Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
München– 41beziehungsweise 43 Pro-
zent der Arbeitslosen, die Anfang Septem-
ber bei den Landtagswahlen in Sachsen
und Brandenburg zur Wahlurne gingen,
haben sich für die AfD entschieden. Dass
die Rechtspopulisten in beiden Bundes-
ländern zur zweitstärksten Kraft wurden,
haben diese also auch ihnen zu verdanken.
Doch was treibt viele Arbeitslose, darunter
vor allem Langzeitarbeitslose, dazu, die
AfD zu „ihrer“ Partei zu machen?
Der Evangelische Fachverband für Ar-
beit und soziale Integration und die Diako-
nie in Bayern sind in einer umfangreichen
Studie den Ursachen dieser Haltung auf
den Grund gegangen. Ihr Ergebnis: Das
Desinteresse von Politik und Gesellschaft
an ihrem Schicksal führt bei den Men-
schen zu einem tief empfundenen Gefühl,
ausgegrenzt zu sein, und lässt sie anfällig
werden für politisch extreme Positionen –
wenn sie überhaupt wählen gehen. Dabei
sind sie populistischen oder extremen Posi-
tionen nicht per se zugeneigt. Die AfD wird
fast ausschließlich als Protestpartei gese-
hen und vielfach auch als solche benutzt.
Befragt wurden 70 Langzeitarbeitslose.
Diese zeichnen demnach fast durchweg
ein pessimistisches Bild von der sozialen
und gesellschaftlichen Situation in
Deutschland. Besonders sensibel reagie-
ren sie auf die vorhandenen Desinte-
grationsprozesse und Verteilungskämpfe,
denn diese treffen sie härter als andere. Als
Gegenbild dient die stabile und „sozial

gerechte“ alte Bundesrepublik, für die die
Kanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt
und Helmut Kohl standen.
Zwar ist die Studie, die an diesem Mitt-
woch in Nürnberg vorgestellt wurde, nicht
repräsentativ für das Wahlverhalten der
derzeit rund 740 000 Langzeitarbeitslosen
in Deutschland. Doch sie ist laut Studien-
leiter Franz Schultheis „eine ganz besonde-
re“. Die ihr zugrunde liegenden Interviews
wurden dank einer besonderen Fragekon-
stellation „auf Augenhöhe“ geführt. Lang-
zeitarbeitslose wurden selbst zu Forschern
und befragten andere Langzeitarbeitslose
nach ihren Lebensumständen. So entstan-

den laut Schultheis, der Soziologie-Profes-
sor an der Universität St. Gallen ist, echte
Dialoge, deren Auswertung zeige, „dass
das, was man das Existenzminimum
nennt, in Wirklichkeit keine menschen-
würdige Existenz erlaubt, Menschen nicht
integriert, sondern sozial verwaltet und
ausgrenzt“. So hält sich eine Frau, die für
die Studie interviewt wurde, für „nicht
mehr so viel wert in der Gesellschaft“, da
sie keine Arbeitsstelle hat.
Nach Schultheis’ Ansicht kann die wich-
tigste Folgerung aus den Interviews daher
auch nur sein, das System Hartz IV wieder
rückgängig zu machen. Auch müsse die

Politik größere Anstrengungen unterneh-
men, um die Menschen wieder in die
Gesellschaft zu integrieren. Stichwort Job-
center: „Immer wieder ergebnislos nur
irgendwelche Trainings absolvieren zu
müssen, die einem die eigene Hilflosigkeit
vor Augen führen“, verstärke in den Men-
schen die Resignation und die Wut, sagte
Schultheis derSüddeutschen Zeitung.
Die Befragung für die Studie mit dem
Titel „Unerhört! Langzeitarbeitslose Nicht-
wähler melden sich zu Wort“ fand 2016
statt, also kurz nachdem Zehntausende
Flüchtlinge nach Deutschland kamen, was
das Erstarken der AfD erst möglich mach-
te. Bereits 2017 wurde daraus eine erste
Studie namens „Gib mir was, was ich wäh-
len kann“, in der in erster Linie die Motive
der prekären Nichtwähler erforscht wur-
den. Dabei habe man aber nur etwa zehn
Prozent des Materials wirklich sinnvoll ver-
arbeitet, meint Schultheis. Seitdem wur-
den die Interviews weiter untersucht und
in einer sogenannten transversalen Analy-
se nach Themen geordnet ausgewertet.
Das Verhältnis der Betroffenen zu den
bestehenden Parteien ist offenbar so
zerrüttet, dass viele angeben, keine Partei
zu haben, „der sie Vertrauen schenken
wollen“, betont Studienleiter Schultheis.
Gesucht wird nach einer Alternative. Einer
der Befragten forderte, es müsse eine Par-
tei entstehen, welche die Interessen aller
Arbeitslosen vertritt – und koalitionsfähig
ist. edeltraud rattenhuber

