Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
von hubert wetzel

Washington– Sollte ein Deutschlehrer je-
mals nach einem Beispiel suchen, um sei-
nen Schülern den Unterschied zwischen
„plötzlich“ und „überraschend“ zu erklä-
ren, so würde sich die Entfernung von John
Bolton aus dem Amt des Nationalen Sicher-
heitsberaters dafür hervorragend eignen.
Ob es nun (so die Version von US-Präsident
Donald Trump) ein Rauswurf war oder (so
die Version von Bolton) doch eine freiwilli-
ge Kündigung, ist in diesem Zusammen-
hang eher zweitrangig. Sicher ist: Boltons
Abgang kam plötzlich – in dem Sinn, dass
niemand in Washington am Dienstagmit-
tag mit dem Tweet des Präsidenten gerech-
net hatte, in dem dieser Boltons Entlas-
sung verkündete.
Überraschend in dem Sinn, dass alle
sich verwundert am Kopf kratzten und rät-
selten, warum nun Trump ausgerechnet
jetzt seinen Sicherheitsberater gefeuert
hat, war die Sache freilich nicht. „Eigent-
lich war es eins der am wenigsten unerwar-
teten Ereignisse, die bisher passiert sind“,
sagt ein gut vernetzter Außenpolitiker in
Washington. „Seit Monaten ist klar, dass
Bolton und der Präsident bei vielen The-
men fundamentale Meinungsunterschie-
de haben, dass Bolton nur wenig Einfluss
hat und dass er Trump zunehmend auf die
Nerven geht.“ Und wenn dem Präsidenten
ein Mitarbeiter auf die Nerven geht und da-
zu noch eine andere Meinung hat, dann
fliegt er raus. Dieses Schicksal teilt Bolton
nun mit seinem Amtsvorgänger H.R.
McMaster sowie mit diversen Ministern
und Stabschefs, die einmal bei Trump an-
gestellt waren.


Andererseits waren die Meinungsunter-
schiede zwischen Trump und Bolton wohl
tatsächlich so groß und fundamental, dass
eine Weiterbeschäftigung auf einem so
wichtigen Posten wie dem des Sicherheits-
beraters sinnlos war. Bolton, ein bekennen-
der Falke, hielt wenig von Trumps Versu-
chen, mit Nordkoreas Diktator Kim Jong-
un, dem Regime in Teheran oder den afgha-
nischen Taliban durch Verhandlungen ins
Geschäft zu kommen. Er hatte schon lange
vor seiner Berufung zum Sicherheitsbera-
ter für militärische Präventivschläge ge-


gen Nordkorea und Iran geworben, um de-
ren Atomwaffenprogramme zu zerstören.
Auch die Anbiederung des Präsidenten an
den russischen Kollegen Wladimir Putin
war ihm zuwider.
Und Bolton hielt mit seiner abweichen-
den Meinung allenfalls halbherzig hin-
term Berg. Mehr noch: Gelegentlich sah es
so aus, als wolle er Trump ausmanövrie-
ren. Als zum Beispiel im Frühsommer die
Spannungen zwischen Washington und Te-
heran zu eskalieren drohten, hatte Trump
wohl nicht völlig zu Unrecht den Verdacht,
dass Bolton versuchte, ihn gegen seinen er-
klärten Willen in einen militärischen Kon-
flikt mit Iran zu steuern. Trump sagte das
damals auch offen, wenn auch in einem
scherzhaften Ton. Aber dass der Präsident
und sein Sicherheitsberater über Kreuz la-
gen, war deutlich sichtbar.

