Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1

23 °/12°


von max fellmann

D


a schaut man ein Leben lang auf die-
ses Ding. Und fragt sich ein Leben
lang, wie mag es da oben sein, wie
ist da die Aussicht, was weht da für ein
Wind? Wenn man aufs Jahr genau so alt ist
wie der Kamin des Heizkraftwerks und in
der südlichen Hälfte Münchens aufgewach-
sen, hatte man ihn ja immer vor sich. Mor-
gens auf dem Weg zur Schule. Nachmit-
tags beim Baden. Abends beim Feiern an
der Isar. Nachts um drei beim Heimradeln.
Immer war er da, der stumme Riese. Häss-
lich, aber verlässlich. Andere Städte haben
den Eiffelturm, ein Riesenrad, Wolkenkrat-
zer, München hat einen Schornstein. 1970
in die Gegend gestellt, 175 Meter humorlo-
ser Beton, die das Bild beherrschen, egal,
von wo man schaut. Immerhin, nachts
schweben die roten Warnlampen über der
Stadt wie freundliche Riesenglühwürm-
chen. Aber den meisten Münchnern galt
der Kamin als Schandfleck. Aussichtzerstö-
rer. Postkartenmotivverschandler.
Und dann das: Kaum kündigt die Stadt
an, dass er abgerissen werden soll – Weh-
klagen aus allen Ecken. Mag ja sein, dass
da schon seit 1997 kein Müll mehr ver-
brannt wird, hieß es, mag ja sein, dass die
Gas- und Dampfturbinen gut ohne ihn aus-
kommen, aber der sei doch ein Industrie-
denkmal! Teil der Stadtsilhouette! Unbe-
dingt schützenswert! Manche überlegten,
was man da alles drin machen könnte, Gas-
tronomie, Kletterhallen, Tauchanlagen...
Hilft aber nichts. Die Ingenieure der Anla-
ge lasen sich alle Vorschläge durch, man-
che mochten sie (ein Café in 175 Metern Hö-
he, das wäre ein Traum, natürlich!), aber
der Turm steht auf einem Kraftwerk. Hoch-
sicherheitsbereich. Starkstrom. Todesge-
fahr. Oder wie die Stadt es offiziell nennt:
„kritische Infrastruktur“.

Er kann weg. Gerne. Aber bitte, kurze
Anfrage bei der Stadt: Jetzt, wo er bald Ge-
schichte ist – könnte man da als gebürtiger
Münchner und lebenslanger Draufschau-
er vielleicht raufsteigen, einmal nur, im al-
lerletzten Moment? Verblüffenderweise
sind sie bei der Stadt offen für die Idee und
lassen an einem warmen Sommertag zum
ersten und einzigen Mal in der Geschichte
des Turms eine Handvoll Besucher hinauf.
Es geht los mit etwas Schummelei, ein
Lastenaufzug bringt einen ins oberste Ge-
schoss des Kraftwerks, erst auf 23 Meter
Höhe beginnt der eigentliche Aufstieg. Mit
Helm und Klettergeschirr – und mit Andre-
as Hottarek, Kraftwerksmitarbeiter, seit
33 Jahren für den Kamin zuständig. Er
kennt jeden Zentimeter da drin und macht
klar, dass man es jetzt mit einer echten
Kletterpartie zu tun haben wird. Die meis-
te Zeit geht es senkrecht rauf an endlosen
Leitern, die an der Innenseite des Kamins
verlaufen (ergibt nicht nur in den Beinen
Muskelkater, sondern auch in den Armen).
Das Sicherungssystem macht den Aufstieg

