Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
interview: julian hans

W


enn Menschen bedroht werden,
sollten Zeugen nicht wegsehen.
Aber was können sie tun, ohne
sich selbst in Gefahr zu bringen? Seit mehr
als zwei Jahrzehnten führt die Münchner
Polizei an jeder Dienststelle Zivilcourage-
Kurse durch. Das Interesse daran habe
stark zugenommen, berichtet Kriminalrat
Arno Helfrich.


SZ: Der Mord am S-Bahnhof Solln hat vor
zehnJahrendie Republikerschüttert.Wie
haben Sie das damals erlebt?


Arno Helfrich: Ich kann mich noch gut erin-
nern. Unsere Präventionsarbeit wurde da-
durch ja scheinbar infrage gestellt: Seit
1997 führen wir Kurse zur Zivilcourage
durch und ermuntern die Teilnehmer, ein-
zugreifen. Und dann wird ein couragierter
Bürger getötet, weil er tatsächlich einge-
griffen hat. Trotzdem: Das ist eine Ausnah-
me und das darf uns nicht davon abhalten
zu helfen.

Hat sich nach dem Vorfall in Sachen Zivil-
courage etwas verändert?
Ja, und zwar sowohl zum Positiven als
auch zum Negativen. Das Interesse an un-
seren Präventionskursen ist sprungartig
angestiegen. Davor haben jedes Jahr etwa
1500 Bürgerinnen und Bürger in München
und im Landkreis teilgenommen. Nach
dem Tod von Dominik Brunner ist die Zahl
auf über 4000 im Jahr angestiegen. Inzwi-
schen sind es zwischen 2500 und 3000.
Aber es gab auch einen unerfreulichen Ef-
fekt, nämlich dass vor allem ältere Bürger
sich verunsichert fühlten und darüber
nachdachten, öffentliche Verkehrsmittel
zu meiden. Dabei sind die Zahlen eigent-

lich gut, wenn man sich die Münchner Kri-
minalstatistik ansieht. Da bewegen wir
uns bei etwa 230 Gewaltdelikten und etwa
450 Körperverletzungen im Jahr.

Zahlen alleine beruhigen die Bürger aber
nicht.
Richtig. Die nehmen viel stärker Einzel-
fälle wahr, über die in den Medien berich-
tet wird. Das Sicherheitsempfinden der
Menschen war damals massiv beeinträch-
tigt. Die Münchner Polizei leistet heute
mehr als 100000 Einsatzstunden im Jahr
bei Streifengängen in U-Bahnen und
S-Bahnen. Wir haben regelmäßige Strei-
fen an allen S-Bahnhöfen. Wir haben ge-
mischte U-Bahn-Streifen mit der U-Bahn-

Wache, zusätzlich gibt es die privaten Si-
cherheitsdienste und den kommunalen Au-
ßendienst der Stadt. Das ist eine ganze
Menge und es trägt dazu bei, dass sich die
Menschen sicherer fühlen.

Wer fühlt sich denn besonders unsicher in
München?
Das sind vor allem ältere Damen. Wenn
man sich dann die Zahlen ansieht, stellt
man fest: Die sind nur in ganz seltenen Aus-
nahmen von solchen Straftaten betroffen.
Die meisten Opfer jugendlicher Gewalttä-
ter sind Gleichaltrige. Und die meisten Zwi-
schenfälle gibt es an den Bahnhöfen, wo
sich das Partyvolk trifft. Aber die Ausnah-
men gibt es natürlich, und die setzen sich
dann bei den Leuten fest.

Die Zivilcouragekurse dauern etwa vier
Stunden. Was lernen die Teilnehmer da?
Zunächst einmal geht es darum, dass sie
selbstsicher werden. Damit ist nicht ge-
meint, dass sie sich gleich in eine Schläge-
rei einmischen. Sondern, dass sie etwas
tun. Dass sie zum Beispiel ihr Handy neh-
men und die Polizei rufen. Oft sind sich die

Leute gar nicht im Klaren darüber, welche
Nothilfeeinrichtungen es gibt. Die sind
überrascht, dass es an jedem Bahnsteig
Notrufsäulen gibt, in jeder U-Bahn, in je-
der S-Bahn gibt es Möglichkeiten, Hilfe zu
holen. Wenn sich die Leute dann auf dem
Heimweg umsehen und sich einmal klar-
machen, was es alles gibt, dann sind sie in
einer Notsituation vorbereitet. Wir versu-
chen ihnen die Scheu vor der 110 zu neh-
men. Es heißt natürlich „Notruf“ und jeder
verbindet die Not mit einem Unfall oder ei-
nem gebrochenen Fuß. Aber dass es auch
eine unklare Situation sein kann, die wir
dann klären, das ist eine wichtige Bot-
schaft.

