Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1

Ü


ber den Entwurf für das Museum
des 20. Jahrhunderts am Berliner
Kulturforum wurde viel diskutiert,
als die Architekten Herzog & de Meuron
ihn 2016 vorstellten. Nur um eines ging es
damals nicht, die Kosten. 200 Millionen
Euro, mehr nicht, lautete die Ansage. Das
wird sich ändern, wenn Kulturstaatsmi-
nisterin Monika Grütters am Montag im
Haushaltsausschuss erstmals neue Zah-
len vorlegt. Weit mehr als 400 Millionen
werde der Bau verschlingen, erwartet
man, am Ende könnten es 600 werden.
Städtebau und Baukunst und natürlich
die Kunst, die in dem neuen Museum an
der Potsdamer Straße endlich mehr Platz
bekommt, sollten dem Staat viel Geld


wert sein. Doch das heißt nicht, dass jedes
Projekt durchgewinkt werden muss.
Wie sich die Kosten noch vor Baube-
ginn mehr als verdoppeln konnten, das ist
die eine Frage. Die andere betrifft Berlin
allgemein: Während dort an jeder Ecke
ein neues Museum gebaut wird, verfallen
die vorhandenen Häuser, weil das Geld
für den Unterhalt fehlt. Noch dringender
fehlen aber Ideen, Konzepte und herausra-
gende Ausstellungen. Kein Wunder, dass
etwa das Pariser Centre Pompidou im
Jahr fast so viele Besucher hat wie alle Ber-
liner Museen zusammen. Politiker und
Funktionäre lieben Neubauten. Doch wer
glaubt, sie könnten kulturelles Leben er-
setzen, täuscht sich. jörg häntzschel

Seinen wohl größten Publikumserfolg hat-
te der Parlamentarier Shinjiro Koizumi
vor etwa vier Wochen bei einem Verlautba-
rungstermin vor der japanischen Staats-
kanzlei. Um Politik ging es dabei nicht,
schon gar nicht um Umweltpolitik, die
Koizumi künftig als neuer Ressortchef im
Kabinett von Premierminister Shinzo Abe
betreuen darf. Zusammen mit der Nach-
richtensprecherin Christel Takigawa ver-
kündete der 38-Jährige das Ende seiner
Junggesellenzeit. Die Heirat sei beschlos-
sen, ein Kind unterwegs. Es folgte eine
sehr ausführliche Berichterstattung, die
Koizumi als letzte Bestätigung deuten
konnte: Ich bin wirklich wer in Japan.
Gut möglich, dass Shinzo Abe manch-
mal etwas neidisch auf Shinjiro Koizumi
schaut, weil der so beredt, begehrt und un-
verbraucht ist. Ganz anders als er, der
zwar seit sieben Jahren Wahl um Wahl ge-
winnt, aber mit seiner etwas tapsigen Art
und erzkonservativen Haltung eher für
die graue Seite der Politik steht. Shinjiro
Koizumi ist die Zukunft, genauso wie sein
Vater einst die Zukunft war, der extrover-
tierte, gewandte Junichiro Koizumi, der
von 2001 bis 2006 regierte und seinerzeit
einen halbwegs stabilen parteiinternen
Frieden in die konservative LDP brachte.
Koizumi senior hat einst Abe gefördert.
Jetzt fördert Abe den Junior, indem er ihn
am Mittwoch bei seinem Kabinettsum-
bau berücksichtigt hat. Shinjiro Koizumi
ist damit zu einem der jüngsten Minister
der japanischen Geschichte aufgestiegen,
was man in Japan aber sicher nicht ganz
so sensationell findet wie die Verlobung
mit der Fernsehfrau Takigawa. Denn dass
Koizumi bei seinen Umfragewerten und
seinem Stammbaum Karriere machen
wird in der japanischen Politik, ist schon

