Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
von björn finke

E


s ist eine Überraschung, aber eine
freudige: Margrethe Vestager
bleibt oberste Wettbewerbshü-
terin Europas. Die liberale Politikerin hat
in den vergangenen fünf Jahren als Wett-
bewerbskommissarin manchem Kon-
zern das Fürchten gelehrt und auch unbe-
queme Entscheidungen nicht gescheut.
Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen beförderte die Dänin verdienter-
maßen zur Exekutiv-Vizepräsidentin. So
weit, so erwartet. Unerwartet war hinge-
gen, dass Vestager gleichzeitig das Wett-
bewerbsportfolio behalten soll. Dies
macht die 51-Jährige zu einer der mäch-
tigsten Frauen in der europäischen Wirt-
schaft. Und es sendet ein ermutigendes Si-
gnal, dass sich bei Brüssels Wettbewerbs-
politik vermutlich nicht viel ändern wird.
Das ist auch gut so. Zuletzt ist die Ar-
beit der Kartellwächter in die Kritik gera-
ten, vor allem aus Deutschland und
Frankreich. Die Regierungen beider Län-
der sind erzürnt, dass Vestager die Fusi-
on des Eisenbahngeschäfts der Industrie-
konzerne Siemens und Alstom verboten
hat. Die EU befürchtet, der neue Gigant
hätte mit seiner Übermacht dem Wettbe-
werb in Europa geschadet. Die Deutsche
Bahn etwa hätte dann mehr für ihre Züge
zahlen müssen, aus Mangel an Konkur-
renzangeboten, und Fahrkarten wären
teurer geworden.
Berlin und Paris argumentieren hinge-
gen, dass der Kontinent europäische
Champions braucht, große marktbeherr-
schende Konzerne, weil diese besser im
Wettbewerb mit aggressiven Rivalen aus
China oder den USA mithalten können.
Die Regierungen sprechen sich daher für
weichere Regeln bei der Fusionskontrolle
aus; sie schlagen zudem vor, dass die Ver-
tretung der Mitgliedstaaten in Brüssel
Entscheidungen der EU-Wettbewerbsbe-
hörde aufheben kann.
Doch das ist der falsche Weg. Zwar soll-
ten Wettbewerbshüter berücksichtigen,
dass Märkte heute anders funktionieren
als noch vor zehn Jahren, dass neue staat-
lich gepäppelte Konzerne aus China eta-
blierten Unternehmen aus Europa kräf-
tig zusetzen. Das kann allerdings keine
Rechtfertigung dafür sein, schädliche Fol-
gen von Fusionen in EU-Staaten noncha-
lant zu ignorieren. Hebeln Firmen durch
einen Zusammenschluss den Wettbe-
werb in manchen europäischen Märkten
aus, können sie dort mehr verdienen, zu-
lasten der Verbraucher. Der schöne Geld-
segen mag beim Kampf gegen Rivalen
aus Fernost und den USA helfen, aber zu-
gleich macht ein Mangel an Wettbewerb
Manager träge – und er entmutigt Start-
ups, sich in dieser Branche zu versuchen:
Konkurrenz belebt das Geschäft. Vesta-
gers Aufstieg nährt die Hoffnung, dass
solch gefährliche Vorschläge aus Paris
und Berlin weiter keine Chance haben.

von björn finke

Brüssel– Einenruhigen Start wird die
neue EU-Kommission unter ihrer Präsiden-
tin Ursula von der Leyen nicht haben.
Stimmt das Europaparlament zu, treten
die Deutsche und ihre 26 Kommissare am


  1. November ihren Dienst in Brüssel an.
    Just an dem Tag könnte Großbritannien oh-
    ne Vertrag aus der EU krachen, und selbst
    wenn die Briten den anderen Europäern
    dieses Drama ersparen, steht in den kom-
    menden Monaten einiges Wichtiges an. Ei-
    ne Übersicht über die heiklen Themen –
    und die zuständigen Kommissare:


Phil Hogan, Handel


Der Ire ist bislang Agrarkommissar, über-
nimmt aber im November das Handels-
portfolio. Die britische Regierung will nach
dem EU-Austritt einen Handelsvertrag mit
Brüssel abschließen, damit keine Zölle
oder andere Hemmnisse Geschäfte über
den Ärmelkanal erschweren. Das fällt in
die Verantwortung des 59-Jährigen, der pi-
kanterweise die Brexit-Politik Londons
häufig scharf kritisiert hat. Eine Kostprobe
von Hogans Meinungsfreude erhielt auch
die US-Regierung. Kurz nach seiner Ernen-
nung durch von der Leyen am Dienstag
nannte der Ire die Handelspolitik von Präsi-
dent Donald Trump „leichtsinnig“.
Der Handelsstreit mit den Vereinigten
Staaten wird die erste große Herausforde-
rung für Hogan. Washington droht, Mitte
November Sonderzölle auf Autos und Auto-
teile einzuführen. Die EU würde darauf mit
eigenen Zöllen reagieren. Außerdem ste-
hen bis Jahresende zwei Entscheidungen
der Welthandelsorganisation WTO zu Sub-
ventionen für die Flugzeughersteller Boe-
ing und Airbus an. Das könnte weitere
Strafzölle zur Folge haben.
Zu allem Unglück wird das WTO-
Schiedsgericht von Dezember an wohl
nicht mehr arbeitsfähig sein, weil Trump
die Berufung neuer Richter blockiert. Der
Präsident hält nichts von der Idee, dass in-
ternationale Organisationen Urteile über
die mächtigen USA fällen können. Die EU
hingegen will die weltweite Handelsord-
nung – und die WTO als Streitschlichter in
dem System – verteidigen. Von der Leyen
sagte bei der Vorstellung der Kommission,
die EU solle „Hüter des Multilateralismus“
sein, also einer globalen Ordnung, die auf
Regeln und Zusammenarbeit beruht.
Kritik gibt es am Freihandelsvertrag
mit dem südamerikanischen Wirtschafts-
block Mercosur, weil Brasiliens Präsident
Jair Bolsonaro nicht genug gegen die Wald-
brände am Amazonas tut. Doch hiermit
muss sich Hogan nicht so bald herumschla-
gen. Bis Juristen die Details des Texts fest-
gezurrt haben und alles übersetzt ist, ver-
geht viel Zeit, mindestens bis Ende 2020.
Erst danach beschäftigen sich Ministerrat
und Europaparlament mit dem Vertrag.

Johannes Hahn, Haushalt


Für den Österreicher Johannes Hahn wird
der Start im neuen Job ebenfalls nicht
leicht. Der 61-Jährige ist für den EU-Haus-
halt zuständig, und mit – aber auch zwi-
schen – den Mitgliedstaaten stehen schwie-
rige Verhandlungen über den Finanzrah-
men für die Jahre 2021 bis 2027 an. Mit
Großbritannien fällt ein wichtiger Beitrags-
zahler weg; zugleich hat Kommissionsprä-
sidentin von der Leyen ein ehrgeiziges Pro-
gramm vorgestellt. Sie will den Kampf ge-
gen den Klimawandel verstärken, abge-
hängten Regionen helfen und Europa für
den digitalen Wandel rüsten. Klingt alles
schön, kostet jedoch.

Paolo Gentiloni, Wirtschaft


Der frühere italienische Premierminister
ist als neuer Wirtschafts- und Währungs-
kommissar unter anderem für den Euro-
Stabilitätspakt zuständig. Dabei schaut
ihm allerdings Exekutiv-Vizepräsident Val-
dis Dombrovskis über die Schultern; der
Euro und Finanzen bleiben Aufgabenge-
biet des Letten. Der Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt soll verhindern, dass Staaten zu
viele Schulden anhäufen. Ausgerechnet
Gentilonis Heimatland Italien steht hier un-
ter kritischer Beobachtung. Außerdem gilt
der Pakt als zu kompliziert und dringend
reformbedürftig. Dabei gab es gerade erst
ein Reförmchen beim politischen Rahmen
der Gemeinschaftswährung. Auf Wunsch
Frankreichs wurde ein Budgettopf für Eu-
ro-Staaten eingeführt, der Regierungen da-
bei unterstützen soll, die Wettbewerbsfä-
higkeit ihrer Wirtschaft zu stärken. Aber
beim Euro heißt es: Nach der Reform ist
vor der Reform – und der 64-jährige Genti-
loni muss die widerstreitenden Interessen
von Regierungen mit eher stark und eher
schwach ausgeprägter Haushaltsdisziplin
unter einen Hut bringen.