Es gab noch andere Anzeichen, dass Bol-
tons Stuhl wackelte. Als Trump im Februar
in Hanoi Kim Jong-un traf, war der Sicher-
heitsberater nicht dabei. Er war auf eine
Dienstreise in die Mongolei geschickt wor-
den – ein deutlicher Affront. Mit dem Präsi-
denten nach Hanoi reiste dagegen der Fox-
News-Moderator Tucker Carlson, dessen
Ansichten die Stimmung an der republika-
nischen Wählerbasis recht zuverlässig wi-
derspiegeln und der Trump seit Monaten
warnt, sich nicht von Bolton in einen neuen
Krieg im Nahen Osten treiben zu lassen.
Vor einigen Tagen berichtete dann dieWa-
shington Post, dass Bolton zu einem wichti-
gen Treffen im Weißen Haus nicht eingela-
den worden sei, bei dem es um die Verhand-
lungen mit den Taliban in Afghanistan
ging. Trump wollte ein Friedensabkom-
men mit den Islamisten erreichen, um
nach 18 Jahren Krieg die US-Truppen aus
Afghanistan abziehen zu können. Bolton
war gegen diese Gespräche mit dem Feind.
Berichten zufolge trug dieser Wider-
stand gegen die Afghanistan-Verhandlun-
gen am Ende entscheidend dazu bei, dass
der Präsident Bolton rauswarf. Nachdem
am vergangenen Wochenende Trumps
Plan gescheitert war, die Taliban-Anführer
zu einer Art großem Friedensgipfel nach
Camp David einzuladen, geisterte durch
die Medien die Darstellung, dass Bolton
das Treffen verhindert habe, um dem Präsi-
denten eine Peinlichkeit zu ersparen. Das

gefiel Trump überhaupt nicht – die Kündi-
gung folgte dann prompt.
Dass Bolton Trump nicht zu Militärakti-
onen überreden konnte, heißt nicht, dass
er völlig einflusslos war. Bei den Themen,
bei denen er mit Trump übereinstimmte
oder die den Präsidenten nicht interessier-
ten, formte Bolton die Außenpolitik nach
seinen Vorstellungen. Das galt für die Kün-
digung des INF-Vertrags mit Russland, ei-
nes der wichtigsten Rüstungskontrollab-
kommen aus dem Kalten Krieg, aber auch

für die feindliche Haltung, welche die USA
gegenüber UN-Organisationen und dem
Internationalen Strafgerichtshof einnah-
men. Auch was die Unterstützung für Isra-
els Premier Benjamin Netanjahu anging, la-
gen beide auf einer Linie.
Wer Bolton nachfolgen soll, ist noch un-
klar. US-Medien berichten, dass unter den
möglichen Kandidaten auch Richard Gre-
nell ist, der derzeitige US-Botschafter in
Deutschland. Die meisten Beobachter sind
sich einig, dass Trump keinen starken Si-

cherheitsberater will, schon gar keinen,
der ihm widerspricht. Der Präsident habe
Bolton im April 2018 vor allem deswegen
als Berater ausgewählt, weil dieser
Trumps ruppigen Umgang mit verbünde-
ten wie verfeindeten Staaten bei Fox News
so eloquent gelobt habe, sagt ein Außenpo-
litiker. Trump im Fernsehen zu verteidi-
gen, ist eine Hauptaufgabe seiner Mitarbei-
ter. Dass Bolton sich später zuweilen gewei-
gert hat, das zu tun, dürfte seine Kündi-
gung beschleunigt haben.  Seite 4

Flieg,


Falke


John Bolton hielt von Donald Trumps Verhandlungstaktiken
nichts. Auch deshalb musste der Sicherheitsberater gehen

Istanbul– Zuerst war da nur die Kurdin
Hacire Akar. Sie wolle ihren Sohn Mehmet
zurück, sagte sie, die militante PKK habe
ihn „entführt“. Akar, weißes Kopftuch, bun-
ter Rock, setzte sich auf die Stufen der
Parteizentrale der legalen Kurdenpartei
HDP in Diyarbakır, und versprach, nicht
eher zu weichen, bis ihr Sohn zurück sei.
Drei Tage später, in der letzten Augustwo-
che, tauchte der 21 Jahre alte Kurde wieder
auf. Man habe ihn „zwangsverheiraten“
wollen, deshalb sei er von zu Hause abge-
hauen, zitierte ihn eine kurdische Agentur.
Ungeachtet dessen hat sich der Eingang
der HDP-Zentrale in der kurdischen Stadt
zu einer Protestplattform entwickelt.
Am Mittwoch waren es fast 20 Mütter
und Väter, die dort verlangten, die PKK,
die in der Türkei wie in der EU als Terror-
organisation gilt, solle ihre Söhne „zurück-
geben“. Sie werfen der HDP vor, diese habe
geholfen, ihre Kinder „zu radikalisieren“,
sie „ermutigt“, sich der PKK anzuschlie-
ßen. Für die türkische Regierung kommt


