Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
von kristiana ludwig

Berlin –Der gelbeSchein vom Arzt mag
auf den ersten Blick eine simple Sache
sein: Wer krankgeschrieben wird, schickt
ein Kopie der Bescheinigung an seinen Ar-
beitgeber und eine zweite an die Kranken-
kasse. Das dauert 15 Minuten, Briefum-
schlag und Porto kosten zusammen viel-
leicht einen Euro. Doch das Bundeswirt-
schaftsministerium hat das mal hochge-
rechnet: Im Jahr 2017 haben Ärzte in
Deutschland rund 77 Millionen Kranken-
scheine ausgestellt. Für die Bürger bedeu-
tete das einen Zeitaufwand von insgesamt
19,25 Millionen Stunden und Gesamtaus-
gaben von 77 Millionen Euro. So gesehen
ist der gelbe Schein ein klarer Fall für Büro-
kratieabbau.
Die Bundesregierung will in den kom-
menden Jahren die Krankenscheine ab-
schaffen. Stattdessen soll die Arbeitsun-
fähigkeit eines Mitarbeiters künftig nur
noch elektronisch an die Arbeitgeber über-
mittelt werden. Nicht mehr der Patient,
sondern der Arzt soll in Zukunft der
Krankenkasse melden, dass einer ihrer


Versicherten nicht arbeiten kann. Dessen
Arbeitgeber soll die genauen Daten der
Krankschreibung dann digital bei den
Kassen abrufen können. Auf diese Weise,
so heißt es im Entwurf eines Bürokratie-
entlastungsgesetzes aus dem Haus von
Wirtschaftsminister Peter Altmaier
(CDU), sollen auch Streitigkeiten zwischen
Arbeitnehmern und ihren Vorgesetzten
vermieden werden. Krankheitszeiten wür-
den auf diese Weise lückenlos dokumen-
tiert. Für die Wirtschaft würde sich der
Aufwand um rund 550 Millionen Euro
verringern, steht in dem Gesetz.
Viele Details zu dem neuen elektroni-
schen Krankschreibungssystem sind aller-
dings noch offen. Beispielsweise ist un-
klar, ob jede einzelne Kasse künftig Kran-
kenscheine zum Download bereitstellen
muss oder ob es ein gemeinsames Portal


geben wird, das alle Kassen und Arbeitge-
ber nutzen. Auch die konkreten Rechte der
Patienten sind in dem Gesetzentwurf noch
nicht definiert. Wenn ein Beschäftigter
mehrere Jobs hat, kann er zwar „gegen-
über der Krankenkasse die Sperrung des
Abrufs für einen oder mehrere Arbeitgeber
verlangen“, heißt es in dem Entwurf. Doch
inwiefern ein Arbeitnehmer selbst ent-
scheiden kann, welche seiner Daten sein
Chef über welchen Zeitraum abrufen
kann, muss noch festgelegt werden.
Vom Krankenkassenverband heißt es,
der Arbeitgeber habe mit dem neuen Ge-
setz lediglich den Anspruch, sich die Dauer
der Krankschreibung übermitteln zu las-
sen. Diagnosen würden nach wie vor nicht
weitergegeben.
Die Techniker Krankenkasse (TK) testet
bereits seit einem Jahr die elektronische
Krankschreibungen mit einem Pilotpro-
jekt in Schleswig-Holstein und Hamburg.
Dort können Beschäftigte der Uniklinik
Schleswig-Holstein und der TK selbst digi-
tale Krankenscheine nutzen. Der Spitzen-
verband der Kassen soll nun von Altmaier
beauftragt werden, das neue System zu ge-
stalten. Die Ministerien für Arbeit, Gesund-
heit, Landwirtschaft und die Bundesverei-
nigung der Deutschen Arbeitgeberverbän-
de sollen anschließend entscheiden dür-
fen, ob sie mit der technischen Umsetzung
einverstanden sind. Am Mittwoch kom-
mender Woche will Altmaier den Entwurf
dem Bundeskabinett vorlegen.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU)
hatte bereits in seinem Terminservicege-
setz, das seit Mai in Kraft ist, festgelegt,
dass Ärzte ab 2021 den Krankenkassen alle
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen über
die neue, sichere Telematikinfrastruktur
zuschicken sollen – also digital über ein
verschlüsseltes Ärztenetz. Damit würde zu-
mindest eine Aufgabe für die Patienten
wegfallen.
Zugleich haben Bürger bislang weiter-
hin das Recht auf einen gelben Schein in Pa-
pierform. Über diese neue Doppelarbeit be-
klagt sich die Kassenärztliche Bundesverei-
nigung: „Digitalisierung soll Arbeitsabläu-
fe vereinfachen, nicht zusätzliche Arbeit in
den Praxen schaffen“, sagt deren Sprecher.
Altmaier will mit seinem Gesetz nicht nur