von daniel brössler und
robertroßmann

Berlin– Bevor alles losgeht, treffen sich
die beiden Frauen erst einmal in der Mitte.
Außerhalb des Bundestags ist Annegret
Kramp-Karrenbauer noch ziemlich weit
vom Kanzleramt entfernt. Auf der Regie-
rungsbank trennen sie seit der Ernennung
zur Verteidigungsministerin dagegen nur
noch fünf Stühle vom Sessel Angela Mer-
kels. Und weil die beiden wissen, wie wich-
tig Bilder sind, gehen sie an diesem Mor-
gen demonstrativ aufeinander zu. Hinter
dem Rücken von Peter Altmaier begrüßen
sie sich so lange, bis auch der letzte Foto-
graf sein Bild gemacht hat.
Angela Merkel ist bald 14 Jahre Kanzle-
rin. Sie weiß vermutlich selbst nicht so ge-
nau, wie viele Generaldebatten sie bereits
bestritten hat. Aber diese ist dann doch ei-
ne besondere: Zum ersten Mal hat die Kanz-
lerin dabei eine CDU-Chefin neben sich sit-
zen. Und dann ist da ja auch noch die SPD.
Niemand weiß, ob die Sozialdemokraten
das Weihnachtsfest noch im Schoß der gro-
ßen Koalition feiern. Wie werden sie in der
Generaldebatte mit der Kanzlerin umge-
hen? Giftig – oder wie ein treuer Koalitions-
partner?
Um neun Uhr eröffnet Bundestagspräsi-
dent Wolfgang Schäuble die Debatte. Erst
am Vorabend hat er wieder ein bisschen ge-
zündelt. Da hat die Unionsfraktion ihr
70-jähriges Bestehen gefeiert. Und Schäub-
le, er war wie Merkel auch einmal Frakti-
onschef, hat bei der Feier gesagt: „Übri-
gens: Auch Helmut Kohl betrachtete seine
Jahre als Fraktionsvorsitzender im Rück-
blick als die mit Abstand schwierigsten sei-
nes politischen Lebens – eine wichtige Aus-
sage, denn schließlich hat er im Laufe sei-

nes politischen Lebens viele dicke Bretter
gebohrt. Er beschrieb übrigens diese Zeit
ausdrücklich als politische Lehrjahre. Er
war überzeugt, ohne Kenntnis der inter-
fraktionellen Abläufe könne man das Amt
des Bundeskanzlers nicht übernehmen –
und ich vermute mal, Frau Merkel, Sie wür-
den ihm gar nicht widersprechen.“ Diesen
historischen Exkurs konnte man als Spitze
gegen Kramp-Karrenbauer verstehen, die
ins Kanzleramt will, obwohl sie nicht ein-
mal einfache Bundestagsabgeordnete ist.

Die erste, der Schäuble in der Generalde-
batte das Wort zu erteilen hat, ist Alice Wei-
del. Die AfD-Fraktionschefin zeichnet ein
düsteres Bild Deutschlands. Mit dem Aus-
stieg aus Kohle und Kernenergie sowie ei-
ner „im Kern grün-sozialistischen Ideolo-
gie“ ruiniere die Regierung gerade das
Land, sagt sie. Die große Koalition zerstöre
„die Grundlage unseres Wohlstandes“.
Auch die Flüchtlingspolitik sei katastro-
phal. Die Regierung wolle für Migranten
aus Afrika „einen staatlichen Wassertaxi-
Dienst“ nach Europa einrichten. Zudem ste-
he Deutschland wegen der Nullzinspolitik
„vor einem gewaltigen Bankencrash“. Kom-
men werde eine Währungsreform, „bei der
die Menschen alles verlieren werden“.
Dafür erntet sie zwar vereinzelt Zwi-
schenrufe aus den anderen Fraktionen.
Aber diesmal scheint sich die Mehrheit im
Parlament eher auf die Devise verständigt
zu haben: Die ignorieren wir noch nicht ein-
mal. So hält es auch die Kanzlerin, die nach
Weidel ans Redepult darf. Merkel macht so-