Sylvie Goulard, Binnenmarkt


Die französische Politikerin überwacht als
Binnenmarkt-Kommissarin, ob Mitglied-
staaten die Regeln des Binnenmarkts kor-
rekt anwenden oder ob es Hürden für Un-
ternehmen aus dem EU-Ausland gibt. Au-
ßerdem soll die 54-Jährige eine neue Indus-
triepolitik entwickeln, zusammen mit Mar-
grethe Vestager, der Exekutiv-Vizepräsi-
dentin für den digitalen Wandel. Die Kom-
mission will die Bedingungen für Unter-
nehmen verbessern und ihnen helfen, ge-
gen mächtige Rivalen aus China und den
USA zu bestehen sowie die Chancen der Di-
gitalisierung zu nutzen. Das klingt zu-
nächst nicht kontrovers, allerdings steckt
der Teufel im Detail: etwa bei der Frage, ob
und wie es chinesischen Staatskonzernen
erschwert werden sollte, sich an Ausschrei-
bungen zu beteiligen oder europäische Ri-
valen zu übernehmen.

Warschau– Ineinem Grundsatzurteil hat
der Europäische Gerichtshof (EuGH) Ent-
scheidungen der Bundesnetzagentur und
der EU-Kommission aufgehoben, die dem
russischen Gazprom-Konzern erlauben,
die in Nähe der deutsch-polnischen Gren-
ze verlaufende Gaspipeline Opal überwie-
gend zu nutzen. Der EuGH beschränkte
Gazprom auf maximal die Hälfte der Pipe-
linekapazität.
Der EuGH betonte in seinem Urteil zu-
dem die grundsätzliche Bedeutung von So-
lidarität im Energiebereich in der Europäi-
schen Union. Polen und die Ukraine feier-
ten das Urteil, das Russland faktisch zwin-
gen könnte, Erdgas weiterhin durch Polen
und die Ukraine zu transportieren. Das Ur-
teil könnte über den Einzelfall hinaus weit-
reichende Bedeutung für die Energiepoli-
tik in Europa haben. Gegenstand von Ver-
fahren T-883/16 war der Umgang mit der
Opal-Pipeline: Diese übernimmt in Greifs-
wald ebenfalls von Gazprom geliefertes
Erdgas aus der Ostseepipeline Nord Stre-
am 1 und transportiert es über 470 Kilome-
ter über Groß-Köris südlich von Berlin bis
zur Grenze mit Tschechien. Eigentlich müs-
sen nach EU-Recht Gaspipelines prinzipi-
ell allen Marktteilnehmer offen stehen, für
neue Pipelines können indes Ausnahmen
gelten.

Dies war bei der im Juli 2011 in Betrieb
gegangenen Opal der Fall: Gazprom und
seine deutschen Partnerunternehmen
BASF und E.ON Ruhrgas durften die Pipe-
line allein betreiben, sie allerdings nur bis
zur Hälfte der Kapazität von 36,5 Milliar-
den Kubikmeter befüllen. Gazprom hätte
die andere Hälfte für den Verkauf von Gas
an andere Händler nutzen können – den
EU-Vorgaben zufolge allerdings nur zu ei-
nem knapp über dem Herstellungskosten
liegenden Preis. „Darin hatte Gazprom
kein Interesse“, sagt ein Brancheninsider.
„Die zweite Hälfte haben sie lieber unge-
nutzt gelassen, als ihr Gas anderen zu ver-
kaufen.“
Gazprom verlangte indes weitere Kapa-
zitäten. Mit Erfolg: Im Mai 2016 informier-
te die zuständige Bundesnetzagentur die
EU-Kommission, sie wolle Gazprom erlau-
ben, auch über die Hälfte hinausgehende
Kapazitäten selbst zu nutzen. Ende Okto-
ber 2016 stimmte die EU-Kommission zu,