dieser Mütterprotest wie gerufen, alle
staatsnahen Sender berichten täglich.
Denn Innenminister Süleyman Soylu hatte
erst jüngst die neu gewählten HDP-Bürger-
meister von Diyarbakır, Mardin und Van,
abgesetzt – ohne Gerichtsurteil, wegen
angeblicher Terrorunterstützung. Nun
laufen staatsanwaltschaftliche Ermittlun-
gen. Das IslamistenblattYeni Akitversucht

schon ein Verbot der HDP herbeizuschrei-
ben. Die HDP hatte bei der jüngsten Kom-
munalwahl in mehreren Großstädten der
säkularen Opposition zu spektakulären
Siegen mitverholfen, auch in Istanbul und
Ankara, wo zuvor 25 Jahre konservative
Bürgermeister amtierten. Im Wahlkampf
hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan der
gesamten Opposition bereits „Terrornä-

he“ vorgeworfen, weil sie sich – ohne for-
melles Bündnis – von der HDP helfen ließ.
In Diyarbakır schützt die Polizei jetzt
den Zugang zum HDP-Gebäude. Die Partei-
spitze erklärte, die protestierenden Mütter
folgten „Anweisungen“ Erdoğans und Soy-
lus. Sie sollten ihren Protest statt vor der
HDP im Parlament vortragen. Der frühere
Abgeordnete der Kurdenpartei und Ehren-
vorsitzende der Menschenrechtsorganisa-
tion IHD, Akın Birdal, sagte, Menschen-
rechtsorganisationen seien die richtige
Adresse für den Protest.
Das Verhältnis zwischen der HDP und
der PKK war selten einfach. Die HDP
spricht sich gegen Gewalt aus, bis heute
haben sich einige ihrer Mitglieder aber nie
vollständig von der PKK distanziert. Es
gibt Bilder kurdischer Abgeordneter, die
sich mit PKK-Kämpfern ablichten ließen.
In einem Interview mit derSüddeutschen
Zeitungsagte der derzeit inhaftierte frühe-
re HDP-Chef Selahattin Demirtaş 2016:
„Wir akzeptieren ihre Gewalt nicht. Wir

sind auch absolut nicht der politische Arm
der PKK.“ Demirtaş nannte die PKK „eine
Gewaltorganisation“, die als Reaktion auf
die Gewalt des Staates entstanden sei. In
40 Jahren sind dem Kampf zwischen PKK
und türkischem Staat rund 40 000 Men-
schen zum Opfer gefallen. Der letzte Frie-
densversuch endete 2015. Auch der Syrien-
krieg hat die Gräben vertieft. Die syrische

Kurdenmiliz YPG kontrolliert an die Tür-
kei angrenzende Gebiete. Die YPG gibt
trotz ideologischer und personeller Nähe
zur PKK an, politisch unabhängig zu sein,
was ihr die Regierung in Ankara aber nicht
glaubt. Auch gegen die YPG gibt es Vorwür-
fe, sie habe Jugendliche rekrutiert. Zuletzt
war dies im Juli in einem UN-Bericht zu
lesen. Davor hatte auch Human Rights

Watch diesen Vorwurf erhoben. In
Diyarbakır sagte Ayşegül Biçer, eine der
protestierenden Mütter, türkischen Jour-
nalisten, ihr 18-jähriger Sohn Mustafa
habe im vergangenen November das Haus
verlassen. Zwei Tage später habe er angeru-
fen, da sei er bereits bei der YPG gewesen.
Seitdem habe sie nichts mehr von ihm
gehört. „Warum nimmt mein Sohn eine
Waffe in die Hand, wenn er auch einen Stift
halten könnte?“, fragte Biçer.
Auch vor der Aktion in Diyarbakır gab es
immer wieder einzelne Proteste. Mütter
forderten ihre Söhne auf, sich den Sicher-
heitsbehörden zu ergeben. Aytekin Yılmaz,
ein früherer PKK-Mann, der Bücher über
die Organisation schrieb, sagte dem türki-
schen Programm der Deutschen Welle,
einige junge Kurden schlössen sich freiwil-
lig der PKK an, andere allerdings „unter
Zwang“. Früher seien Eltern, die sich dar-
über bei der Polizei beklagten, dort selbst
wie Terroristen behandelt und festgenom-
men worden. christiane schlötzer