lange klar. Viele sehen in ihm den Premier
der Zukunft.
Shinjiro Koizumi wirkt ziemlich souve-
rän in der Rolle des leitenden Staatsjapa-
ners. Auf Eigenständigkeit legt er Wert.
„Ich mache es nicht wie mein Vater“, sagt
er. Innerhalb der LDP gehört er zu keiner
der Fraktionen, welche die Partei immer
noch spalten. Er hat auch Shinzo Abe
schon widersprochen, weil er anders als
dieser eine Verfassungsänderung zur Stär-
kung der japanischen Verteidigungskräf-
te für nicht so wichtig hält. „Die Men-
schen interessieren andere Dinge“, hat er
auf seinen Reisen durchs Land festge-

stellt. Bevölkerungsrückgang und altern-
de Gesellschaft sieht er als Japans härtes-
te Herausforderungen. Zuwanderung ist
für ihn ein Gebot, um den Arbeitskräfte-
mangel zu beheben.
Aber im Grunde ist auch Shinjiro Koizu-
mi nur ein weiterer sehr japanisch den-
kender Konservativer. Japan sieht er als
prägende Kraft im Verhältnis Europa-Asi-
en-Amerika. Lösungen für die Zukunft ha-
ben für ihn vor allem mit Hightech zu tun.
Eine moralische Erneuerung, die Japan
im eskalierten Streit mit dem einst besetz-
ten Nachbarn Südkorea helfen könnte,
scheint er nicht im Sinn zu haben. Und
jetzt dient er erst einmal als gehorsamer
LDP-Soldat, denn Abe hat ihn ja nicht
zum Spaß ins männerdominierte Kabi-
nett geholt. Koizumi soll Abes Politik
sympathischer aussehen lassen. Das Um-
weltministerium selbst interessiert den
Premier eher weniger.
Und Shinjiro Koizumi? Er ist Profipoliti-
ker, vielfältig einsetzbar. Er hat an der Co-
lumbia-Universität in New York Politik-
wissenschaften studiert, sich früh als
Wahlkämpfer bewährt und sitzt seit 2009
im Unterhaus. Nach dem Erdbeben samt
Tsunami im Jahr 2011, das zur dreifachen
Kernschmelze im Atomkraftwerk Fuku-
shima führte, wurde sein Vater zum Kern-
kraftgegner. Shinjiro nicht, auch wenn er
sich sehr mit dem Wiederaufbau der Fu-
kushima-Region befasst. Umweltaktivis-
ten wissen nicht, was sie von ihm zu erwar-
ten haben. „Trotzdem ist er vielleicht eine
Chance“, sagt Kimiko Hirata, Direktorin
eines gemeinnützigen Umweltnetzwerks.
Koizumis Popularität könnte das Interes-
se auf das Thema Klima- und Natur-
schutz lenken, das in Japan bisher wenig
Aufmerksamkeit findet. thomas hahn

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MITGLIED DER CHEFREDAKTION, DIGITALES:
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von hubert wetzel

