morgen?
Die dreißigseitige Begleitbroschüre
hilft da so wenig weiter wie der gut 300-sei-
tige Reader, der mit Choreografenporträts

und einer Handvoll Essays aufwartet. Statt
Kenntnis zu vermitteln, wird sie hier vor-
ausgesetzt – und damit Exklusion und
Selbstbezüglichkeit praktiziert.
Wie es besser geht, zeigt übrigens die
bis Januar 2020 laufende Schau des
Wiener Theatermuseums „Alles tanzt!
Kosmos Wiener Tanzmoderne“, deren vor-
züglicher Katalog ein zeitgeschichtliches
Panorama entwirft und seinen Gegen-
stand von allen Seiten zugänglich macht.
Genau wie der Tanzfonds Erbe, der seine

Netzrepräsentanz zu einer Informations-
plattform ausgebaut hat, auf der Zeitzeu-
geninterviews, Dokumentationen und
Aufzeichnungen geförderter Projekte zu
finden sind. Damit ist die historische
Tanzlandschaft zwar noch längst nicht
flächendeckend kartografiert.
Aber es zeichnet sich ab, welche Schätze
bis heute Inspirationen liefern, obwohl sie
bisweilen nur in Skizzen, Notizen und ei-
ner Handvoll Fotos überlebt haben. Was
Künstlerinnen von Mary Wigman bis Ger-

hard Bohner, von den ersten bis in die letz-
ten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts auf
die Beine stellten, ebnete den Weg nach
Modernistan – wie es Ernst Ludwig Kirch-
ner oder Gerhard Richter für die bildende
Kunst, Robert Musil oder Ingeborg Bach-
mann für die Literatur geleistet haben.
Auch im Tanz gab es eine Ingeborg Bach-
mann. Sie hieß Dore Hoyer. Eine Frau,
deren radikaler Kunsttrieb zur Todesfalle
wurde: Am Silvesterabend 1967 setzte Hoy-
er ihrem Leben ein Ende, weil sie mit
57 Jahren und einem kaputten Knie – die
AdK zeigt die Röntgenaufnahme – den
eigenen Bühnentod vor sich sah. Ihr fünf-
teiliges Signatursolo „Afectos Humanos“
war glücklicherweise vom Fernsehen auf-
gezeichnet worden.
In Berlin haben drei Tänzer – Mann,
Frau und Transgender – ihre eigene Lesart
von „Eitelkeit, Begierde, Hass, Angst, Lie-
be“ vorgestellt. Keine gleicht der anderen,
jede ist auf ihre Weise berückend. Nils Frey-
er gelingt eine expressive Anverwandlung,
Renate Graziadei tanzt mit der feministi-
schen Erfahrung im Rücken und Pol Pi
tranchiert Hoyers Körperkomposition mit
dem Performance-Skalpell unserer Tage.
Eindrucksvoller lässt sich die Frage nach
Aktualität und Bedeutung des Tanzerbes
nicht beantworten. Insofern ist jetzt die Po-
litik am Zug, auf die Anregung der Festival-
initiatoren zu reagieren: Literaturarchiv in
Marbach, Filmmuseum in Berlin – hat der
Tanz nicht längst eine nationale Instituti-
on dieser Größenordnung verdient?

Aufbruch nach


Modernistan


Die Berliner Akademie der Künste präsentiert


die Tanzrevolutionäre des 20. Jahrhunderts


Der Albtraumproduzent


Ersan Mondtags „Baal“ in Berlin ist das derzeit beste Bühnen-Scheusal


Sie spielt, was das Zeug hält: Stefanie
Reinsperger als Baal in der neuen Brecht-
Inszenierung am Berliner Ensemble.
FOTO: BIRGIT HUPFELD

Für die Boshaftigkeit der
Hauptfigur ist natürlich die
Gesellschaft verantwortlich

Das Setting überflutet
den Betrachter
mit sinnlichen Reizen

Wie lässt sich Tanzgeschichte


in statischem Museumsmaterial


verdichten?


Ligeti hofft darauf, dass die


Gräuel von Nazidiktatur und


Stalin nie wiederkehren


Ahnung und Verheißung


György Ligetis „Requiem“ als „Evolution“ bei der Ruhrtriennale


In dieser Aufführung bekommt
man mehrGänsehaut als
in jeder Geisterbahn

DEFGH Nr. 211, Donnerstag, 12. September 2019 (^) FEUILLETON HF2 11
GEHÖRT, GELESEN,
ZITIERT
Derneue Piketty
Eine Szene aus Anne Teresa De Keersmaekers Jugendwerk „Fase“ von 1982, in der
eine Frau 20 Minuten ganz allein für sich tanzt. FOTO: JEAN-LUC TANGE
Endlich! Ein Baby als Hoffnungsschim-
mer imdüsteren Totenjammer des Ligeti-
Requiems eröffnet in Kornél Mundruczós
Theaterabend „Evolution“ die Möglich-
keit einer lebenswerten Zukunft.
FOTO: HEINRICH BRINKMÖLLER-BECKER / RUHRTRIENNALE
Mary Wigmans „Totentanz II“ von 1926 wurde 2017 am Theater Osnabrück reanimiert. Das kurze Stück ist ein Meilen-
stein des Tanzes auf dem Weg in die Moderne. FOTO: JOERG LANDSBERG

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