Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
Der Autoverleih hieß „Royal Motors“, und
dieHomepage ließ keinen Zweifel an den
Eigenschaften des angebotenen Fahr-
zeugs: ein Jaguar F-Type, 550 PS, Höchst-
geschwindigkeit 300 km/h, Beschleuni-
gung von 0 auf 100 in 4,2 Sekunden. Ei-
gens war noch vermerkt: „Extrem laute
Klappenauspuffanlage“. Die Firma sah
auch keinen Grund, warum sie dieses Fahr-
zeug nicht an den 20-jährigen Mert T. ver-
mieten sollte. Der Preis war moderat, 149
Euro pro Tag, 100 Kilometer inklusive, das
konnte sich der junge Mann von seinem
Azubi-Gehalt als Kfz-Mechatroniker ohne
Weiteres leisten.
Am 6. März 2019, kurz vor Mitternacht,
raste Mert T. im weißen Jaguar mit 160 bis
165 Stundenkilometern auf der Rosenstein-
straße in Stuttgart stadteinwärts. In Höhe
der Hausnummer 24, vor dem Billardcafé
„Seven“, bog ein entgegenkommendes
Fahrzeug vor ihm links ab. Mert T. versuch-
te abzubremsen, verriss den Jaguar nach
links und prallte mit immer noch mehr als
100 km/h auf einen Kleinwagen, der in ei-
ner Tiefgaragenausfahrt stand. Jacquelin
B., 22, und ihr Lebensgefährte Riccardo G.,
25, hatten nicht den Schatten einer Chan-
ce. Sie starben noch an der Unfallstelle. Ihr
kleiner Citroën war nur noch ein Klumpen
verbeulten Blechs. Mert T. und sein Beifah-
rer stiegen fast unverletzt aus dem Jaguar.
Am Mittwoch begann vor dem Landge-
richt Stuttgart der Prozess gegen Mert T.
Er wird in Handschellen aus der Untersu-
chungshaft vorgeführt. Die Anklage-
schrift, die Oberstaatsanwältin Cristine
Bez verliest, lautet auf Mord. Wenn das Ge-
richt Mert T. als Erwachsenen ansieht,
könnte er zu lebenslanger Haft verurteilt
werden. Aber auch das Jugendstrafrecht
sieht für Heranwachsende, also Angeklag-
te von 18 bis 20 Jahren, bei Mord eine
Höchststrafe von 15 Jahren vor.
Der Anklage zufolge war Mert T. vor
dem tödlichen Zusammenstoß schon stun-
denlang mit unterschiedlichen Beifahrern
im Großraum Stuttgart unterwegs. Er woll-
te, sagt die Staatsanwältin, durch die rasan-
te Beschleunigung und durch das Röhren
des Motors anderen imponieren und sei-
nen „Geschwindigkeitsrausch“ ausleben.
Schon am frühen Abend sei es in der Nähe
der späteren Unfallstelle zu einer gefährli-
chen Situation gekommen, als er bei hoher
Geschwindigkeit auf die Gegenfahrbahn
ausweichen musste. Auf der Autobahn zwi-
schen Esslingen und dem Stuttgarter Flug-
hafen habe er das Fahrzeug auf 274 Stun-
denkilometer beschleunigt. Wenige Minu-
ten vor dem Zusammenstoß hatte er noch
einen Kumpel zum Mitfahren eingeladen.
„Er trat das Gaspedal voll durch. Er wollte

seinen Beifahrer beeindrucken und seine
Fahrfähigkeiten demonstrieren“, sagt die
Staatsanwältin. Mert T. kannte die Gegend
gut, er wohnt ganz in der Nähe. Er habe ge-
wusst, dass auch zu dieser späten Stunde
noch Autofahrer und Fußgänger unter-
wegs waren; ganz in der Nähe liegt ein Kino-
Center. „Er hat keine Bedenken gegen sei-
ne Fahrweise aufkommen lassen“, sagt die
Staatsanwältin. „Ihm war klar, dass er auf
ein- und abbiegende Fahrzeuge nicht
rechtzeitig reagieren konnte. Es war ihm
bewusst, dass ein Zusammenstoß bei die-
ser Geschwindigkeit zum Tod anderer Per-
sonen führen konnte. Er hat deren Tod vor-
hergesehen und billigend in Kauf genom-
men.“ Mert T. habe also vorsätzlich und
mit einem gemeingefährlichen Mittel,
dem Auto, zwei Menschen getötet. Das er-
fülle den Tatbestand des Mordes.