E


s ist kein Verlust, dass John Bolton
nicht mehr Sicherheitsberater des
Präsidenten der Vereinigten Staa-
ten ist. Bolton ist einer jener konservati-
ven, patriotischen Politiker, die sich einst
davor gedrückt haben, in den Krieg nach
Vietnam zu gehen, deren Markenzeichen
es später dann aber unter anderem war,
dass sie sehr nonchalant darüber zu plau-
dern wussten, in welche Kriege man ande-
rer Leute Kinder schicken könnte. Wo im-
mer Bolton ein Problem in der Welt sah,
erschien es ihm als Nagel, auf den Ameri-
ka den Hammer seines Militärs nieder-
sausen lassen sollte. Ginge es nach Bol-
ton, dann befänden sich die USA in die-
sem Moment vermutlich sowohl mit
Nordkorea als auch mit Iran in einer mili-
tärischen Konfrontation.
Insofern sollte man Donald Trump,
der ja nicht viel Lob abbekommt oder ver-
dient, in diesem Fall zu einer guten Ent-
scheidung gratulieren: Nicht auf John Bol-
ton zu hören, als dieser noch Ratschläge
im Weißen Haus gegeben hat, war rich-
tig; ihn rauszuwerfen, war es auch.
Eine ganz andere Frage ist, was daraus
für die amerikanische Außen- und Sicher-
heitspolitik folgt. Denn die wurde in den
vergangenen zweieinhalb Jahren ja nicht
von John Bolton oder einem seiner un-
glücklichen Vorgänger gemacht, sondern
von nur einem Mann: Donald Trump.
Und der bleibt nach derzeitigem Stand
noch mindestens eineinhalb Jahre, wenn
nicht fünfeinhalb Jahre, im Amt.
Trumps Außenpolitik besteht aus ei-
ner seltsamen Mischung. Die Fassade ist
bombastisch, die Ziele sind ehrgeizig und
grandios. Trump macht als amerikani-
scher Präsident so Außenpolitik, wie er
früher als New Yorker Immobilienhänd-
ler Geschäfte gemacht hat – immer auf
der Jagd nach dem größten Deal und dem
spektakulärsten Moment. Was damals

die Einweihungszeremonien waren, bei
denen er mit einer Schere ein rotes Band
zerschnitt, sind heute die Gipfeltreffen
mit dem ebenso eitlen wie brutalen nord-
koreanischen Diktator Kim Jong-un oder
der bizarre Plan, die Taliban-Anführer
nach Camp David einzuladen. Was da-
mals der Bau von blattvergoldeten Golf-
hotels war, ist heute das Versprechen, alle
Konflikte dieser Welt, von Nordkorea
über den Nahen Osten und Iran bis nach
Afghanistan, durch sein persönliches Ver-
handlungsgeschick zu lösen. Trump will
ein Friedenspräsident sein.

Hinter dieser Fassade findet man aller-
dings nicht viel solide Substanz. In Wahr-
heit besteht Trumps Außenpolitik aus
wirr zusammengeschraubten Rigipsplat-
ten. Das in Jahrzehnten gewachsene Ge-
flecht von militärischen Allianzen, politi-
schen Bündnissen, wirtschaftlichen Part-
nerschaften und völkerrechtlichen Ver-
pflichtungen, auf dem Amerikas Macht
lange Zeit ruhte, ist Trump egal. Er hält es
nicht für hilfreich, sondern sieht es als ko-
difiziertes, institutionalisiertes Schma-
rotzertum, dem er durch seine America-
first-Doktrin den Garaus machen will. Au-
ßenpolitik bedeutet für Donald Trump,
andere Länder durch Wirtschaftssanktio-
nen oder Drohungen unter Druck zu setz-
ten, bis sie machen, was er fordert. In die-
ser Drohkulisse hatte auch der Kriegstrei-
ber John Bolton seinen Platz.
An Trumps kruder Weltsicht, die ein
entsprechend grobmotorisches Herum-
gewerkel auf der internationalen Bühne
nach sich zieht, wird sich durch Boltons
Abgang nichts ändern. Donald Trump
bleibt der Präsident der USA und damit
für die Welt ein Problem.

von alexandra föderl-schmid

B


enjamin Netanjahus Ankündigung,
große Teile des Westjordanlandes
zu annektieren, ist dem Wahl-
kampf und den Ereignissen in den USA ge-
schuldet: Kurz vor der Parlamentswahl
am Dienstag steht Israels Premier mit
dem Rücken zur Wand. Seine Partei, der
rechtsnationale Likud, liegt in Umfragen
hinter dem Bündnis der Mitte des Opposi-
tionspolitikers Benny Gantz. Außerdem
kommen ihm Verbündete in den USA –
Nahostverhandler Jason Greenblatt und
Sicherheitsberater John Bolton – abhan-
den. Präsident Donald Trump, der auf Ne-
tanjahus Drängen hin den Atomvertrag
mit Iran gekündigt hat, ist nun plötzlich
zu einem Treffen mit dem Erzfeind bereit