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auchden Podcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

Am Dienstag führte John Bolton, der geschasste Sicherheitsberater von US-Präsident Donald
Trump, noch einige Telefonate im Weißen Haus. Mittlerweile wird er um den Sitz seines
einstigen Vertrauten wohl eher einen Bogen machen.FOTO: TOM BRENNER/BLOOMBERG

London/Calais– Insgesamt 86 Migranten
sind an einem einzigen Tag bei der Über-
querung des Ärmelkanals mit kleinen Boo-
ten von Frankreich nach Großbritannien
aufgegriffen worden. Nach Angaben der
britischen Nachrichtenagentur PA handelt
es sich dabei sehr wahrscheinlich um eine
Rekordzahl; das Innenministerium konnte
dies am Mittwoch zunächst nicht bestäti-
gen. Man arbeite auf allen Ebenen mit den
französischen Behörden zusammen, „um
dieses gefährliche und illegale Handeln zu
bekämpfen“, teilte das Ministerium in Lon-
don mit.
Die Migranten stammten nach eigenen
Angaben unter anderem aus Iran, Afgha-
nistan und Pakistan. Viele Schlepperban-
den sollen demnach behaupten, dass eine
Überquerung des Ärmelkanals nach dem
geplanten EU-Austritt Großbritanniens
nicht mehr möglich sei. Seit vergangenem
Januar hätten rund 1500 Menschen ver-
sucht, illegal den Ärmelkanal zu überque-
ren, berichtete die französische Nachrich-
tenagentur AFP unter Berufung auf fran-
zösische Behördenangaben. Das sei eine
starke Steigerung. Im ganzen Jahr 2018 sei-
en es noch 586 gewesen.
Die Meerenge gilt als einer der weltweit
am stärksten befahrenen Seewege. „Den
Ärmelkanal in einem kleinen Boot zu über-
queren ist sehr riskant“, betonte das briti-
sche Innenministerium. Zwei Gruppen sei
es sogar gelungen, aus eigener Kraft am
Strand zu landen, bevor sie festgenommen
worden seien.
Auch am Mittwoch wurden wieder Mi-
granten in Booten aufgegriffen. Im August
hatten die britische Innenministerin Priti
Patel und ihr französischer Kollege Christ-
ophe Castaner vereinbart, die gemeinsa-
men Maßnahmen im Kampf gegen die
Schlepperbanden und Überquerungen zu
intensivieren. Nach Angaben vonseiten
des britischen Innenministeriums wurden
seit Januar mehr als 70 Migranten, die ille-
gal in kleinen Booten auf der Insel ange-
kommen waren, in europäische Länder ab-
geschoben. dpa

Wien– Im Wahlkampf spricht Sebastian
Kurz gern übers Geld: Wie groß die Entlas-
tung für die Steuerzahler werden soll, wie
hoch der Bonus für Familien ist. Doch in
diesen aufgewühlten Wochen verfolgt ihn
in Sachen Finanzen stets noch ein ganz an-
deres, weitaus unangenehmeres Thema.
Dabei geht es um die Ausgaben und Ein-
nahmen seiner Österreichischen Volkspar-
tei (ÖVP) – und dort liegt offenbar man-
ches im Argen und vieles im Verborgenen,
was das Wiener MagazinFalternun in eine
alarmierend-alliterierende Titelzeile ge-
presst hat: „Schulden, Spenden, Spesen“.
Beim tiefen Blick in die Finanzen der
Volkspartei beruft sich das Magazin auf
große Datenmengen – Kontoauszüge, Ab-
rechnungen, Gehaltslisten, vertraulichen
Schriftverkehr –, die ihm von einer anony-
men Quelle zugespielt worden seien. Auf
dieser Basis war bereits in der Vorwoche
über eine „doppelte Buchführung“ berich-
tet worden, mit der die ÖVP verschleiern
wolle, dass sie im laufenden Wahlkampf er-
neut die gesetzlich erlaubte Kostenober-
grenze von sieben Millionen Euro deutlich
überschreite. Im zweiten Teil wird nun ein
ziemlich desolates Bild der ÖVP-Finanzla-
ge gezeichnet.
Ende 2017 hatte die Volkspartei dem-
nach Verbindlichkeiten bei Banken in Hö-
he von 18,5 Millionen Euro und ein negati-
ves Eigenkapital von 21,5 Millionen Euro.