Der Angeklagte sagt an diesem ersten
Prozesstag noch nichts. Der Gerichtspsych-
iater hat sein Gutachten über Mert T. erst
unmittelbar vor Prozessbeginn fertigge-
stellt, das wollen T.s Verteidiger erst mit ih-
rem Mandanten erörtern. Aber der Rechts-
anwalt Markus Bessler gibt schon mal eine
Erklärung ab. Mert T., sagt er, habe bis zu
jenem 6. März 2019 „das ganz normale Le-
ben eines jungen Menschen geführt, der
sich mit seiner Person und seiner Persön-
lichkeit nicht besonders auseinanderset-
zen musste“. Es gebe nichts daran herum-
zureden, dass durch T.s „Fehlverhalten“
zwei junge Menschen aus dem Leben geris-
sen worden seien. Das sei „unfassbar tra-
gisch“. Gerade weil Mert T. noch so jung
sei, und er noch keinerlei Erfahrung mit
Strafgerichten habe machen müssen, tra-
ge er schwer an dieser Verantwortung. Er
lerne in der Haft, sich mit seiner Schuld
auseinanderzusetzen, aber „es wäre unehr-
lich, nicht zu sagen, dass dieser Lernpro-
zess noch andauert“. Der Vorwurf des Mor-
des jedoch sei „entschieden zurückzuwei-
sen“. Der Fall unterscheide sich in rechtli-
cher und tatsächlicher Hinsicht von den
„sogenannten Raserfällen“, bei denen es
überwiegend um Autorennen gehe.
Die Eltern der getöteten Jacqueline B.
haben ein Foto ihrer Tochter und deren Le-
bensgefährten vor sich auf den Tisch ge-
stellt. Die Vorsitzende Richterin Cornelie
Eßlinger-Graf bittet, das Foto nicht so auf-
zustellen, „als ob es sich um Prozessbetei-
ligte handelt“. Die Mutter legt das Foto
flach auf den Tisch. hans holzhaider

Der Fall vom vergangenen März, der jetzt verhandelt wird, löste Entsetzen und gro-
ße Anteilnahme aus: die Unfallstelle in Stuttgart. FOTO: FABIAN SOMMER/DPA

von hans holzhaider

W


enn im Straßenverkehr ein
Mensch zu Tode kommt, dann
wird der Verursacher wegen fahr-
lässiger Tötung bestraft, mit maximal fünf
Jahren Freiheitsstrafe. Jahrzehntelang
war das die herrschende Meinung in deut-
schen Gerichtssälen – bis zum 27. Februar



  1. An diesem Tag verurteilte das Land-
    gericht Berlin zwei 24 und 26 Jahre alte
    Männer wegen Mordes zu lebenslangen
    Freiheitsstrafen. Sie hatten auf dem Kur-
    fürstendamm in Berlin ein Autorennen
    ausgetragen, hatten mit Geschwindigkei-
    ten bis zu 160 Stundenkilometern mehrere
    rote Ampeln überfahren, bis der eine an ei-
    ner Kreuzung einen Jeep rammte, dessen
    Fahrer noch an der Unfallstelle starb.
    Seit diesem Urteil tobt der Streit unter
    den Juristen. Wann wird der Autofahrer
    zum Mörder? Im Zentrum des Streits steht
    die Frage: Wann handelt ein Täter vorsätz-
    lich, wann nur fahrlässig? Daran entschei-
    det sich, ob der Tatbestand des Mordes er-
    füllt sein kann. Nur wer den „Taterfolg“, al-
    so den Tod eines anderen Menschen, zu-
    mindest, wie es in der Juristensprache
    heißt, „billigend in Kauf nimmt“, kann we-
    gen Mordes verurteilt werden. Und auch
    nur dann, wenn eines der im Gesetz defi-
    nierten Mordmerkmale hinzukommt: das
    Motiv der Habgier, der Verdeckung einer
    anderen Straftat oder ein sonstiger „niedri-
    ger Beweggrund“, Heimtücke oder beson-
    dere Grausamkeit, oder die Benutzung ei-
    nes „gemeingefährlichen Mittels“.
    In vier Fällen hat der Bundesgerichtshof
    (BGH) bisher geurteilt. Jeder dieser Fälle
    liegt ein bisschen anders, und entspre-
    chend unterschiedlich fielen die Entschei-
    dungen aus. Für alle aber gilt, was der BGH
    zur Frage des „bedingten Tötungsvorsat-
    zes“ ausgeführt hat, also des „billigenden
    Inkaufnehmens“. Dazu bedürfe es, sagt
    der BGH, eines „Wissenselements“ – der
    Täter müsse den Tod als „mögliche, nicht
    ganz fernliegende Folge seines Handelns
    erkennen“ – und eines „Willenselements“.
    Er müsse die Todesfolge billigen, oder, und
    jetzt wird es ganz schwierig, „sich zumin-
    dest mit dem Eintritt des Todes abfinden,
    mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgül-
    tig oder an sich unerwünscht sein“.
    Man kann also etwas „billigend in Kauf
    nehmen“, auch wenn es „an sich uner-
    wünscht“ ist? Das ist eine Dialektik, die
    nicht nur dem juristischen Laien zu schaf-
    fen machen dürfte. Jedenfalls, so der BGH,
    müsse sich das Gericht, um richtig zwi-
    schen „bedingtem Vorsatz“ und „bewuss-
    ter Fahrlässigkeit“ abzuwägen, in jedem
    Einzelfall mit der Persönlichkeit des Tä-
    ters, seiner psychischen Verfassung, sei-
    ner Motivation und den konkreten Tatum-
    ständen befassen.