  • noch dazu ohne Vorbedingungen.
    Netanjahu spricht von einer „histori-
    schen Gelegenheit“, die sich für die Anne-
    xion ergebe. Er will Fakten schaffen. Denn
    ob der von Trump angekündigte Nahost-
    Friedensplan kommt, ist ungewiss – erst
    recht, ob er zu dem angekündigten „Deal
    des Jahrhunderts“ führt. Der Politprofi Ne-
    tanjahu weiß, dass er sich auf Trump
    nicht verlassen kann. Widerstand aber
    wird es aus den USA nicht geben, sollte Ne-
    tanjahu nach einer Wiederwahl seine An-
    kündigung umsetzen. Auch von der EU,
    die sich verbal für eine Zwei-Staaten-Lö-
    sung einsetzt, sich aber sonst heraushält,
    ist außer Protest nicht viel zu erwarten.
    Die deutsche Regierung hat zwar jüngst
    Kritik am Vorgehen Netanjahus geäußert.
    Aber Berlin wird sich nicht einmal trauen,
    diplomatische Instrumente anzuwenden,
    die bei anderen Staaten üblich sind wie
    die Einberufung des Botschafters. Aufru-
    fe zur Mäßigung der Europäer ignoriert
    Netanjahu genauso wie ihre Forderungen
    nach einer Zwei-Staaten-Lösung.
    Bisher hat der insgesamt schon 13 Jah-
    ren amtierende Premier mit der Um-
    setzung der Annexion gezögert, denn sie


würde das formale Ende des in den Neun-
zigerjahren begonnenen Oslo-Friedens-
prozesses bedeuten. Auch die Palästinen-
ser haben Chancen zur Verständigung
nicht genutzt, doch nun scheint Netanja-
hu in Kauf zu nehmen, allein für das Schei-
tern verantwortlich gemacht zu werden.
Bisher hat er lieber den Siedlungsbau ge-
fördert und so Fakten geschaffen.
Teile des besetzten Westjordanlandes
formal unter Israels Souveränität zu stel-
len, hatte Netanjahu schon früher ange-
kündigt. Diesmal bezog sich der rechtsna-
tionale Politiker aber auch auf das Jordan-
tal, nicht nur auf die 120 jüdischen Sied-
lungen. Das Jordantal umfasst etwa

30 Prozent der Fläche des Westjordanlan-
des, somit würde Israel rund zwei Drittel
des einst den Palästinensern versproche-
nen Staatsgebietes beanspruchen. Damit
blieben fast nur die von den Palästinen-
sern verwalteten Städte im Westjordan-
land übrig. Aus diesem Fleckenteppich lie-
ße sich kein Staat formen.
Dem politischen Überlebenskünstler
Netanjahu ist im Buhlen um die Wähler-
gunst jedes Mittel recht. Laut Umfragen
stehen die Chancen schlecht für ihn, eine
Koalition ohne Avigdor Liebermans ultra-
nationale Partei zustande zu bringen. Ne-
tanjahu kämpft deshalb nicht mehr für ei-
ne rechte Koalition, sondern vor allem für
sich selbst. Nur wenn der Likud auf Platz
eins landet, kann er den Führungsan-
spruch auch im Falle einer Koalition mit
Benny Gantz beanspruchen. Nur dann
kann er ein Immunitätsgesetz anstreben,
das ihm Schutz vor drei drohenden Kor-
ruptionsanklagen bietet. Dies ist Netanja-
hus letzte Wahlschlacht. Er ist offenbar be-
reit, alles für den Machterhalt zu tun.

