Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
von anja martin

O


ben entlang zieht sich die Reeper-
bahn, mit Davidwache, Prosti-
tuierten, Spielkarten, Boxhand-
schuhen. Sogar die „Ritze“ ist zu
sehen, das Lokal mit dem berühmten Ein-
gang zwischen gespreizten Beinen. Auf
dem Sattelrohr dann das Heiligengeistfeld
mit Dom, Riesenrad und Bunker. Das Un-
terrohr zeigt die Fischauktionshalle, Fisch-
brötchen und den Hafen, außerdem eine
Insel mit Palmen. Und genau an diesem
Ort sitzt Catharina Pomorin, unter den
künstlichen Palmen des Stadtteilprojekts
Park Fiction oben an der Hafenstraße.
St. Pauli im Rücken, die Hafenkräne im
Blick. Gerade läuft ein Containerschiff ein.
Die Tätowiererin, die auf St. Pauli arbei-
tet und wohnt, hat Tattoo-Motive mal
nicht auf Haut, sondern auf Leder ver-
ewigt, das dann über einen Fahrradrah-
men gezogen wurde. Man könnte das Bike
das erste tätowierte Fahrrad nennen, ver-
mutlich der Welt, bestimmt von Hamburg.
Das Martinshorn schallt von der Reeper-
bahn herüber, vom Hafen schreien Mö-
wen. „Tatsächlich ist da ein geografischer
Ablauf im Rahmen“, sagt sie und zeigt in al-
le Richtungen. Vieles, wofür man Ham-
burg kennt, passt auf dieses Fahrrad, ist
aber auch in echt nah beieinander, findet
sich im Umkreis von zwei Kilometern.
Pomorin arbeitet am Hamburger Berg,
das ist eine kleine Nebenstraße der Reeper-
bahn mit vielen Bars, in denen Nichtrot-
lichtinteressierte feiern gehen. Ihr Arbeits-
ort: die „Älteste Tätowierstube in Deutsch-
land“, die tatsächlich als erste ins Handels-
register eingetragen wurde. Das war 1946.
Vermutlich hatten die Angestellten damals
noch vor allem Matrosen unter der Nadel,
heute sind es mehr Touristen. Und sicher-
lich waren Anker noch gefragter.
Die Idee, ein Fahrrad zu tätowieren,
kam der 30-Jährigen gar nicht selbst. Tat-
too-Fiete, wie das Stadtmarketing das Rad
nennt, ist Teil einer Kampagne, denn Ham-
burg will eine fahrradfreundlichere Stadt
werden. Und zwar nicht nur auf Plakaten,
sondern in der Realität. Vor vier Jahren hat
Hamburg beschlossen, aufs Rad zu setzen.
Ein ausgefeiltes Veloroutennetz lag seit En-
de der Neunziger in der Schublade, wurde
2015 wieder herausgezogen. Seit 2016 flos-
sen bereits 46 Millionen Euro in Planung
und Ausbau der 14 Velorouten, die ent-
spanntes Radeln auf 280 Kilometern
möglich machen sollen. Bis auf zwei Ring-
routen treffen sich alle Wege in der Innen-
stadt, sodass man im Grunde das gesamte
Stadtgebiet strampelnd erkunden kann.
Doch das wird noch bis Ende nächsten Jah-
res dauern. Stand heute: 136 Kilometer
sind fertig, ein Teil Baustelle, andere Stre-
cken noch gar nicht angefasst.
Man arbeitet sich vor. „Ein Wahnsinns-
unterfangen“, sagt die Fahrradkoordinato-
rin der Stadt, Kirsten Pfaue. „Immerhin
sind sieben Bezirke und 30 Planungsbüros
beteiligt und man muss Eigentümern
Grundstücke abkaufen.“ Außerdem kann
man es sich als zähes Ringen vorstellen,
wenn Parkplätze zu Radwegen werden
sollen. Interessenkonflikte sind natürlich
etwas zutiefst Urbanes, weil so eine Stadt

vor allem eines immer zu wenig hat: Raum.
Es sollen nicht nur bestehende Wege ausge-
bessert, sondern neue gebaut werden. Und
zwar teils gar nicht entlang der Straße, wie
in der City Nord, wo vergangene Woche ein
Teilstück der Route fünf eröffnet wurde:
1,2 Kilometer, die sich Fahrradschnellstra-
ße nennen dürfen, weil der Fahrstreifen
vier Meter breit ist und sich Radfahrer den
Platz nicht mit Autofahrern teilen müssen.
Touristen werden hier wohl nie fahren –
für Besucher gibt es in diesem Büroviertel
nichts zu sehen. Aber auch in die touris-
tisch relevanten Gebiete dringt der Ausbau
vor. „Das Veloroutennetz ist das Rückgrat
des Hamburger Alltags“, sagt Pfaue. „Aber
jeder Tourist ist eingeladen, darüber die
Stadt zu entdecken.“

Weit oben auf der Liste der touristisch
interessanten Routen wird die mit der
Nummer vier stehen. Sie führt aus dem
Norden in Winterhude an der Alster ent-
lang, dann an der Außenalster – das ist das
Hamburg der Bürgerhäuser, Kanäle und
Vorgärten. Viele Radfahrer tragen weiße
Polohemden. Der ganze Leinpfad wurde
zur Fahrradstraße, man trifft also nur Au-
tos an, wenn sie Anliegern gehören, kann
entspannt dahinrollen. An der Fernsicht
öffnet sich der Blick über die Länge der Au-
ßenalster bis zum Jungfernstieg. Die fast
100 Jahre alte Krugkoppelbrücke soll ein-
mal autofrei sein. Noch ist sie Baustelle. An
der Außenalster rollt man dann wieder oh-
ne Unterbrechungen, weil kaum andere
Straßen kreuzen. In so einen Fahrfluss
kommen urbane Radler nur in wenigen
Städten. Man muss fast nicht anhalten.
Könnte man aber, denn das lohnt sich: für
die Ausblicke aufs Wasser, um auf einer
der vielen Bänke zu sitzen oder vielleicht,
um an Bodos Bootssteg ein Radler zu trin-
ken, das natürlich Alsterwasser heißt.