Was ist Ihrer Erfahrung nach die größte
Hürde, weshalb Zeugen untätig bleiben?
Viele fürchten, etwas falsch zu machen.
Aber es gibt kein Richtig und kein Falsch.
Bei Dominik Brunner fand ich es sehr be-
denklich, dass sich im Laufe der Zeit der
Eindruck gebildet hat, dass er ja eigentlich
anders hätte reagieren müssen. Aber es
gibt kein Richtig. Er hat gesehen, da sind
Kinder in Not, da muss ich was tun. Hinter-

her kann man natürlich locker sagen, das
hätte der anders machen sollen. Aber in
dem Moment denke ich nicht nach. Er hat
einfach aus dem Bauch heraus so reagiert,
wie er es für richtig hielt. Das ist der Punkt.
Wenn man das infrage stellt, wird es kri-
tisch. Ich fand das unfair ihm gegenüber.
Er hat ja nicht reagiert, um den anderen
Schaden zuzufügen und seine Kampfküns-
te vorzuführen, sondern um Schaden von
Dritten abzuwenden.

Sind wir eine Gesellschaft von Weg-
sehern?
Dieser Vorwurf kommt oft, aber ich glaube
das nicht. Wir hören eben immer nur von
den Fällen, die schlecht ausgehen. Von de-
nen, die gut laufen, hört man selten. Etwa
von dem 31-Jährigen, der im Februar bei
einem Jungen, der neben ihm in der
U-Bahn saß, einen Whatsapp-Chat mitge-
lesen hat, der ihm komisch vorkam. Er hat
den Jungen dann um seine Nummer gebe-
ten und sich an die Polizei gewandt. Die
konnte schließlich einen Sexualstraftäter
überführen, der sich über Chats an Kinder
herangemacht hat.

Was sich am 12. September 2009 am
S-Bahnhof Solln zutrug, dauerte nur weni-
ge Minuten. Aber die Tat löste eine Debatte
über Jugendgewalt aus, die noch Jahre
nachklang. Und der Name Dominik Brun-
ner wurde zum Synonym für Zivilcourage
in Deutschland. Was war passiert?
Der 50-jährige Manager ist auf dem
Heimweg ins Wochenende. In der S-Bahn
wird er zufällig Zeuge, wie drei Jugendli-
che vier Schüler erpressen. Sie fordern
Geld und drohen ihnen Schläge an. Wäh-
rend andere Fahrgäste so tun, als würden
sie nichts mitbekommen, mischt sich Do-
minik Brunner ein. Er bietet den Gymnasi-
asten an, mit ihnen an der Haltestelle Solln
auszusteigen. Dort folgen dann zwei der

Angreifer der Gruppe. Es kommt zu einer
Schlägerei, bei der Brunner schließlich am
Boden liegt. Immer wieder treten die 17
und 18 Jahre alten Täter auf ihn ein. Er hat
mit dem Handy die Polizei gerufen. In der
Leitstelle hören die Beamten, wie die Täter
schreien: „Komm her, komm her, Mann,
du Dreckschwein!“ Brunner schreit: „I nim
oan mit, i nimm oan mit!“ Tritte sind zu hö-
ren, Schreie und das Stöhnen des Opfers.
Zwei Stunden später stirbt Brunner an
Herzversagen, sein Körper hat dem Stress
der Attacke nicht standgehalten.
„Aus Wut und Rache“ seien die Täter
Brunner gefolgt, weil dieser sich in ihren
Erpressungsversuch gegen die jüngeren
Schüler eingemischt hatte, folgert der Vor-
sitzende Richter der Jugendkammer am
Landgericht München I bei der Urteilsver-
kündung ein Jahr nach der Tat. Ein Täter,
der zur Tatzeit 17 Jahre alt war, bekommt