J


etzt kommt es richtig dick für Boris
Johnson. Er hat ja schon im Kampf
mit dem Parlament eine Niederlage
nach der anderen einstecken müssen,
aber dass nun erstmals ein Gericht gegen
ihn entscheidet, ist ein schwerer Schlag
für den britischen Premier.
Da hilft es auch nicht, dass es in seiner
Tory-Fraktion heißt, die schottischen
Richter, welche die fünfwöchige Zwangs-
pause des Unterhauses als „illegal“ be-
zeichnen, seien voreingenommen, weil
Schottland ja gegen den Brexit sei. Und es
hilft auch der triumphierende Verweis auf
ein anderes Urteil in London nicht, das
positiv für Johnson ausgegangen war: Die
Richter hatten sich letztlich für unzustän-


dig erklärt. Nun muss Johnson hoffen,
dass das Oberste Gericht ihn raushaut.
Aber der Schaden ist bereits immens.
Schon bisher hatte niemand Johnsons
fadenscheinige Begründung geglaubt,
das Unterhaus müsse fünf Wochen schlie-
ßen, damit er die Regierungserklärung
vorbereiten kann. Das war ein zu durch-
sichtiges Manöver mit dem Ziel, seine Bre-
xit-Pläne durchzusetzen. Das Gericht in
Schottland hat am Mittwoch auch gesagt,
vorliegende Unterlagen legten nahe, er ha-
be die Queen in die Irre geführt. Die Queen
zu belügen – das ist in Großbritannien ein
Sakrileg. Das mögen auch konservative
Brexit-Freunde nicht. Dieser Premier ist
untragbar. cathrin kahlweit

F


ür ein politisches und wirtschaftli-
ches Schwergewicht wie Deutsch-
land gibt es eine einfache außenpoli-
tische Regel: Gehst du nicht zur Krise,
dann kommt die Krise eben zu dir. Nun
lernt Deutschland, dass selbst Konflikte
in großer Entfernung wie der Kampf um
die Demokratie in Hongkong früher oder
später in Berlin aufscheinen – diesmal in
Person des Aktivisten Joshua Wong, der
mit der Botschaft anreiste, dass Schwei-
gen bestraft wird und Deutschlands Stim-
me Gewicht hat in China.
Fairerweise muss man sagen, dass die
Bundesregierung nie geschwiegen hat zu
Hongkong. Kanzlerin Angela Merkel hat
während ihrer letzten China-Reise die Ein-


haltung der Menschenrechte eingeklagt.
Es gibt niemanden in Regierung und Op-
position, der das nicht täte. Man sollte die-
se Mahnungen nicht unterschätzen. Ent-
sprechend nun das diplomatische Geplän-
kel mit der Einbestellung des deutschen
Botschafters in Peking. Was aber dann?
Deutschlands Gewicht in China ergibt
sich aus der wirtschaftlichen Verflech-
tung: 200 Milliarden Euro Handelsvo-
lumen, dazu 81 Milliarden Euro deutsche
Direktinvestitionen in China. Joshua
Wongs Besuch in Berlin zeigt: Die Zeit der
Sonnenschein-Politik ist vorbei. Peking
und Berlin sollten sich bewusst machen,
dass Geschäfte immer auch einen politi-
schen Preis haben. stefan kornelius

S


chau her, die Kanzlerin! Haut da
einen raus, mal eben im Neben-
satz: „Stichwort: Hyperscaler“,
hat Angela Merkel im Bundestag
irgendwo in ihre langen Ausfüh-
rungen zur Digitalisierung eingestreut, na-
türlich blitzsauber in englischer Beto-
nung. Es kann gut sein, dass man das
Wort bald häufiger aus ihrem Munde hört.
Denn anders als zu Koalitionspartnern
entwickelt die Kanzlerin durchaus enge
Bindungen zu Begriffen, mit denen sie
sich auf der Höhe der Zeit zu präsentieren
vermag, oder sogar vorneweg. Disruption
war das bislang letzte Wort, mit dem Mer-
kel für einige Zeit eine feste Beziehung ein-
gegangen ist. Solcherart Zuneigung folgt
einer Mischung aus echter Faszination
der Wissenschaftlerin und kalkulierter
Angeberei der Politikerin.
Ein Hyperscaler ist übrigens eine Struk-
tur aus dem Cloud-Computing, die durch
die Vernetzung unzähliger Server flexibel
und schnell Rechenkapazität bereitstel-
len kann. (Diesen Satz präsentierten Ih-
nen die Digitalexperten der SZ.) Im norma-
len Leben kann demnach jede Familie ge-
wissermaßen als Hyperscaler wirken, zu-
mindest wenn sie bei der Verrichtung all-
täglicher Aufgaben Hand in Hand arbei-
tet, die Kinder ihre freien Kapazitäten