gleich klar, um was es ihr geht. „Wenn wir
den Klimaschutz vorantreiben, wird es
Geld kosten – dieses Geld ist gut einge-
setzt“, sagt sie. Denn nichts zu tun würde
mehr Geld kosten – und sei deshalb keine
Alternative. Dabei lässt die Kanzlerin je-
doch offen, wie der Bund die geschätzten
Kosten von 50 Milliarden Euro finanzieren
kann, ohne die schwarze Null aufzugeben.
Bei den Investitionen sei das Problem „im
Augenblick nicht der Mangel an Geld“, sagt
Merkel mit Blick auf Forderungen nach ei-
nem Konjunkturpaket. Im Wohnungs-
und Straßenbau und beim Ausbau der digi-
talen Infrastruktur könnten viele Projekte
deshalb nicht realisiert werden, weil es in
Deutschland an „Planungskapazität“ feh-
le. Da müsse man ansetzen.
Das zweite große Thema der Kanzlerin
ist die Außenpolitik. Die Rivalität zwischen
den USA und China sowie das geostrategi-
sche Erstarken Russlands habe tiefgreifen-
de Folgen für die EU, sagt Merkel. Europa
müsse deshalb auch in der Verteidigungs-
politik selbständiger werden. Vor allem
aber müsse Europa technologisch wieder
in allen Bereichen Weltmaßstab werden.
Am Ende ihrer Rede geht Merkel dann
aber auch noch auf die zunehmende Spal-
tung in Deutschland ein. „Das, was wir täg-
lich erleben: Angriffe auf Juden, Angriffe
auf Ausländer, Gewalt und auch verhasste
Sprache – das müssen wir bekämpfen“,
sagt sie. „Wenn nicht klar ist, dass es in die-
sem Land null Toleranz gegen Rassismus,
Hass und Abneigung gegen andere Men-
schen gibt, dann wird das Zusammenleben
nicht gelingen.“ Es ist die Passage ihrer Re-
de, für die sie den größten Beifall aus der
SPD-Fraktion erhält.
Auch sonst gehen die Sozialdemokraten
an diesem Mittwoch überraschend freund-

lich mit der Kanzlerin um. Rolf Mützenich,
kommissarischer Chef der SPD-Fraktion,
verzichtet in seiner Rede auf jeden direk-
ten Angriff, und er stellt auch keine Bedin-
gungen für die Fortführung der Koalition.
Stattdessen wärmt der Kölner zunächst
mit Bezügen auf die Geschichte der Sozial-
demokratie das Herz seiner Genossen.
„Wir haben uns niemals weggeduckt“, sagt
Mützenich, „gerecht zu regieren ist die
Grundlage unseres Handelns.“ Er hält ein
Plädoyer für die Bedeutung des Staates,
verlangt „ein größeres finanzielles Funda-
ment“ für ihn, damit er handlungsfähig
sein kann. Denn der Markt alleine könne
die Herausforderungen nicht bewältigen,
sagt Mützenich. Außerdem warnt er ange-
sichts der zunehmenden internationalen
Konflikte vor „militärischen Antworten“.
Das gilt natürlich auch der neuen Vertei-
digungsministerin. In der Generaldebatte
aber darf Kramp-Karrenbauer noch gar
nicht reden. Sie ist ja keine Abgeordnete
und der Verteidigungsetat steht erst später
auf der Tagesordnung. Als Kramp-Karren-
bauer am Nachmittag endlich selbst an die
Reihe kommt, muss sie sich von fast allen
Rednern an die Schwierigkeit ihres Amtes
erinnern lassen – und von einigen auch dar-
an, dass es von da keinen direkten Weg ins
Kanzleramt gebe. Es ist, von der Anspra-
che nach ihrer Vereidigung abgesehen,
Kramp-Karrenbauers erste Rede als Minis-
terin. Sie lobt die Soldatinnen und Solda-
ten, beschwört die Aufgaben der Bundes-
wehr in einer unsicheren Welt und mahnt
weitere Etatsteigerungen an. „Die Bundes-
kanzlerin beschrieb heute Morgen die Si-
tuation in der Welt“, ist Kramp-Karrenbau-
ers erster Satz. Den kann man auch so ver-
stehen, dass sie da anschließen möchte,
wo die Kanzlerin aufgehört hat.  Seite 4