mühsam, alle paar Meter Klettergeschirr
aushängen, in die nächste Schiene einhän-
gen, der Weg dauert mit Umsteigen und
Einhängen und Atempausen eine Dreivier-
telstunde. Andreas Hottarek seufzt und er-
zählt von der Zeit vor den Sicherungsvor-
schriften – da sind sie die Leitern einfach
so raufgestiegen, ohne Haken, ohne Seile.
Gern auch um die Wette. Sein Rekord lag
bei 13 Minuten.
In den vergangenen 33 Jahren war Hot-
tarek so gut wie jeden Tag da oben. Die
Glühbirnen der Flugsicherungslampen
austauschen, die Elektronik prüfen, hier
ein Kabel reparieren, dort eine Leiterspros-
se. Einmal hatte er Pech, da musste er an ei-
nem einzigen Tag viermal rauf: morgens
Routine-Check, zur Brotzeit runter, da-
nach rauf für eine Reparatur, Mittagspau-
se unten, doch noch eine weitere Repara-
tur, wieder hoch – und schließlich unten
kurz vor Feierabend gemerkt, dass die Ta-
sche mit dem Spindschlüssel oben liegt.
Auf halbem Weg wird es fast unheim-
lich, man ist 80 Meter über der Stadt, fühlt
sich aber wie tief unter der Erde. Keine
Fenster, keine Löcher, nichts. Die Innenbe-
leuchtung des Kamins ist wegen der Ab-
brucharbeiten schon abgeschaltet, in der
Finsternis lässt nur Hottareks Taschenlam-
pe ab und zu staubige Betonwände und ros-
tige Metallteile aufblitzen. Irgendwie erin-
nert das alles an die Kulissen aus dem Film
„Alien“. Erst nach einer halben Stunde er-
scheint irgendwo weit oben ein winziger
Lichtpunkt – der Himmel, zu sehen durch
eine Ausstiegsluke.
Sprosse für Sprosse weiter. Nach 45 Mi-
nuten dann endlich: die letzte Plattform,
die letzte Leiter. Sicherungshaken lösen,
mit Schwung durch die Luke ins Freie –
und man steht zwischen lauter kleinen
Knochen. Schluck. „Alien“? Hottarek
grinst: Falken. Die ziehen sich mit den er-
beuteten Mäusen gern hierher zurück, um
in Ruhe zu knabbern. Am Aufräumen sind
sie dann eher nicht so interessiert.
Überhaupt darf man sich die Turmspit-
ze nicht vorstellen wie einen Aussichts-
punkt. Kein Alter Peter, kein Olympia-
turm. Und schon gar keine touristengerech-
te Sicherung: Das klapprige Geländer, das
einen vor 175 Metern freiem Fall bewahren
soll, besteht aus ein wenig dünnem, verbo-
genem Eisen und geht einem gefühlt bis
zum Knie. Dazwischen ragen dünne Stan-
gen in den Himmel: Blitzableiter. Allesamt
schwarz verkohlt. Sofort blickt man arg-
wöhnisch in den Himmel, aber das Wetter
wirkt in diesem Moment dankenswert sta-
bil.
Und sowieso, keine Zeit für Sorgen, jetzt
ist alles nur noch Schauen, Staunen,
Schwelgen. Zu Füßen des Turms zerschnei-
det die Brudermühlbrücke die Isarauen,
der Auto-Irrsinn auf dem Ring sieht aus
wie eine Carrera-Bahn. Der Blick wandert
die Isar rauf und runter, folgt ihrem ewi-
gen ruhigen Fließen, bleibt hängen an den
prächtigen Brücken Münchens, an den klei-
nen Buchten und Stufen, was ist man da
überall schon gesessen, Sommer für Som-
mer. Der Blick geht weiter über das Groß-
marktgelände, über Sendling, jeder Stadt-
planer würde sofort den Taschenrechner

zücken, so viel „Nachverdichtungspotenzi-
al“, das man erst von hier oben sieht, da ei-
ne scheinbar vergessene Baulücke, dort
ein riesiger Hinterhof, noch nicht vollge-
stellt mit 23 neuen Luxus-Appartments,
zum Glück. Von oben gesehen hat Mün-
chen viel mehr Luft zum Atmen, als man
unten denkt. So viel Grün, so viel Weite.
Und so wenige Erhebungen. München
liegt da wie eine Strickdecke, beiläufig
über die Landschaft geworfen. Hier oben
geht an diesem Tag nur leichter Wind, er
zieht sachte über die Stadt. Für Augenbli-
cke vergisst man das Bauwerk unter sich.
Fliegen. Als schwebe man genau in der Mit-
te zwischen Stadt und Himmel. Höhen-
angst? Egal. Keine Zeit für Höhenangst.
Weiterschauen: im Osten das Grünwalder
Stadion, davor die Voliere von Hellabrunn,
weiter drüben die Großhesseloher Brücke,
ganz im Süden die Berge, grau und mäch-
tig. In die andere Richtung die Theresien-
wiese, das Deutsche Museum, die Frauen-
kirche, im Osten der Süddeutsche Verlag –
ein Rundgang durch ganz München, ohne
dass man einen Fuß auf die Straße setzen
müsste.

