Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1

DEFGH Nr. 211, Donnerstag, 12. September 2019


REISE


RigRRigRigRRRigRRRigigigigiggggggiiii

StaSStannssssss

GerGeGerGerGerGerGerGerssausausausausssausausausau

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LuLLLuLuLLLuzuzzzzzzzzzzerneeererern

SaSarSaSaSaSaaraarrrrrrrrnenenennennneneeeen

Luzern

Nidwalden
Obwalden

Uri

Bern

Vierwald-
stättersee

10 km
SZ-Karte: Mainka/Maps4News

Titlis
3238 m

Titlis
3238 m

Engelberg

Bannalp

Diegisbalm Kreuzhütte

Wolfenschiessen

Oberrickenbach

Zuflucht im Sumpf
Jaguare sind eine Attraktion in Brasilien.
Nunsteht ihr Lebensraum in Flammen 31

Stadt der Möglichkeiten
Eine Milliardärin lässt in Arles
dieKunstszene aufleben 30

von hans gasser

W


enn Bethli Töngi den lau-
ten Signalton über den Hof
schallen hört, dann muss
sie alles stehen und liegen
lassen. Die 83-Jährige, von
allen nur „das Bethli“ genannt, geht dann
in ihrer Kittelschürze zügigen Schrittes
aus der Küche, einmal ums holzverkleide-
te Haus herum und hinein in die Steue-
rungszentrale. Dort nimmt sie den Hörer
ab, horcht kurz und sagt: „Chasch ii-
steiga!“ – du kannst einsteigen. Dann
drückt sie einen Knopf und setzt sich in
den alten Wohnzimmersessel, der neben
dem Feuerlöscher der einzige Einrich-
tungsgegenstand in dem kleinen Raum ist.
Sie wartet, bis die blaue Seilbahnkabine in
die Station einfährt, die eine etwas größere
Garage an ihrem Bauernhaus ist, steigt
drei Stufen auf ein hölzernes Podest und
öffnet die Kabinentür. Die Wanderer stei-
gen aus, drücken ihr je neun Franken, was
etwa acht Euro entspricht, in die Hand und
gehen ihres Weges.
„Ich bin im Sommer von sieben Uhr mor-
gens bis acht Uhr abends im Dienst“, sagt
Frau Töngi. Das „Bähnli“ fahre fast immer,
außer bei zu starkem Wind, Gewitter oder
im Winter bei Lawinengefahr. Manchmal
müsse sie die Leute vor sich selbst schüt-
zen. Als vergangenen Winter an einem Tag
mit Schneetreiben und hoher Lawinenge-
fahr zwei Tourengeher heraufwollten, ha-
be sie ihnen trotz hartnäckigen Beharrens
gesagt: „Mir fahret eifach nüt.“ Basta.
Bethlis Bahn ist eine von etwa
30 Kleinstseilbahnen im Kanton Nidwal-
den, der so ziemlich im geografischen Zen-
trum der Schweiz liegt. Wer durch das
grüne Engelbergertal fährt, hat das Ge-
fühl, dass alle zwei Kilometer irgendwel-
che Drahtkabel in die Höhe gespannt sind.
Es geht hier tatsächlich fast überall steil
bergauf, und man kann gut verstehen,
dass die erfindungsfreudigen Schweizer
schon vor 100 Jahren anfingen, Material-
und Personenseilbahnen zu ihren Bergbau-
ernhöfen und Almen zu bauen. Schließlich
mussten sie sonst zu Fuß gehen und schwe-
re Lasten hinauftragen. Die ersten Bahnen
wurden mit Wasserkraft betrieben, und
zwischen lebender Fracht und Material