Der Berliner Fall


Das Berliner Mordurteil vom Februar 2017
fand keine Gnade vor den Bundesrichtern.
Das Landgericht hatte festgestellt, dass die
beiden Raser ihren bedingten Tötungsvor-
satz erst in dem Augenblick gefasst hätten,
als sie mit Höchstgeschwindigkeit in die
Kreuzung einfuhren, wo es zur tödlichen
Kollision kam. Da aber hätten, schrieben
die Berliner Richter, die Täter keinerlei
Möglichkeit mehr gehabt, das Geschehen
abzuwenden, sie seien „absolut unfähig ge-
wesen, noch zu reagieren“. Wenn das so ist,
argumentierte der BGH, dann gebe es kein
von einem Tötungsvorsatz getragenes Ver-
halten der Angeklagten – sie seien in dem
Moment, in dem sie den Tötungsvorsatz
fassten, schon handlungsunfähig gewe-
sen. Das Urteil wurde aufgehoben, der Fall
ging an das Berliner Landgericht zurück.
Am 26. März 2019 verurteilte eine ande-
re Kammer des Landgerichts die beiden
Angeklagten erneut wegen Mordes zu le-
benslanger Haft. Die Richter hatten die
BGH-Entscheidung sorgfältig studiert. Sie
verlegten den Zeitpunkt, zu dem die Ange-
klagten den bedingten Tötungsvorsatz ge-


fasst hätten, einfach um wenige Sekunden
nach hinten, als die beiden Autos etwa 250
Meter vom Unfallort entfernt waren. Da
hätten die beiden Raser, so das Gericht, an-
gesichts der roten Ampel noch die Chance
gehabt, ihre Fahrzeuge per Vollbremsung
zum Stehen zu bringen. Stattdessen gaben
sie Vollgas. Als Mordmerkmale nannten
die Richter Heimtücke, einen niedrigen Be-
weggrund und den Gebrauch eines gemein-
gefährlichen Mittels: des Autos.
Die Verteidiger haben auch gegen die-
ses Urteil Revision eingelegt, über die noch
nicht entschieden ist.

Der Frankfurter Fall


In Frankfurt am Main hatte am 22. April
2015 ein 20-Jähriger in einem Mietwagen
mit 142 Stundenkilometern eine rote Am-
pel überfahren und ein aus der Gegenrich-
tung abbiegendes Fahrzeug gerammt, des-
sen Fahrer noch an der Unfallstelle starb.
Das Landgericht Frankfurt verurteilte den
Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung
und Gefährdung des Straßenverkehrs zu ei-
ner Jugendstrafe von drei Jahren. Die Rich-
ter hielten es für ausgeschlossen, dass der
20-Jährige einen Zusammenstoß mit tödli-
chem Ausgang billigend in Kauf genom-
men habe, weil er damit auch seinen eige-
nen Tod in Kauf genommen hätte, zumal
da er nicht angeschnallt war. Dem wider-
sprachen die Bundesrichter. Es gebe keine
generelle Regel, wonach das Risiko bei ei-

ner Kollision so gleichmäßig verteilt sei,
dass die Inkaufnahme des Todes eines an-
deren Unfallbeteiligten zwangsläufig auch
die Inkaufnahme des eigenen Todes bedeu-
te. Das Urteil wurde aufgehoben und der
Fall an das Landgericht Frankfurt zurück-
verwiesen. In der neuen Verhandlung wur-
de der Angeklagte wegen Totschlags zu
fünf Jahren Jugendstrafe verurteilt. Das
Gericht bejahte den bedingten Vorsatz, er-
kannte aber kein Mordmerkmal. Auch die-
ses Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Der Bremer Fall