Man möchte fast leise singen wie Franz
Münchinger in der letzten Folge von „Mo-
naco Franze“ „Drunt in da greana Au steht
a Birnbaum schee blau ...“. So viel Mün-
chen da unten, so viele Straßen, Plätze,
Häuser, so viele Geschichten und Erinne-
rungen. Dazu das Wissen: Bis auf Hottarek
und ein paar Bauarbeiter wird man der
Letzte gewesen sein, der von hier oben
über die Stadt schauen durfte. Ein Münch-
ner im Himmel.
Der Abbruch des Kamins geht so weiter:
Die vier inneren Stahlröhren werden gera-
de ausgebaut. Weil der Betonschlot sich an
dieser Stelle nicht einfach sprengen lässt,
erledigt den Abriss ein Spezialbagger, ab
November. Der wird innen hochgezogen
und dann wie eine Riesenspinne auf den
Turm gesetzt. Die Spinne frisst Meter für
Meter die Mauern weg, die Trümmer fal-
len nach innen. Der Turm wird kleiner und
kleiner, bis der Bagger unten ankommt,
voraussichtlich irgendwann im Frühjahr.
Nach einer halben Stunde auf dem Dach
Münchens wird es Zeit für den Abstieg. An-
dreas Hottarek weint dem Turm keine Trä-
ne nach, er hat auch so genug zu tun im
Heizkraftwerk. Jetzt holt er einen Edding
aus der Tasche, man soll sich bitte an ei-
nem der inneren Kaminrohre verewigen.
So haben sie es in all den Jahrzehnten ge-
halten, wer es hochgeschafft hat, darf sich
eintragen, Name, Datum, die Stahlrohre
als Gipfelbuch. Viele Einträge sind es
nicht, zehn vielleicht. Neue werden nicht
mehr dazu kommen. Und verewigt, naja –
bald sind sie alle mit dem Turm zusammen
verschwunden. Und da, wo fast 50 Jahre
lang der graue Riese in den Himmel ragte,
klafft dann eine Lücke. Fehlen wird er nie-
mandem. Nur manchen vielleicht. Ein biss-
chen.

Nach Frühnebel und Wolkenfeldern setzt
sichspäter die Sonne durch. Es bleibt tro-
cken.  Seite R16


Blick nach Süden: der
Flaucher,das Ausweichquartier
des Gasteig (Bildmitte),
die Thalkirchner Brücke,
im Vordergrund die kleineren
Kamine des Heizkraftwerks.
Unten: die Stahlschlote
im Inneren des Kamins.

Wie eine Spinne wird sich
ein Bagger von oben nach unten
durch den Turm fressen

München– Im Landkreis Freising sind En-
de August zwei an der Hasenpest verende-
te Feldhasen gefunden worden; auch ein
Mensch hat sich infiziert. Jetzt mahnt die
Stadt München Erholungssuchende sowie
Jäger und zum Beispiel Köche, Metzger
und Tierärzte in Stadt und Umland zur Vor-
sicht. Tularämie (Hasenpest) wird durch
Bakterien übertragen, die vor allem bei Na-
getieren in freier Wildbahn vorkommen.
Menschen können sich aber auch an infi-
zierten Hunden oder Katzen anstecken.
Nach drei bis fünf Tagen zeigen sich vielfäl-
tige Symptome wie Fieber, Schüttelfrost,
Kopfschmerzen oder auch Erbrechen. In
sehr schweren Fällen kann es zu einer Blut-
vergiftung kommen. Kontakt mit Wildtie-
ren sei zu vermeiden, rät nun Gesundheits-
referentin Stephanie Jacobs. „In freier Na-
tur gefundene verendete oder auffällige
Hasen, Kaninchen und andere Säugetiere
sollten keinesfalls berührt werden.“ Beim
Umgang mit erlegten Tieren müssten un-
ter anderem Mundschutz und Einmalhand-
schuhe getragen werden. Wer nach Tier-
kontakt grippeähnliche Symptome an sich
bemerke, solle zum Arzt gehen und ihn
über den Vorfall informieren. wet