auch mal zur Erledigung des Abwaschs
nützen und man mit den Nachbarn eine
Fahrgemeinschaft bildet. Politisch wieder-
um, das hat die Generaldebatte gezeigt,
ist ein Hyperscaler genau das, was die gro-
ße Koalition braucht: Er hilft, wenn die
Aufgaben immer größer werden.
Es spricht für Angela Merkel, dass sie in
ihrer Rede wenig Zeit auf die Aufzählung
der finanziellen und anderer Wohltaten ih-
rer Regierung in den vergangenen zwei
Jahren verwendet hat. Stattdessen kon-
zentrierte sie sich auf die Probleme, die
noch zu bewältigen sind und immer dring-
licher werden, vorneweg Digitalisierung
und Klimaschutz. Anders gesagt: Es war
für eine Kanzlerin, der politisch nicht
mehr viel Zeit bleibt – und der je nach Ver-
lauf der SPD-internen Debatte über die
große Koalition womöglich sogar noch we-
niger Zeit bleibt als nicht mehr viel – eine
erstaunlich nach vorne gewandte Rede.
Es spricht allerdings nach 14 Jahren
auch gegen Merkel, dass ihre Auflistung
der Aufgaben im Umkehrschluss an vie-
len Stellen zugleich eine Auflistung der
Versäumnisse darstellte. Das reicht von
der Straffung der Planungsprozesse bei In-
vestitionen über den lahmenden Bau von


Stromtrassen für die Energiewende bis
hin zum Breitbandausbau. Unzählige Ma-
le hat Merkel in ihrer Rede gesagt: „Wir
müssen.“ Aber allzu oft heißt das nur:
„Wir haben noch nicht“ – und nicht selten
auch: „Wir haben immer noch nicht.“
Das Wissen um die Notwendigkeiten
der Zukunft entlässt Merkel nicht aus der
Verantwortung für die Defizite, die sich an-
gesammelt haben. Die Kanzlerin einer der
führenden Wirtschaftsnationen darf im
Anspruch natürlich nicht nachlassen,
auch wenn es in der Realität hakt. Aber so
sehr ein Hyperscaler ganz gewiss ein ir-
gendwie erstrebenswertes Ding ist, be-
schreibt Merkel damit auch selbst die gro-
ße Diskrepanz zum richtigen Leben in ei-
nem Land, in dem man sich noch immer
durch ganze Regionen ohne ausreichen-
den Mobilfunk-Empfang bewegt.
Es spricht für die große Koalition, dass
sich ihre Hauptredner in dieser Haushalts-
debatte erstaunlicherweise als zum Wei-
terregieren entschlossen präsentierten –
gerade so, als stünde das gar nicht infrage.
Da wurden keine Ultimaten gestellt und
keine roten Linien gezogen. Ähnlich wie
Merkel erging sich auch der interimisti-
sche, aber bald fest installierte SPD-Frak-
tionschef Rolf Mützenich in Beschreibun-
gen des Großen und Ganzen. Ganz anders
als noch nach der Vereidigung der neuen
Verteidigungsministerin Annegret
Kramp-Karrenbauer vor wenigen Wo-
chen wählte Mützenich diesmal keinen an-
griffslustigen, sondern einen staatsmän-
nisch, fast pastoral getragenen Ton.
Mützenich kann, was seit Gerhard
Schröder nur wenige in der SPD vermoch-
ten: Aus der Beschwörung sozialdemokra-
tischer Tradition die Verpflichtung zum
Handeln im Jetzt ableiten. Was er nicht so
kann wie Schröder, ist die Übersetzung sei-
ner Gedanken in eine mitreißende Rede.
Trotzdem war es gut, dass Mützenich klar
den Anspruch seiner Partei auf Macht und
Machen erhoben hat, gerade den eigenen
Leuten zugewandt: Die SPD muss sich vor
allem um gutes Regieren für die Men-
schen bemühen, die es sich nicht leisten
können, schlecht regiert zu werden.
In der Klimapolitik ist die Koalition
nun noch einmal stark gefordert. Die Vor-
schläge, die sie am 20. September präsen-
tiert, werden nicht das Ende der Debatte
bedeuten, sondern erst deren wirklichen
Anfang. Die Kanzlerin, das hat die General-
debatte einmal mehr gezeigt, ist die unan-
gefochtene Meisterin in der Beschreibung
von Aufgaben, im Herausarbeiten von In-
teressengegensätzen, in der Definition
von Lösungskorridoren. Aber ein brauch-
bares Ergebnis wird es nur geben, wenn
Merkel, die rhetorisch so gerne in der Zu-
kunft steht, sich diesmal mit konkreter Po-
litik gewissermaßen selbst einholt.