eine Jugendstrafe von sieben Jahren we-
gen Körperverletzung mit Todesfolge. Sein
18 Jahre alter Mittäter muss wegen Mordes
für neun Jahre und zehn Monate ins Ge-
fängnis. Der dritte Jugendliche, der bei der
Erpressung der Schüler als Wortführer auf-
getreten war, hatte sich von der Gruppe ge-
trennt, bevor es in Solln zu der tödlichen
Auseinandersetzung kam.
Weil sich Brunner den Jugendlichen in
Boxerhaltung entgegengestellt hatte, we-
gen seiner Worte „i nimm oan mit!“ und
weil der Fahrer der S-Bahn ausgesagt hat-
te, Brunner habe als Erster zugeschlagen,
gab es eine Debatte, ob der in Kampftechni-
ken trainierte Geschäftsmann nicht de-
eskalierender hätte auftreten sollen. Das
Gericht entschied anders: Brunner hatte in
einer Bedrohungssituation aus Notwehr ge-
handelt. Posthum wurden ihm zahlreiche
Ehrungen zuteil, unter anderem wurde er
mit dem Bayerischen Verdienstorden und
mit dem Bundesverdienstkreuz ausge-
zeichnet, Straßen und Plätze wurden nach
ihm benannt, am Bahnhof Solln wurde ein
Mahnmal errichtet, eine Schule trägt sei-
nen Namen. Dass Uli Hoeneß vor einem
Spiel in der Arena in Fröttmaning eine Ge-
denkminute für Brunner ausrief, schaffte
es sogar in die Tagesschau.
Der wegen räuberischer Erpressung zu
einer Bewährungsstrafe verurteilte 17-Jäh-
rige, der nicht an der Schlägerei beteiligt
war, stand vier Jahre später erneut vor Ge-
richt, weil er am Flaucher Jugendliche und
ihren Lehrer angegriffen hatte und ihnen
Getränke und eine Tüte Chips rauben woll-
te. Der wegen Körperverletzung mit Todes-
folge zu sieben Jahren verurteilte Mittäter
kam nach fünf Jahren wegen guter Füh-
rung frei. Der zur Tatzeit 18 Jahre alte
Haupttäter büßte seine Strafe voll ab. Seit
diesem Sommer ist auch er frei, muss aber
eine Fußfessel tragen. julian hans

Die offizielle Gründungsurkunde der Re-
gierung von Niederbayern datiert auf den



  1. November 2009. Der Name der neuen
    Organisation ist fett gedruckt: Dominik-
    Brunner-Stiftung. Knapp zwei Monate
    nach dem Tod des 50 Jahre alten Managers
    haben dessen Vater, Freunde und Arbeitge-
    ber einen großen Schritt getan, um nach
    dem Schock ein großes Anliegen zu ver-
    wirklichen. Sie wollten sicherstellen, dass
    Dominik Brunners Tod „nicht umsonst
    war“. Dass es weitergehe mit dem, wofür er
    gestanden habe: sich einsetzen, Haltung
    zeigen. So beschrieben Alois Meier, Peter
    Maier und Peter Hoffmann im Sommer
    2010 die Gründe, eine Stiftung für Zivilcou-
    rage ins Leben zu rufen.
    Zehn Jahre nach jenem Samstagnach-
    mittag, als zwei Jugendliche Brunner zu To-
    de prügelten, weil er vier Schüler vor ihnen
    schützen wollte, hat sich die Stiftung fest
    im Sozialgefüge der Stadt und auch weit
    darüber hinaus etabliert. In Ramersdorf
    steht zum Beispiel seit 2016 das Dominik-
    Brunner-Haus, in dem Kinder und Jugend-
    liche von klein auf Anleitung sowie schuli-
    sche und emotionale Hilfe bekommen, die
    ihre Eltern nicht leisten können. Etwa
    100 Plätze bietet das Haus, das von den Jo-
    hannitern ursprünglich gegründet wurde
    und bis heute betrieben wird. Mit einer
    Spende von etwa 3,3 Millionen Euro für
    das Grundstück und den Erweiterungsbau
    konnte die Dominik-Brunner-Stiftung die
    anfängliche Kapazität verdreifachen.
    Untrennbar verbunden sind diese ho-
    hen Summen mit einem prominenten
    Kuratoriumsmitglied, das auch zehn Jahre
    nach dem Tod Brunners noch in der Stif-
    tung aktiv ist: Uli Hoeneß, Präsident des
    FC Bayern, hatte schon eine Woche nach
    der Prügelattacke auf den Manager vor ei-
    nem Bayern-Heimspiel eine emotionale
    Rede gehalten, in der er Brunner als „Vor-