wurde nicht unterschieden. Der Fahrgast-
raum bestand aus einer nicht besonders
hohen Holzkiste. Immer wieder passierten
da natürlich Unfälle. Eine dieser alten Seil-
bahnen gibt es noch oben auf der Bannalp,
einer Bilderbuchalm mit grünen Matten,
aus denen sich Felsberge erheben wie spit-
ze Eckzähne, drumherum wiederkäuende
Kühe, Almhütten und als Zugabe noch ein
grünblauer See. Natürlich darf man heute
mit dieser Holzkiste keine Touristen mehr
transportieren, aber sie ist noch immer gut
für Brennholz, Lebensmittel und andere
Dinge, die auf der weiter oben gelegenen
Alm gebraucht werden. Auf die Bannalp
selbst führt eine kleine Kabinenbahn, die
sogar einen Fahrkartenschalter besitzt,
der von rot-weiß-karierten Vorhängen ge-
rahmt wird und ein bisschen wie eine Kas-
perlbühne aussieht.
Weil die Tourismusmacher in Engel-
berg erkannt haben, dass die vielen Bau-
ernseilbahnen eine Besonderheit sind, ha-
ben sie eine Rundtour ersonnen und sie
„Buirabähnli-Safari“ genannt: In drei Ta-
gen und unter Zuhilfenahme von neun
Bauernbahnen führt sie rund um das En-
gelbergertal, auf aussichtsreichen Pfaden
über viele Almen und oft mit Blick auf den

Titlis. Der vergletscherte Dreitausender ist
der Brot-und-Butter-Berg des ganzen
Tals. Auf ihn führen eine Umlaufbahn und
eine verglaste, rotierende Pendelbahn.
Man hat sich hier schon früh auf indische
und asiatische Touristen spezialisiert, die
einmal im Leben Schnee und Eis erleben
wollen. Die Fahrt hin und zurück kostet 92
Franken (84 Euro), im Restaurant wird in-
disch gekocht, und über den Gletscher kön-
nen die Gäste auf aufgeblasenen Schläu-
chen rutschen. Das Geschäft brummt.
Die Buirabähnlis sind das Kontrastpro-
gramm zum Titlis und deshalb vor allem
bei Einheimischen beliebt. Eine einfache
Fahrt auf eine Almhütte, in der man dann
Selchfleisch und Ziegenkäse zu essen be-
kommt, kostet zwischen fünf und neun
Franken. Oben auf der Bannalp, über der

Kreuzhütte, ist Ueli Schmitter gerade da-
bei, seine Kühe von einer Wiese, die sie
abgefressen haben, auf die nächste zu trei-
ben. Schmitter ist so etwas wie die Fleisch-
werdung der Bauernbahn. Er ist Präsident
des Verbands der Kleinseilbahnen, den er
vor zwei Jahren selbst gegründet hat. „Ge-
gen Behördenwillkür“, wie er sagt. Die woll-
ten die alten Seilbahnen aus Sicherheits-
gründen am liebsten abbauen oder kom-
plett neu machen lassen, was sich aber
kein Bauer leisten könne. „Die sagen, die
sind alt und deshalb nicht mehr sicher.
Aber das stimmt nicht“, so Schmitter.
„Wenn man sie gut instand hält und alles re-
pariert, sind sie sehr sicher.“
Er hilft deshalb über den Verband den
Bauern, wenn sie Schwierigkeiten haben.
Wenn zum Beispiel die Steuerung kaputt
geht, wie das bei der urigen Spiesbahn der
Fall war. In deren oberer Sektion sitzen die
Fahrgäste immer noch in einer halb
offenen Kabine, ein schönes Abenteuer vor
allem für Familien mit Kindern. Doch nun
hätte eine neue Steuerungseinheit
500000 Franken gekostet, viel zu viel für
die Bauersfamilie. Eigentlich wäre es das
Ende der Bahn gewesen. Aber Schmitter,
der früher Seilbahnmonteur war und von
dessen Berghof Brändlen eine kleine gift-
grüne, von ihm gewartete Seilbahn die ein-
zige Verbindung zum Tal ist, wollte sich da-
mit nicht abfinden. So hat er zusammen
mit einer kleinen Firma ein Steuerungsmo-
dul entwickelt, das nur 80 000 Franken
kostet – „und funktioniert“, wie er stolz
sagt. Die Behörden sehen das anders und
haben vorerst nur eine provisorische Be-
triebsgenehmigung erteilt – auf unbe-
stimmte Zeit. Immerhin, die Bahn fährt.
Ein bisschen mussten die Behörden
auch dem Druck aus der Bevölkerung nach-
geben, sagt Schmitter. Denn die Mehrheit
der Einwohner des Kantons wolle diese
Bahnen behalten. Zwar führten auf viele Al-
men auch Straßen hinauf, doch die sind
meist gesperrt für die Autos der Wanderer.
Mit den Buirabähnlis kommen sie für
wenig Geld in kürzester Zeit 500, 600 Hö-
henmeter hinauf auf die Almen, dort, wo
die schönsten Wanderwege entlanggehen.
Zum Beispiel der Walenpfad. Der führt von
der Bannalp in etwa vier Stunden um die
felsigen Walenstöcke herum. Der Pfad ist