Wäre das Veloroutennetz schon fertig,
würde einen die Innere Ringroute 13 auf
der Hafenseite von St. Pauli und an Park
Fiction vorbeiführen, mit Blick auf die gro-
ßen Schiffe. Diese Route ist allerdings erst
bruchstückhaft vorhanden. Auf dem Rah-
men von Tattoo-Fiete liefe die Route am
Unterrohr entlang. Bisher lässt sich nur
das Sattelrohr im realen Hamburg als Velo-
route fahren: Entlang der Feldstraße mit
Heiligengeistfeld, Bunker und – falls grade
Dom ist – auch am Riesenrad vorbei führt
die Route eins aus der Innenstadt über
St. Pauli nach Altona. Die Route muss man
suchen. Ortsunkundige verfranzen sich
schnell auf dem Weg herauf vom Jungfern-
stieg. Beschilderungen für die Velorouten
wird es erst im nächsten Jahr geben. Sie
werden spätestens dann dringend ge-
braucht. Auf der Feldstraße rollt der Ver-
kehr mehrspurig und schnell, am Rand wei-
sen Markierungen eine Spur für Fahrräder
aus, natürlich stehen Lieferfahrzeuge dar-
auf. Stressig ist das allemal.
„Der Ausbau der Radwege ist ehrlich ge-
sagt miserabel“, urteilt Ole Peters im Fahr-
rad-Café St. Pauli, ohne von dem Bike auf-
zublicken, das er gerade repariert. Der La-
den ist weniger ein Café mit Werkzeug als
eine Werkstatt mit Kaffeemaschine. Für
seine Einschätzung der Wegelage muss er
nicht lange nachdenken, schließlich erlebt
er sie täglich. Da seien in Hamburg die vie-
len Wechsel des Materials: Kopfsteinpflas-
ter, Gehsteigkanten, aufgesprungener Be-
lag. Das macht das Fahren anspruchsvoll
und stressig. „Für die Fußgänger ist nicht
erkennbar, wo die Radwege sind“, sagt Pe-
ters. Wozu das führt, kann sich jeder den-
ken: zu gefährlichen Situationen, zu Streit
zumindest. Hier mit Spaß und guter Laune
zu fahren: Fehlanzeige. Jedenfalls dort, wo
mit dem Ausbau des Veloroutennetzes
noch nicht begonnen wurde. Anders als in
der City Nord und an der Alster steht es in
der Innenstadt und auf St. Pauli ums Rad-
fahren noch fast so schlecht wie je.
Die Fahrradkoordinatorin weiß, dass
die Ausgangslage eine Herausforderung
ist: „In Hamburg gibt es oft hubbelig-
schmale Radwege auf Gehwegen. In den
Sechzigern war das ausreichend oder reiz-
voll, aber heute ...“ Es ist viel zu tun, aber es
wird auch viel getan, was man schon an
den Baustellen sieht. Kirsten Pfaue ist je-
denfalls zuversichtlich, was das „Riesen-
puzzle“ betrifft, das da Stück für Stück
überprüft und zusammengesetzt werden
muss. Und freut sich über jeden fertigen Ki-
lometer, der die Hamburger und die Besu-
cher ans Radfahren heranführen könnte.
Irgendwann wird der Ausbau dann auch
auf St. Pauli ankommen – und auf dem Un-
terrohr von Tattoo-Fiete. Die Tätowiererin
selbst allerdings fährt gar nicht Rad: Um in
die Arbeit zu kommen, muss sie nur die
Treppe nehmen. Aber auch sonst: Erst hat-
te das neue Rad einen Platten, dann wurde
es geklaut. Da können natürlich noch so gu-
te Velorouten nicht helfen.

Weitere Auskünfte: http://www.fahrrad.hamburg/de/ser-
vice/velorouten. Die Mitnahme von Rädern im öf-
fentlichenNahverkehr ist bis auf bestimmte Stoß-
zeiten kostenlos möglich, in der Stadt verteilt ste-
hen Luftstationen, http://www.hamburg.de

Neue Wege durch die Stadt


HamburgsVerkehr soll grüner werden. Holprig schmale Radrouten werden zu Schnellstrecken umgebaut,
für die auch Parkplätze weichen müssen. Das gefällt nicht jedem

Catharina Pomorin,
Tätowiererinauf St. Pauli,
hat das Rad
„Tattoo-Fiete“ gestaltet,
mit dem die Stadt Hamburg
für ihre neuen Verkehrspläne
wirbt. Dabei sollen
nicht nur bestehende Wege
ausgebessert, sondern
auch neue gebaut werden –
ein zähes Ringen,
denn Interessenkonflikte
sind unausweichlich.
FOTOS: ANJA MARTIN

Das Fahrrad-Café St. Pauli in der Detlev-
Bremer-Straße ist auch Werkstatt. An
den Palmen an der Hafenstraße wird die
Ringroute 13 entlangführen.FOTOS: A. MARTIN

16 SZ SPEZIAL – HAMBURG ERLEBEN Donnerstag, 12. September 2019, Nr. 211 DEFGH


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