bild für Zivilcourage und Nächstenliebe“
bezeichnet hatte. Er steuerte nicht nur
selbst Spenden bei, sondern öffnete der
Stiftung auch Türen in der Stadt.
Der Erfolg der Stiftung beruhe auch dar-
auf, dass sie sich von Anfang an auf drei Be-
reiche konzentriert habe, sagt Andreas
Voelmle, stellvertretender Vorsitzender
des Vorstands: Aufklärung und Sensibili-
sierung für das Thema Zivilcourage, Ge-
waltprävention bei Kindern und Jugendli-
chen sowie Hilfe für zivilcouragiert han-
delnde Menschen. Zwei dieser drei Ziele
vereint etwa ein Projekt, das mittlerweile
in fast ganz Bayern Schule macht. Unter
dem Namen „Pack ma’s“ organisiert die
Stiftung zusammen mit dem Lehrerver-
band BLLV eine Fortbildung, die Gewalt
oder Mobbing an Schulen vorbeugen soll.
„Bisher haben etwa 3600 Lehrer mitge-
macht. Das ergibt eine stolze Zahl an Schü-
lern, die wir erreichen“, sagt Voelmle.
Wichtig ist der Stiftung auch, couragier-
te Menschen für ihr Einschreiten auszu-
zeichnen. Den Rahmen dafür bietet regel-
mäßig der FC Bayern, der diese Menschen
bei einem Heimspiel vor großem Publi-
kum vorstellt. Konkrete Hilfe gibt es für
Menschen, die ähnlich wie Dominik Brun-
ner wegen ihres Handelns attackiert wur-
den. Unter anderem finanzierte die Stif-
tung die Behandlung von Daniil Safin aus
Russland. Dieser wollte im Jahr 2012 in Be-
resniki Freundinnen vor einem Angriff
schützen und wurde selbst ins Koma geprü-
gelt. Auch wenn die Stiftung im Einzelfall
hilft und immer wieder die Menschen sen-
sibilisiert, am Ziel ist sie noch lange nicht,
wie der Vorstand zehn Jahre nach dem Tod
von Brunner schreibt: „Doch nach wie vor
gibt es viel zu tun in unserem Land, um der
Zivilcourage die Bedeutung zu verleihen,
die sie haben sollte. Das war, ist und bleibt
unsere Mission.“ heiner effern

In Gedenken an den Getöteten legten Menschen im September 2009 Teelichter
und Rosen auf eine symbolische Spirale der Gewalt aus Steinen. FOTO: DPA

Todestag von Dominik BrunnerVor zehn Jahren, am 12. September 2009, wurde der 50-jährige Geschäftsmann am


S-Bahnhof Solln zu Tode geprügelt. Das Verbrechen erschütterte Menschen in ganz Deutschland und wirkte sich auch


auf das Sicherheitsgefühl vieler Münchner aus. Bis heute geblieben ist eine Stiftung, die in seinem Namen Gutes tut


Was war


Zwei Jugendliche schlugen und traten Dominik Brunner zu Tode. Heute sind beide Täter wieder frei


„Das darf uns


nicht davon


abhalten zu helfen“


Ein couragierter Mann stirbt, weil er andere
beschützen wollte – wie wirkt sich das auf die
Menschen in einer Stadt aus? Kriminalrat
Arno Helfrich wirbt dafür, nicht wegzusehen

Dieses Denkmal am
S-Bahnhof in Solln soll
an Dominik Brunner
erinnern. Das Foto
rechts, aufgenommen
2009, zeigt sein Grab
auf dem Friedhof in
Ergoldsbach.
FOTOS: ROBERT HAAS, DPA

Was bleibt


Bis heute setzt sich die Stiftung für Zivilcourage ein


Arno Helfrich, 59, leitet
im Polizeipräsidium das
Kommissariat 105. Dort
werden Kontaktbeamte
ausgebildet, die an jeder
Polizeidienststelle regel-
mäßig Kurse für mehr
Selbstsicherheit und
Zivilcourage leiten.
FOTO: OH

Ein 18-Jähriger wurde wegen
Mordes verurteilt, sein jüngerer
Komplize kam glimpflicher davon

R2 (^) THEMA DES TAGES Donnerstag, 12. September 2019, Nr. 211 DEFGH

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