Trauen


2009 starb Dominik


Brunner –wie es heute um


die Zivilcourage bestellt ist


 Thema des Tages, Seite R2

Schauen


Das Filmmuseum widmet


AlfredHitchcock


eine Retrospektive


 Kultur, Seite R20

45 Minuten braucht man für
den Aufstieg – in Finsternis
über unzählige Leitern nach oben

Heute mit


Kostprobe


auf Seite R4


Noch ist der Turm 175 Meter hoch, von November an wird er abgetragen, irgend-
wann im Frühjahr wird er weg sein. FOTOS: MAX FELLMANN (2), ROBERT HAAS

Gesundheitsreferat


warnt vor Hasenpest


von andreas schubert

E


s gibt Bayern, die sich gerne dar-
über lustig machen, wenn ein aus
dem Norden stammender Wahl-
münchner versucht, bairisch zu spre-
chen. Wenn er etwa von seiner Lieblings-
kneipe schwärmt, er fühle sich in dieser
Bo–azn wie daho–am, weil es da so einen
leckeren „Obazda“ gibt, reagieren konser-
vative Bewahrer des Bairischen mal mit
Spott, mal belehrend, und gerne etwas
von oben herab. Dass ein Nicht-Bayer
nicht ahnen kann, dass der Käsebaz nicht
immer schmeckt, aber immer dekliniert
wird, kümmert den stolzen Echt-Bayern
nicht. Dann kehrt er noch den Linguisten
raus und belehrt den Zuagroastn, dass es
„der“ Butter und „das“ Teller heißt, und
diese Genera auf jeden Fall richtig sind.
Dabei sind sich die Bayern über den Ge-
brauch ihrer eigenen Sprache selbst nicht
ganz einig. Zum Beispiel, wenn es um
Schwammerl geht. Wem die Steinpilze
am Viktualienmarkt zu teuer sind, der
geht gerne selbst „in die Schwammerl“.
Und da geht es schon los mit der Sprach-
verwirrung. Sollte es denn nicht „die
Schwammerln“ heißen? Das Lexikon
„Bairisches Deutsch“ des oft als Dialekt-
papst bezeichneten Germanisten Ludwig
Zehetner lässt als Mehrzahl auch die Vari-
ante mit „-n“ gelten, selbst wenn viele
sich da fragen dürften, welches narrische
Schwammerl der Herr Professor da er-
wischt haben mag. Und dann noch das: In
dem Lexikon steht – mit Ausrufezei-
chen– , es heiße „der“ Schwammerl. Nur
in Klammern ist vermerkt, dass auch
„das“ zulässig sei.
Nun schwören viele Bayern, nie ein
männliches Schwammerl gesehen zu ha-
ben, und es sprachlich zu behandeln sei
wie das Maderl und das Bürscherl. Aber
die Debatte kann man sich eigentlich spa-
ren. Schwammerl kommen nur höchst
selten in der Einzahl vor, Grund dafür ist
der Stolz der Bayern. Wer nur einen einzi-
gen Pilz im Wald findet, würde das nie zu-
geben. Er würde lieber für viel Geld
Schwammerl kaufen und sie den Nach-
barn als persönliche Beute präsentieren,
als sich zum Gespött zu machen. Wär ja
noch schöner, wenn plötzlich andere, wo-
möglich auch noch Zuagroaste, anfan-
gen, blöd daher zu reden.


NR. 211,DONNERSTAG, 12. SEPTEMBER 2019 PMC


München


Abschied


vom


Riesen


Jahrzehntelang hat der


Turm des Heizkraftwerks


die Silhouette Münchens


geprägt. Ein letzter Besuch


vor dem Abriss


MÜNCHNER MOMENTE

Schwammerl


drüber


FOTOS: R. HAAS, GETTYIMAGES

Bauen


Die Staatsregierung will den


Wohnungsmangel bekämpfen –


die Opposition kritisiert die Pläne


 Bayern, Seite R15

DAS WETTER



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