Kiel– Die Regierungsfraktionen von
CDU, Grünen und FDP haben im Innen-
und Rechtsausschuss des schleswig-hol-
steinischen Landtages der Volksinitiati-
ve bezahlbares Wohnen eine Absage
erteilt. Die Initiative fordert, ein Recht
auf angemessenen Wohnraum in der
Landesverfassung zu verankern. Fast
40 000 Unterschriften hat die Volksiniti-
ative gesammelt – doppelt so viele wie
erforderlich für eine Befassung im Land-
tag. Die Jamaika-Koalition argumen-
tiert, ein solches nicht einklagbares
Recht nütze niemandem. Nun muss
sich das Parlament inhaltlich zur Volks-
initiative positionieren. Letzter Schritt
wäre ein Volksentscheid, falls der Land-
tag nicht von sich aus die Verfassung
entsprechend ändert. dpa


Gefährliches Desinteresse


Forscher haben Langzeitarbeitslose zu ihrem Selbstbild befragt – und warum so viele von ihnen AfD wählen


Lehrjahre und Kanzlerinnenjahre


Annegret Kramp-Karrenbauer und Angela Merkel reden zum ersten Mal beide im Bundestag – die eine
muss sich mehrfach an die Schwierigkeiten ihres Amts erinnern lassen, die andere wird eher freundlich angefasst

Berlin– Nach den jüngsten judenfeind-
lichen Angriffen fordert der Antisemitis-
musbeauftragte der Bundesregierung,
Felix Klein, eine Verschärfung des Straf-
rechts. Damit werde auch ein „politi-
sches Zeichen“ gegen solche Taten ge-
setzt, sagte Klein demTagesspiegel.
Klein verwies darauf, dass nach den
NSU-Morden ein Paragraf in das Straf-
gesetzbuch aufgenommen wurde, der
es ermöglicht, rassistisch und fremden-
feindlich motivierte Taten besonders
schwer zu ahnden. Er sprach sich dafür
aus, antisemitische Motive ebenfalls
mit aufzunehmen, denn Antisemitis-
mus sei „eine besondere Form der Dis-
kriminierung, keine Unterkategorie von
Rassismus.“ Zudem forderte Klein mehr
und besser geschultes Personal. „Poli-
zei und Staatsanwaltschaft müssen
endlich in die Lage versetzt werden,
diese Fälle wirklich zu verfolgen, und
zwar schnell“, sagte er. kna


Wiesbaden– Die Berliner Bevölkerung
hat im bundesweiten Vergleich den
größten Anteil hoch qualifizierter Ein-
wohner: 42 Prozent der 25- bis 64-Jähri-
gen haben studiert oder eine Ausbil-
dung zum Meister, Techniker oder Erzie-
her absolviert. Das teilte das Statisti-
sche Bundesamt in Wiesbaden am Mitt-
woch in einem Bericht mit, der auf Zah-
len von 2018 beruht. Auf Platz 2 lag ein
weiterer Stadtstaat – in Hamburg zähl-
ten rund 37 Prozent zu den Hochqualifi-
zierten. Bundesweit hat fast jeder Dritte
(29 Prozent) einen Hochschulstudien-
gang oder ein berufsorientiertes Bil-
dungsprogramm an Akademien oder
Fachschulen absolviert. In allen Bundes-
ländern streben mehr junge Menschen
hohe Bildungsabschlüsse an: 2017 nah-
men sechs von zehn Menschen eines
Altersjahrgangs ein Hochschulstudium
oder eine ähnlich hoch qualifizierende
Ausbildung auf, 2006 lag die Quote
noch bei 43 Prozent. dpa