schmal, teilweise etwas ausgesetzt, dafür
hat man schönste Ausblicke, nicht nur auf
den Bannalpsee, sondern bis zum Vierwald-
stättersee und schließlich zu den Glet-
schern unter den dolomitenartigen Tür-
men der Zwillingsberge Gross und Chli
Spannort. Es kann sein, dass auf dem Steig
plötzlich Gegenverkehr entsteht, aller-
dings nicht so sehr von Wanderern, die
sich hier gut verteilen, sondern von
schwarz-weißen Ziegen, die auf dem Weg
zu besseren Fressgründen oben unter den
Felsen sind. Man geht dann einen Schritt
zur Seite und wartet, bis die glöckchenklin-
gelnde Prozession vorbei ist.

Die Ziegen gehören Rita und Sepp Wa-
ser, die den ganzen Sommer auf der schö-
nen Alp Oberfeld leben. „Das sind Pfauen-
ziegen, eine bedrohte Nutztierart“, sagt
Rita Waser, die gerade dabei ist, in einem
großen Kupferkessel über offenem Feuer
Milch zu erwärmen, um Käse zu machen.
Sie schüttet den Käsebruch mit der Molke
in Formen, die Molke läuft unten ab, wird
in großen Milchkannen gesammelt und
dann den zwei Schweinen verfüttert, hier
„Alpsäuli“ genannt. Als wollte sie das Heidi-
Klischee, das hier ja kein Klischee ist,
durchbrechen, sagt Rita Waser: „Wir sind
hier nur ein Nischenprodukt von Engel-
berg.“ Der ganze asiatische Tourismus
dort, na ja, er bringe schon Arbeitsplätze,
aber so ganz sei das ihre Sache nicht. Ob
die Inder denn auch zu ihr kämen, um
Käse und Selchfleisch zu essen? „Nein,
denn da müsste man ja trotz Bahn ein
Stück zu Fuß gehen.“ Ob sie nie überlegt ha-
be, statt wildem Schnittlauch etwas Curry
in ihren Rohmilch-Ziegenkäse zu mi-
schen? „So weit kommt es sicher nicht“,
sagt sie entschieden.
Auf der Buirabähnli-Safari begegnet
man nicht wenigen solcher Bergler-Na-
turen, die einen eigenen Kopf haben und
mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg
halten. Walter Arnold etwa, ein Mann im
blauen Flanellhelm, mit Filzhut und Stock.
Er stammt aus Zug, ist hier im Urlaub und

gerade dabei, mit der kleinen Bahn von Die-
gisbalm hinauf zum „Oberalp-Toni“ zu fah-
ren. Der hat da oben seine Alm, auf der
Arnolds Familie früher ihre Kühe „gesöm-
mert“ hat, nun wolle er den mal wieder be-
suchen. Nicht, ohne vorher zu erzählen,
was früher mit den Kisten-Bahnen alles
passiert ist. Sie seien ungebremst in die Sta-
tionen gekracht oder aus dem Tragseil ge-
sprungen: „Dadurch sind sie stark ge-
kippt, hingen nur noch am Zugseil, und die
Insassen hat es aus der Kiste geschmissen