Bestätigt hat der Bundesgerichtshof dage-
gen ein Urteil des Landgerichts Bremen,
das einen Motorradfahrer wegen fahrlässi-
ger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von
zwei Jahren und neun Monaten verurteilt
hatte. Der Angeklagte war mit seinem 200
PS starken Motorrad regelmäßig mit stark
überhöhter Geschwindigkeit im Stadtge-
biet Bremen unterwegs. Von seinen Aus-
fahrten machte er mit einer Helmkamera
Videos, die er ins Internet stellte. Am 17. Ju-
ni 2016 fuhr er spät abends mit fast 100
Stundenkilometern auf eine Ampel zu, die
gerade von Grün auf Gelb umsprang, als
ein 57-Jähriger von rechts über die Straße
ging, obwohl die Ampel für ihn noch Rot
zeigte. Der Motorradfahrer bremste so-
fort, erfasste aber den Fußgänger und ver-
letzte ihn tödlich. Ähnlich wie im Frankfur-
ter Fall werteten die Richter den Umstand,

dass der Motorradfahrer sich auch selbst
gefährdete, als Indiz dafür, dass er den töd-
lichen Ausgang des Unfalls nicht billigend
in Kauf nahm. Anders als im Frankfurter
Fall beanstandete der BGH das Bremer Ur-
teil nicht – erstens, weil der Angeklagte als
Motorradfahrer objektiv mehr gefährdet
war als ein Autofahrer, zweitens, weil er
durch die Vollbremsung gezeigt habe, dass
er einen Zusammenstoß vermeiden wollte.
Das Urteil wurde rechtskräftig.

Der Hamburger Fall


Das Landgericht Hamburg verurteilte im
Februar 2018 einen 24-jährigen Angeklag-
ten wegen Mordes zu lebenslanger Haft.
Der Mann war in einem gestohlenen Taxi
in der Hamburger Innenstadt auf der
Flucht vor der Polizei und fuhr dabei mit
155 Stundenkilometern auf die Gegenfahr-
bahn. Dort rammte er den Bordstein, ver-
lor die Kontrolle über das Fahrzeug und
stieß frontal mit einem Taxi zusammen. Ei-
ner der Insassen des Taxis starb, zwei wur-
den schwer verletzt. Das Gericht urteilte,
der Angeklagte habe, weil er der Polizei ent-
kommen wollte, bewusst einen Frontalzu-
sammenstoß und damit auch den Tod an-
derer und seinen eigenen Tod billigend in
Kauf genommen. An dieser Argumentati-
on fand der BGH nichts auszusetzen. Es ist
bisher der einzige Fall, in dem eine Verur-
teilung wegen Mordes nach einem tödli-
chen Zusammenstoß rechtskräftig wurde.

Tödliches


Tempo


Warum ein 20-jähriger Stuttgarter wegen Mordes angeklagt ist


(^2) THEMA DES TAGES Donnerstag, 12. September 2019, Nr. 211 DEFGH
Bei Vollgas Mord
Die Gerichte sind sich nicht einig, wie sie Raserfahrten mit tödlichem Ausgang
bewerten sollen. Bisher gibt es erst eine rechtskräftige lebenslange Haftstrafe
Mit mehr als 160 Kilometern pro Stunde durch Stuttgart: Im Kleinwagen rechts starben zwei Menschen. FOTO: KOHLS / DPA
Mert T. habe „das ganz normale
Leben eines jungen Menschen
geführt“, sagt sein Anwalt
Raser vor GerichtMertT. ist bis zum 6. März dieses Jahres nicht weiter aufgefallen. An jenem Tag aber steuert er kurz vor Mitternacht
einen Jaguar mit gut 160 Kilometern pro Stunde durch die Stuttgarter Innenstadt und verursacht einen schweren Unfall.
Zwei Menschen sterben. Die Richter müssen nun eine Frage klären, die seit einiger Zeit die Justiz beschäftigt: Sind Raser Mörder?
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