Man könnte den nordkorea-
nischen Diktator Kim Jong-
un auch als Raketenwerfer in
Menschengestalt bezeich-
nen. Er wirft mit Raketen
nur so um sich – bislang glücklicherwei-
se nur testweise. Raketentests sind das
bevorzugte Mittel seiner Selbstdarstel-
lung. An diesem Mittwoch teilte das Re-
gime mit, man habe einen Mehrfachrake-
tenwerfer getestet, natürlich fehlte nicht
der Hinweis, es habe sich um einen „su-
pergroßen“ Werfer gehandelt. Man
spricht bei Raketenwerfern auch von „Ra-
ketenartillerie“. Die Idee, Raketen aus
Startrohren abzuschießen, ist angeblich
angelehnt an das Prinzip chinesischer
Feuerwerksraketen. Die Abschussvor-
richtungen sind meist auf Lkw oder Lafet-
ten montiert. Der berühmteste Mehrfach-
raketenwerfer ist wohl die russische Kat-
juscha („Katharinchen“), auch bekannt
als „Stalinorgel“. Sie konnte zwischen
vier und 40 Raketen aufnehmen. Allein
das Heulgeräusch beim Abschuss verbrei-
tete im Zweiten Weltkrieg bei den Deut-
schen Angst und Schrecken – ganz abge-
sehen von der verheerenden Wirkung.
Mehrfachwerfer feuern die Raketen in
schnellen Salven ab und belegen ein Ziel-
gebiet mit massivem Feuer. Die nordkore-
anischen Testraketen landeten angeblich
nach 330 Kilometern im Meer. Das wäre
für diese Waffenart eine ungewöhnlich
große Reichweite. jok

4 HF2 (^) MEINUNG Donnerstag, 12. September 2019, Nr. 211 DEFGH
FOTO: IMAGO
USA
Der Falke geht, Trump bleibt
ISRAEL
Um jeden Preis
BREXIT
Ein Sakrileg
MUSEUMSBAU
Lieber besser als mehr
sz-zeichnung: wolfganghorsch
DEUTSCHLAND UND CHINA
Am Ende des Sonnenscheins
BUNDESTAG
Mut und Makel
von nico fried
AKTUELLES LEXIKON
Raketenwerfer
PROFIL
Shinjiro
Koizumi
Japanischer
Minister, der
Hoffnungen weckt
Es ist gut, dass Bolton das Weiße
Haus verlässt, die US-Politik
aber wird nicht rationaler
Dies ist Netanjahus letzte
Wahlschlacht. Er kämpft nur
noch für sich selbst
Mit den Aufgaben der Zukunft
beschreibt Merkel auch
Versäumnisse ihrer Amtszeit

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