offenbar auch nach Lobbyarbeit der Bun-
desregierung. Zuletzt nutzte Gazprom
nach SZ-Informationen rund 85 Prozent
der Gesamtkapazität der Opal-Pipeline.
Der Verkauf von Gas durch Gazprom an an-
dere sei bei der Opal-Pipeline „auch heute
vernachlässigbar“, so ein Insider.
Die polnische Regierung befürchtete,
dass Gazprom nach der Stärkung seiner
Opal-Kapazität später weniger Gas durch
die durch Polen führende Jamal-Pipeline
weiter nach Deutschland exportieren wür-
de und Polen so Transitgebühren entgin-
gen. Zweites Bedenken: Polen könne nach
Ablauf eines eigenen Gasliefervertrages
mit Moskau 2022 weniger oder gar kein
Gas mehr bekommen, weil Gazprom es lie-
ber über Nord Stream und Opal direkt
nach Deutschland pumpen könnte. Auch
die Ukraine war besorgt, die durch die Brat-
erstwo-Pipeline bisher gegen Transitge-
bühren ebenfalls russisches Erdgas nach
Europa transportiert – und deren Vertrag
mit Gazprom zum 1. Januar 2020 ausläuft.

Polen verklagte die EU-Kommission An-
fang 2017 vor dem EuGH und verlangte,
das Gericht solle die Genehmigung für die
von der Bundesnetzagentur erlaubten hö-
heren Gazprom-Kapazitäten bei der Opal-
Pipeline aufheben. Warschau zufolge habe
die Kommission EU-Richtlinien zur Kon-
kurrenz auf dem Energiemarkt ebenso ver-
letzt wie das in Artikel 194 des EU-Vertra-
ges festgelegte Prinzip der Solidarität im
Energiebereich. Das Verfahren bekam wei-
tere Bedeutung, da sich die Bundesrepu-
blik auf Seiten der Kommission anschloss.
Am Dienstag hoben die fünf EuGH-Rich-
ter die Genehmigung der Kommission für
einen höheren Gazprom-Anteil an der
Opal-Kapazität mit sofortiger Wirkung
auf. Wichtig ist die Begründung: Das Ge-

richt stellte fest, dass entgegen von Be-
hauptungen der Kommission Beistands-
verpflichtungen im Energiebereich „nicht
auf Ausnahmesituationen“ wie Gasman-
gel durch Naturkatastrophen oder Terror-
anschläge beschränkt seien. „Im Gegenteil
begründet das Prinzip der Solidarität eine
generelle Verpflichtung auf Seiten der EU
und der Mitgliedsstaaten ... das Interesse
anderer Akteure zu berücksichtigen.“

Sowohl die Europäische Union wie Mit-
gliedsstaaten müssten Entscheidungen
vermeiden, die „die Versorgungssicherheit
oder wirtschaftliche oder politische Le-
bensfähigkeit“ anderer EU-Mitgliedsstaa-
ten beeinträchtigten. Zwar seien negative
Auswirkungen auf ein Land im Einzelfall
nicht zu vermeiden. Doch die Brüsseler
Kommission habe bei ihrer Opal-Genehmi-
gung 2016 weder den Grundsatz der Ener-
giesolidarität geprüft noch die Auswirkun-
gen auf die Versorgungssicherheit Polens.
Ebenso wenig habe die Kommission unter-
sucht, welche Folgen weniger Gas in den
Pipelines Jamal in Polen und Braterstwo in
der Ukraine für die Energiepolitik Polens
haben könnte.
Die Bundesnetzagentur forderte Gaz-
prom und seine Partner formell auf, das Ur-
teil umzusetzen und die Gazprom-Quoten
entsprechend zu reduzieren. Gazprom er-
klärte: „Wir untersuchen die juristischen
und wirtschaftlichen Folgen dieser Ent-
scheidung.“ Das polnische Außenministeri-
um erklärte das Urteil zum „großen Erfolg
Polens“. Energieminister Krzysztof Tchór-
zewski erklärte, Gazprom könne nun im
kommenden Winter kaum den Gastrans-
port durch die Ukraine einstellen. Jurij Wi-
trenko von der ukrainischen Gasgesell-
schaft Naftogas feierte das EuGH-Urteil
als „angenehme Überraschung“. Er hoffe,
es sei „ein Zeichen allmählichen Wandels
in Europas Einstellung gegenüber Gaz-
prom und Russlands Gebrauch von Gas als
Instrument politischen Einflusses“. Nafto-
gas verhandelt mit Gazprom am 19. Sep-
tember in Brüssel unter Beteiligung der EU-
Kommission über einen neuen Gas-Ver-
trag ab 2020. Bereits am 1. September un-
terschrieb die Ukraine einen Vertrag über
die Lieferung von US-amerikanischem
Gas, das über Polen in die Ukraine ge-
pumpt werden soll. florian hassel