Berlin– Linksfraktionschefin Sahra
Wagenknecht gewährt in einer Biogra-
fie tiefe Einblicke in die Beweggründe
für ihren Rückzug aus der ersten Reihe.
Wagenknecht hatte wegen Burn-out
Anfang des Jahres eine Auszeit genom-
men und dann angekündigt, nicht er-
neut als Fraktionsvorsitzende zu kandi-
dieren. Die Auszeit sei ihr vom Arzt
verordnet worden, Wagenknecht habe
in dieser Zeit sogar darauf verzichtet,
ihre E-Mails zu lesen, schreibt Autor
Christian Schneider in dem Buch „Sah-
ra Wagenknecht – Die Biografie“. Es
erscheint an diesem Donnerstag. Dem
Verlag zufolge gewährte die Fraktions-
chefin dem Autor Zugang zu ihrem
engsten Kreis, unter anderem zu ihrer
Mutter – was sie der Deutschen Presse-
Agentur bestätigte. Während der Krank-
heit und Zwangspause von der Politik
seien Wagenknecht auch die Grenzen
ihrer politischen Fähigkeiten bewusst
geworden. Sie könne Menschen gewin-
nen, aber letztlich sei ihr das politische
Handwerk fremd, zitiert Schneider die
50-Jährige. „Also, den Apparat zu be-
herrschen, das liegt mir nicht. Die Frak-
tion zu führen, das macht eigentlich
Dietmar Bartsch. Und das gehört ja
eigentlich zur Politik: Leute zusammen-
holen, zu strukturieren, mit Leuten
umzugehen.“ Eigentlich sei sie gar kei-
ne Politikerin, wird Wagenknechts Mut-
ter in der Biografie zitiert. Diese Ein-
schätzung, heißt es in dem Buch, teile
auch ihr Ehepartner Oskar Lafontaine
(Linke) „in mancher Hinsicht“.dpa


Frankfurt– Bundesgesundheitsminis-
ter Jens Spahn (CDU) will die Personal-
vorgaben für Krankenhäuser verschär-
fen. Von 2020 an sollen auch in der
Herzchirurgie und Neurologie sowie in
„Stroke Units“ zur Behandlung von
Schlaganfallpatienten Personalunter-
grenzen gelten. Das berichtete die
Frankfurter Allgemeine Zeitungunter
Berufung auf einen ihr vorliegenden
Verordnungsentwurf. Die Zahl der Be-
schäftigten in den Kliniken habe mit
dem wachsenden Betreuungsbedarf der
Patienten nicht Schritt gehalten. Die
Grenzen sind umstritten. Einerseits
sollen sie die Behandlungsqualität der
Patienten sichern, andererseits legen
Klinken nun vielfach Betten aus Perso-
nalmangel still und können deshalb
weniger Patienten versorgen. Bereits
seit Januar gelten für Intensivstationen,
Unfallchirurgie, Kardiologie und Geria-
trie Untergrenzen. kna


Berlin– Sechs Journalisten haben am
Mittwoch die saudische Botschaft betreten


  • und alle sechs sind eine Stunde später le-
    bend wieder herausgekommen. Ein knap-
    pes Jahr nach der Ermordung von Jamal
    Khashoggi, des Journalisten derWashing-
    ton Post, der sieben Minuten, nachdem er
    das saudische Konsulat in Istanbul betre-
    ten hatte, erstickt und später mit einer Kno-
    chensäge zerteilt wurde, sind nun saudi-
    sche Geheimdienstler und Beamte der Ter-
    rorbekämpfung nach Berlin gekommen,
    um mit ihren deutschen Partnern und mit
    Parlamentariern zu sprechen. Und auch,
    um in der Botschaft vor Journalisten ihre
    Deutung der politischen Situation zu ver-
    breiten: Es sei an der Zeit, wieder zur Nor-
    malität deutsch-saudischer Zusammenar-
    beit zurückzukehren.
    Nach Khashoggis Ermordung war welt-
    weit protestiert worden, Deutschland hat-
    te eine Ausbildungsmission der Bundespo-
    lizei in Saudi-Arabien gestoppt. Vor weni-
    gen Tagen erklärte die Bundesregierung,
    die Mission werde nun wieder fortgeführt.
    „Es gehört eindeutig zu unseren Interes-
    sen, dass im arabischen Raum Grenzen
    sicher sind und nicht für Terroristen durch-
    lässig“, begründete Regierungssprecher
    Steffen Seibert am Montag die Entschei-
    dung und bestätigte damit eine Meldung
    desSpiegel. Die deutsche Außenpolitik sei
    von Werten, aber auch von Interessen gelei-
    tet. Wann genau die Mission der Bundespo-
    lizei wieder startet, kläre man noch.