Ärzte und Patienten, sondern auch andere
Teile der Wirtschaft von bürokratischen
Vorgaben befreien. Die Koalition hatte sich
darauf verständigt, vor allem für kleine
und mittelständische Unternehmen Ent-
lastungen von mindestens einer Milliarde
Euro zu liefern. Im Gegenzug sollen Paket-
boten künftig besser vor Ausbeutung ge-
schützt werden. Neben dem Kranken-
schein will Altmaier die Aufbewahrung

von elektronisch gespeicherten Steuerun-
terlagen erleichtern. Dokumente sollen
künftig statt bisher zehn nur noch fünf Jah-
re für die Finanzämter vorgehalten wer-
den müssen. Auch Doppelmeldungen zur
Berufsgenossenschaft sollen vermieden
und Statistikpflichten verringert werden.
Den Wirtschaftsverbänden gehen Alt-
maiers Pläne allerdings nicht weit genug.
Mittelstands-Präsident Mario Ohoven sag-

te, „bei jährlichen Bürokratiekosten von
50,2 Milliarden Euro“ seien lediglich Ein-
sparungen von 1,1 Milliarden Euro geplant.
Auch der Hauptgeschäftsführer des Bun-
desverband der Deutschen Industrie, Hol-
ger Lösch, ist unzufrieden. Er nannte die
Vorhaben „unzureichend“ und forderte
„größere Anstrengungen, um aus einer
analogen in eine digitale Verwaltung zu ge-
langen“.

New York– Zu den vielen Dingen, die Do-
nald Trump im Wahlkampf versprochen
hat, gehört die Zusage, dass sich die Staats-
schuld der USA unter seiner Führung ge-
wissermaßen in Luft auflösen werde. Fast
drei Jahre nach der Wahl kann man sagen:
Ganz so weit ist es noch nicht. Im Gegen-
teil: Weil Trump die Firmensteuern senkte
und die Ausgaben erhöhte, wird sich die
Verschuldung nach offiziellen Prognosen
bis 2028 nicht verringern, sondern auf fast
30Billionen Dollar vereineinhalbfachen.
Nun jedoch hat der Präsident eine neue
Idee präsentiert, wie sich zumindest die
Zinslast im Haushalt senken lässt, die rund
390Milliarden Dollar beträgt – pro Jahr.
Trump forderte die Notenbank Fed über
den Kurzmitteilungsdienst Twitter auf,
die Leitzinsen unverzüglich „auf null oder
darunter“ zu senken. Die Regierung könne
dann damit beginnen, auslaufende Staats-
anleihen mit hoher Verzinsung durch un-
verzinste neue Bonds mit deutlich länge-
rer Laufzeit zu ersetzen. Trumps Vorbild
ist dabei Deutschland. „Die USA sollten im-
mer die niedrigsten Zinsen bezahlen“,
schrieb er. Es sei allein der „Naivität“ der
Notenbank und ihres Chefs Jerome Powell
geschuldet, dass die US-Regierung nicht
das tun könne, was andere längst könnten.
Es ist nicht das erste Mal, dass Trump
die Fed zur Verletzung ihres Mandats gera-
dezu auffordert. Laut Gesetz besteht ihre
einzige geldpolitische Aufgabe darin, für
stabile Preise bei gleichzeitig möglichst ho-
her Beschäftigung zu sorgen. Nicht zu ih-
ren Pflichten zählt es dagegen, die Regie-
rung bei schuldenfinanzierten Steuersen-
kungen zu unterstützen. Auch die Europäi-
sche Zentralbank hat – anders als Trump
glaubt – ihre Leitzinsen nicht auf null ge-
senkt, um Deutschland eine günstigere
Kreditaufnahme zu ermöglichen, sondern
um Konjunktur und Inflation anzuheizen.
Trump ist es seit jeher ein Dorn im Au-
ge, dass die Fed unabhängig ist und ihm,
im Gegensatz zu anderen Behörden, nicht
zu Diensten sein muss. Unter seinen An-
hängern kursieren bereits Verschwörungs-
theorien, die Notenbank wolle die Wieder-
wahl des Präsidenten 2020 verhindern. Da-
bei spiegeln die, verglichen mit Europa, hö-
heren Leitsätze in den USA nur die bessere
Wirtschaftsentwicklung in den Vereinig-
ten Staaten wider. Trump jedoch sieht die-
se Zusammenhänge nicht. Es sei „eine ein-
malige Chance, die wir verpassen“, schrieb
er am Mittwoch, „wegen ein paar Dumm-
köpfen“. claus hulverscheidt

Abschied vom


Krankenschein


Die Bundesregierung will gelbe Zettel vom Arzt abschaffen.
Künftig sollen Krankmeldungen nur noch digital übermittelt
werden, vom Arzt zur Kasse und dann zum Chef

Die Unternehmen


sollen eine halbe Milliarde


Euro sparen


DEFGH Nr. 211, Donnerstag, 12. September 2019 (^) WIRTSCHAFT HF2 23
Der Krankenschein soll künftig elektronisch bei der Firma ankommen. FOTO: SINA SCHULDT / DPA
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Trump verlangt Null-Leitzins, um
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