  • so auch den Vater vom Oberalp-Toni.“
    Spricht es, steigt in die relativ moderne Ka-
    bine und entschwebt.
    Die heutigen, zuverlässig wirkenden
    Bauernbahnen, für die es einen Block mit
    neun Fahrkartenstreifen zu kaufen gibt,
    nutzt man nicht nur zum Hinauf-, son-
    dern, noch besser, auch zum Hinunterfah-
    ren, um sich Muskelkater und Knieproble-
    me zu ersparen. Die Bergstationen sind oft
    ziemlich gut als Heustadel getarnt; wenn
    Kabel herausführen und auf dem Stadel-
    holz ein kleines Schild mit „Luftseilbahn“
    angebracht ist, ist man aber richtig.
    Manche Bahnen, wie die von Bethli Tön-
    gi, sind bedient, das heißt, Hörer abneh-
    men, Knopf drücken und sagen, man
    möchte runterfahren. Andere sind automa-
    tisiert. Man braucht nur einsteigen, die
    Tür zuschieben und auf den grünen Knopf
    drücken, los geht’s. In der Station steht ei-
    ne Kasse bereit, in die man das Fahrgeld
    wirft.
    Aber die meisten der Bahnen, daran er-
    innert der passionierte Seilbahner Ueli
    Schmitter, sind nicht zuallererst touristi-
    sche Einrichtungen, sondern Erschlie-
    ßungswege für die Bergbauernfamilien.
    Mit den Gleitschirmfliegern und Wande-
    rern schaffe man es deshalb im besten Fall,
    die laufenden Kosten zu decken, verdient
    sei damit aber nichts. Das sei auch nicht nö-
    tig. Denn seine fünf Kinder vom Hof Bränd-
    len sind damit in die Schule oder zur Arbeit
    ins Tal gefahren, so wie er auch schon. So-
    mit sei das Tragseil auch ein „Bildungs-
    weg“. Und nicht nur das. Für Kühe, die zum
    Schlachter müssen, kann Schmitter eine ei-
    gene Kuhgondel einhängen. „Und wenn du
    als Junger hier eine Frau kennenlernen
    willst, musst du auch ziemlich oft mit der
    Bahn rauf- und runterfahren.“


Die Alten erinnern sich noch
daran,wie gefährlich die
Fahrten früher waren

Bethlis Bahn


Auf und ab, so wie das Leben: Mit kleinen, von Bauern betriebenen Seilbahnen kann man als Wanderer im Engelbergertal


viele Höhenmeter sparen – doch sie haben noch eine viel wichtigere Funktion


Ziegenkäse und Selchfleisch
statt Reismit Curry. Auf den
Almen gibt es Selbstgemachtes

Zwischen Angst und
Gaudi: An die halb offene
Spiesbahn kommt noch ein
Gitter, damit die Kinder
nicht rausfallen.
Bei manchen Bähnlis
muss man selbst den Start-
knopf drücken. Andere
werden bedient, etwa von
der 83-jährigen Bäuerin
Bethli Töngi, die von früh
bis spät im Dienst ist und
die Wanderer sicher hoch
und runter fährt. Der
Blick auf der „Buirabähnli-
Safari“ reicht bis zu hohen
Bergen wie dem Titlis.
FOTOS: HANS GASSER

Anreise:Mit der Bahn über Luzern bis Wolfenschies-
sen,von dort Busverbindung nach Oberrickenbach,
guter Einstiegsort in die „Buirabähnli-Safari“.
Unterkunft:Z. B. in der Kreuzhütte auf der Bannalp,
direkt an der Bergstation der Seilbahn, ÜN im Betten-
lager für Selbstversorger 35 Franken (ca. 32 Euro), mit
Halbpension 85 Franken (ca 78 Euro), berghof.ch
Im Tal: Hotel Bellevue Terminus in Engelberg, DZ mit
Frühstück für ca. 200 Euro, bellevue-terminus.ch
Buirabähnli-Safari:Die Rundwanderung dauert ge-
mütlich drei Tage, es gibt einen ermäßigten Buira-
bähnlipass (9 Fahrten, 47 Franken) und eine Karte da-
zu im Tourist-Center in Engelberg, alle Informationen
unter engelberg.ch; allgemein: myswitzerland.com
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