Schon seit 2009 lief die Ausbildungsun-
terstützung, damals hatte Saudi-Arabien
große technische Anlagen für Passkontrol-
len und die Überwachung von Grenzregio-
nen bei deutschen Herstellern gekauft –
unter der Bedingung, dass die deutschen
Fachleute ihre saudischen Kollegen anler-
nen würden. Zuletzt hatte das Büro der
Bundespolizei in Riad drei Mitarbeiter, die
saudische Grenzbeamte schulten, bis sie
dies im Oktober 2018 aussetzten.
Das Thema Grenzschutz hat für Saudi-
Arabien zuletzt stark an Bedeutung gewon-
nen, vor allem wegen der langen gemeinsa-
men Grenzen mit dem Irak und Jemen.
Zum Irak hin wird seit Jahren ein Zaun
gebaut, streckenweise auch eine Mauer,
dabei geht es offiziell vor allem darum, die
Einwanderung von Dschihadisten nach
Saudi-Arabien zu unterbinden sowie auch
die Ausreise von saudischen Extremisten.
Gleichzeitig wehrt Saudi-Arabien Flüchtlin-
ge ab, das Land besteht auch darauf, dass
niemand ein einklagbares Recht auf Zu-
flucht habe, die Genfer Flüchtlingskonven-
tionen hat es nicht ratifiziert. Nur im Rah-
men der Arbeitsmigration gibt es eine Chan-
ce, zum Beispiel für Syrer: Syrische Arbeits-
migranten, die sich bereits in Saudi-Arabi-
en befanden, durften in gewissem Ausmaß
ihre Familienangehörigen nachholen.
Formal handelt es sich bei der Ausbil-
dung durch die Bundespolizei um keine mi-
litärische Maßnahme. Dennoch hat die jet-
zige Entscheidung Berlins einige Symbol-
kraft: Deutschland bewegt sich ein knap-
pes Jahr nach dem Khashoggi-Mord wie-
der auf Saudi-Arabien zu. Vor allem der
Rüstungskonzern Airbus – aber auch das

Innenministerium – hatten darauf gedrun-
gen, das Programm wieder aufzunehmen.
Saudi-Arabien gilt manchen in den deut-
schen Sicherheitsbehörden als wichtiger
Partner, dank Hinweisen aus Saudi-Arabi-
en seien in Deutschland schon Terroran-
schläge verhindert worden, heißt es zum
Beispiel zur Begründung. Andere schüt-
teln über das Land eher angewidert den
Kopf. Und das nicht erst seit der brutalen
Tat im Istanbuler Konsulat, die eine UN-
Sonderberichterstatterin als „außerge-
richtliche Hinrichtung“ bezeichnete. Der
türkische Staatspräsident Recep Tayyip
Erdoğan sorgte persönlich dafür, dass das
Berliner Kanzleramt über die grausigen
Details der Exekution informiert wurde.
Vor allem in der SPD legt man Wert dar-
auf, dass die Wiederaufnahme der Mission
nicht als Ouvertüre für eine neue Entspan-
nung verstanden wird. Das Waffenmorato-
rium aufgrund des Jemenkrieges und der
Ermordung Khashoggis gelte nach wie vor,
heißt es. Die Frage einer Verlängerung des
Moratoriums steht wieder auf der Tages-
ordnung, wenn im Herbst der Bundes-
sicherheitsrat zusammentritt. Als wahr-
scheinlich gilt eine Verlängerung der bishe-
rigen Linie: keine großen Exporte mehr
aus Deutschland selbst, aber weiterhin Zu-
lieferungen für europäische Rüstungspro-
jekte, deren Abnehmer Riad ist.
georg mascolo, ronen steinke

Im Rücken von Peter Altmaier begrüßen sich demonstrativ CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und ihre Vorgängerin Angela Merkel. FOTO: JOHN MACDOUGALL / AFP

DEFGH Nr. 211, Donnerstag, 12. September 2019 (^) POLITIK HF3 5
Nein zur Wohnraum-Initiative
Der saudische Kronprinz Mohammed bin
Salman wirdverdächtigt, den Mord an
Khashoggi mitzuverantworten. FOTO: DPA
Klimaschutz werde Geld kosten,
sagt Merkel. Wie genau sie ihn
finanzieren will, lässt sie offen
Jobcenter als Sackgasse: Viele Langzeitarbeitslose haben das Gefühl, dass sich Poli-
tik und Gesellschaft kaum für ihr Schicksal interessieren. FOTO: DANIEL BOCKWOLDT / DPA
Der Grenzschutz ist Saudi-Arabien
wichtig – und Deutschland auch
Härtere Strafen für Attacken
Schlaues Berlin
Wagenknecht erklärt sich
Weitere Vorgaben für Kliniken
Das Ende der
Schamfrist
Ein Jahr nach dem Khashoggi-Mord
sind Riad und Berlin wieder Partner
INLAND

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