München– DieErdgasförderung hat we-
gen der zunehmenden Erdbebengefahr kei-
ne Zukunft mehr in den Niederlanden, das
war seit Langem klar. Dass es nun aber so
schnell zu Ende gehen soll, ist eine Überra-
schung. Die Regierung wolle, dass die Häh-
ne schon in knapp drei Jahren, Mitte 2022,
komplett zugedreht würden, schrieb Wirt-
schaftsminister Eric Wiebe am Dienstag in
einem Brief ans Parlament. Nur wenn es be-
sonders kalt werde, wolle man auch da-
nach noch fördern. Das bisherige Zielda-
tum war 2030 gewesen. Und auch die noch
anstehende Förderung wird kräftig gedros-
selt, von geplanten 15,9 Milliarden Kubik-
meter im kommenden Jahr auf nur noch
11,8 Milliarden, knapp unterhalb des Ni-
veaus, das Experten als gerade noch ver-
tretbar bezeichnet hatten.
Hinter dem drastischen, für die Nieder-
lande auch wirtschaftshistorisch bedeutsa-
men Schritt steht die Angst vor immer hef-
tigeren Schäden für Umwelt und Men-
schen. Rund um die Provinzhauptstadt
Groningen bebt die Erde fast wöchentlich
mehr oder weniger stark, der Boden sinkt
immer weiter ab, Türrahmen verziehen,
Wände bekommen Risse. Unter den Bewoh-
nern der Provinz Groningen, die um ihr Ei-
gentum und sogar um ihr Leben fürchten,
hat sich in den vergangenen Jahren eine
Protestbewegung entwickelt, die die nie-
derländische Regierung nicht mehr über-
hören konnte. Zunächst sollte die Förde-
rung nur stark reduziert werden, doch das
Aus ließ sich nicht vermeiden, nicht zuletzt
weil immer mehr Hausbesitzer Entschädi-
gungen forderten und das Problem damit
für die Behörden unüberschaubar zu wer-
den drohte.

Das Land nimmt schweren Herzens Ab-
schied vom Gas. 1959 war in der Gemeinde
Slochteren bei Groningen das größte Erd-
gasfeld der EU und das zehntgrößte der
Welt entdeckt worden, ein unerhoffter
Quell des Reichtums. Die Niederlande wär-
men damit die heimischen Herde und belie-
fern Frankreich, Belgien und Deutschland,
wo etwa zehn Millionen Menschen und vie-
le Unternehmen niederländisches Gas ver-
brennen. Knapp 300 Milliarden Euro flos-
sen direkt in den Staatshaushalt.
Warnungen vor den Folgen der Förde-
rungen gab es seit Ende der Achtzigerjah-
re, als der Geograf Meent van der Sluis auf
die mögliche Beziehung zwischen der Gas-
förderung und Bodenschäden in der Regi-
on aufmerksam machte. Er wurde belä-
chelt, die Wende brachte 2012 ein Beben
von der Stärke 3,6 auf der Richterskala. Ein
Jahr später bestätigte die staatliche Berg-
bauaufsicht, dass ein „linearer Zusammen-
hang“ zwischen Fördermenge und Häufig-
keit der Beben bestehe und empfahl, die
Produktion zu drosseln: „so schnell und so
stark wie möglich und realistisch“.
Das Gas aus Groningen wird durch im-
portiertes Gas aus Norwegen oder Russ-
land ersetzt. Das geht nicht ohne Weiteres.
Das niederländische Gas istlow calorific,
es hat einen niedrigeren Brennwert als die
Ware aus Nord- und Osteuropa. Um weiter-
hin „Pseudo-Groningen-Gas“ verwenden
zu können, wird dem importierten H-Gas
(high calorifi c) Stickstoff zugeführt. Dies
soll in einer neuen Fabrik in Zuidbroek ge-
schehen.
Das Förderkonsortium unter Führung
von Shell und Exxon Mobil erhält Aus-
gleichszahlungen. thomas kirchner

Schwieriger Start


Aufdie Mitglieder der neuen EU-Kommission warten Ende des Jahres große Herausforderungen:
Brexit, der Handelsstreit mit den USA, der Haushalt, die Zukunft des Euro. Das Team bekommt keine Schonfrist

KOMMENTAR

Lieber keine


Champions


Die neueWettbewerbskommissarin ist die alte: Margrethe Vestager steigt im Kabinett
von Ursula von der Leyen zur Exekutiv-Vizepräsidentin auf. FOTO: FRANCISCO SECO/AP

Rückschlag für Gazprom


EU-Gericht: Konzern darf wichtige Pipeline nicht alleine nutzen. Polen und Ukraine feiern


Ostsee

POLEN

LITAUEN

LETTLAND

ESTLAND

FINNLAND

SCHWEDEN

DEUTSCHLAND

RUSS-
LAND

Greifswald/
Lubmin

Olbern-
hau

Wyborg

Ust-Luga

200 km

Nord Stream
Betrieb seit 2011
Nord Stream 2
Bau gestartet; Inbetrieb-
nahmeEnde 2019 geplant
OPAL

SZ-Karte/Maps4News

Runter vom Gas


Die Niederlande fördern überraschend schnell kein Erdgas mehr


Wiesbaden– Befristete Beschäftigung
ist nach neuen Zahlen des Statistischen
Bundesamtes weit verbreitet, obwohl
Arbeitnehmer die Zeitverträge häufig
eher ungern unterschreiben. Im
Jahr 2018 waren 2,7 Millionen Men-
schen von 25 Jahren an befristet be-
schäftigt. Das entspricht acht Prozent
aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, wie die Statistikbehörde mitteilte.
Rund 1,5 Millionen Beschäftigte hatten
einen Arbeitsvertrag mit einer Laufzeit
von weniger als einem Jahr (55,5 Pro-
zent). In jedem fünften Fall betrug die
Befristung ein bis unter zwei Jahre, bei
weiteren 12,6 Prozent zwei bis unter
drei Jahre. Von den befristet Beschäftig-
ten gab jeder Dritte (34,1 Prozent) an,
ein befristetes Arbeitsverhältnis nur
eingegangen zu sein, weil er keine Dau-
erstelle gefunden hat. Diese sogenannte
unfreiwillige Befristung ist im höheren
Alter weiter verbreitet. epd


Berlin– Trotz der Konjunkturflaute ist
die Zahl der Firmenpleiten in Deutsch-
land im ersten Halbjahr gesunken. Sie
nahm um 3,7 Prozent zum Vorjahreszeit-
raum auf 9604 ab, wie das Statistische
Bundesamt mitteilte. 2018 mussten so
wenige Unternehmen wegen Überschul-
dung oder Zahlungsunfähigkeit den
Gang zum Insolvenzrichter antreten
wie seit 1999 nicht mehr. Mit der Kon-
junkturabkühlung steigt aber das Risi-
ko, dass die positive Tendenz enden
könnte, denn Deutschland droht eine
Rezession. Die meisten Unternehmens-
insolvenzen gab es im ersten Halbjahr
mit 1653 Fällen im Wirtschaftsbereich
Handel, wozu auch Instandhaltung und
Reparatur von Kraftfahrzeugen zählen.
Im Baugewerbe wurden 1586 Insolvenz-
anträge gestellt, im Gastgewerbe 1143
sowie im Bereich der freiberuflichen,
wissenschaftlichen und technischen
Dienstleistungen 1032. reuters


Hannover– Der Geflügelfleisch-Markt-
führer Wiesenhof will Insektenmehl an
seine Tiere verfüttern und so den Soja-
anteil im Futter senken. „Unser Ziel ist
es, künftig auf den Zusatz von Soja in
unserem Geflügelfutter so weit wie
möglich zu verzichten“, sagte der Chef
des Wiesenhof-Mutterkonzerns PHW,
Peter Wesjohann. In Protein aus Insek-
ten sehe das Unternehmen eine geeigne-
te Alternative. Bisher ist die Nutzung
von Insektenmehl im Tierfutter wegen
EU-Vorgaben aus der Zeit der BSE-Kri-
se um die Jahrtausendwende untersagt.
Über seinen kanadischen Partner Enter-
ra beantragte PHW daher bei der EU-
Kommission eine Zulassung von Insek-
tenmehlen in Geflügel- und Schweine-
futter. Er appelliert an die EU, mög-
lichst schnell die Fütterung von Insek-
tenmehlen in der europäischen Tierhal-
tung zu erlauben. dpa


Braunschweig– Kurz vor dem Anlau-
fen der Zuckerproduktion in Nieder-
sachsen warnt der Landesbauernver-
band vor den Auswirkungen einer
schwachen Saison. „Eine weitere
schlechte Rübenernte nacheinander
wäre fatal“, sagte der Vizepräsident des
Landvolks, Ulrich Löhr. Nach dem hei-
ßen und trockenen Sommer hatte das
Landesamt für Statistik gravierende
Einbußen verbucht. Bei Zuckerrüben
(FOTO: DPA)betrug das Minus knapp zehn


Prozent. „Wir hoffen jetzt auf ein Ergeb-
nis, das es sowohl Erzeugern als auch
Verarbeitern ermöglicht, hier dauerhaft
regional Zucker zu erzeugen“, sagte
Löhr. „Dafür bräuchten wir aber kurz-
fristig auf jeden Fall ergiebigen Landre-
gen“, sagte er. Der Zeitraum, in dem die
Rüben in den Fabriken zu Zucker verar-
beitet werden, dauert in der Regel von
Mitte September bis Januar. dpa


Düsseldorf– Der Pharma- und Spezial-
chemiekonzern Merck sieht sich bei
seinen Zielen auf Kurs. In den kommen-
den Jahren strebt der Dax-Konzern in
allen Unternehmensbereichen profitab-
les Wachstum an. Auch das zuletzt
schwächelnde Spezialchemiegeschäft
liege bei der Transformation im Plan,
teilte das Darmstädter Unternehmen
mit. Von 2020 an sei in der Sparte im
Durchschnitt mit einem organischen
Umsatzplus von zwei bis drei Prozent zu
rechnen. Dabei soll Merck auch eine
Erholung des Halbleitermarkts zugute-
kommen. Positive Signale gab es zudem
von der US-Arzneimittelbehörde FDA.
Die Aufseher erteilten dem Wirkstoff
Tepotinib zur Behandlung von Lungen-
krebs den sogenannten Status „Break-
through Therapy“. Damit beschleuni-
gen sich die Überprüfungen zur Zulas-
sung.reuters


Die Richter betonen
die Solidarität
in Europa

Das Urteil ist auch eine
Niederlage für EU-Kommission
und Bundesregierung

DEFGH Nr. 211, Donnerstag, 12. September 2019 (^) WIRTSCHAFT HF2 25
Risse im Haus: In der Provinz Groningen löste die Erdgasförderung Erdbeben aus.
Viele Einwohner drängten daher auf den Ausstieg. FOTO: CATRINUS VAN DER VEEN/DPA
Viele arbeiten befristet
WenigerFirmeninsolvenzen
Insektenmehl bei Wiesenhof
Schlechte Rübenernte
Merck sieht sich auf Kurs
KURZ GEMELDET

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