Trotz Warnungen der parteiinternen Con-
troller seien aber weiterhin große Sum-
men für Kampagnen und Berater ausgege-
ben worden. Verwiesen wird zum Beispiel
auf einen als „streng vertraulich“ gekenn-
zeichneten Vertrag mit einem der engsten
Weggefährten und Berater von Kurz, der
im Monat 33 000 Euro brutto erhalten soll.
Hohe Kosten werden auch für diverse Festi-
vitäten verbucht, die teilweise von einem
mit Kurz befreundeten Gastronomen aus-
gerichtet wurden. Als pikantes Detail am
Rande erscheint in den Unterlagen noch
die Abrechnung über 7700 Euro für einen
Privatjet für Kurz nach Rom. Als Kanzler
hat er sich immer gern als Economy-Passa-
gier auf Linienflügen gezeigt. Auch bei die-
sem Trip nahm er demnach für den Rück-
flug die Maschine eines Billiganbieters
und twitterte ein Foto davon.
Insgesamt ergibt sich aus den angeführ-
ten Dokumenten das Bild, dass die ÖVP un-
ter Kurz deutlich über ihre Verhältnisse
lebt und mit gewaltigem finanziellen Auf-
wand jenseits des Erlaubten in den Wahl-
kämpfen die politische Konkurrenz abzu-
hängen versucht. Um die Veröffentlichung
der Daten ist nun ein heftiger Streit ent-
brannt. Kurz nach dem erstenFalter-Be-
richt meldete die ÖVP einen massiven Ha-
ckerangriff auf ihre Parteizentrale und
warnte davor, dass Daten nicht nur gestoh-
len, sondern auch manipuliert und ver-
fälscht worden seien, um der Partei zu scha-
den. DerFalterbeharrt auf der Echtheit
der ihm zugespielten Dokumente. Am
Dienstag reichte die ÖVP eine Unterlas-
sungsklage ein. Am Mittwoch legte das Ma-
gazin nach mit seinem zweiten Bericht aus
den „ÖVP-Files“. peter münch

Tel Aviv– Auf scharfe internationale Kri-
tik ist die Ankündigung von Israels Premi-
erminister Benjamin Netanjahu gestoßen,
große Teile des Westjordanlandes annek-
tieren zu wollen. Dieses Vorhaben untergra-
be „die Aussicht auf einen dauerhaften
Frieden im Nahen Osten“, erklärte ein EU-
Sprecher. „Die Politik des Baus und der
Ausweitung von Siedlungen, einschließ-
lich in Ostjerusalem, ist nach internationa-
lem Recht illegal.“ Die UNO erklärte, die An-
nexion werde international „keine rechtli-
che Auswirkung haben“. Die Arabische Li-
ga nannte Netanjahus Vorstoß einen Akt
der Aggression. Der Sprecher der deut-
schen Bundesregierung, Steffen Seibert,
appellierte an die israelische Regierung,


auf Maßnahmen zu verzichten, die eine Ei-
nigung mit den Palästinensern auf der Ba-
sis einer Zwei-Staaten-Lösung behindern
könnten.
Auch Saudi-Arabien und Jordanien
warnten vor einer Eskalation. Der türki-
sche Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu er-
klärte, Netanjahu verbreite vor der Parla-
mentswahl „illegale, rechtswidrige und ag-
gressive Botschaften“. Die Türkei werde
die Rechte ihrer „palästinensischen Ge-
schwister bis zum Ende verteidigen“. Die


palästinensische Autonomiebehörde will
in einer Dringlichkeitssitzung über mögli-
che Konsequenzen beraten.
In Israel wurde die Ankündigung Netan-
jahus als Wahlkampfpropaganda abgetan.
Die politische Konkurrenz des rechtsnatio-
nalen Politikers und die meisten Kommen-
tatoren der israelischen Medien waren sich
in ihrer Einschätzung einig, dass es Netan-
jahu vor allem um Stimmenmaximierung
für seine Likud-Partei bei der Parlaments-
wahl am kommenden Dienstag geht. Politi-
ker der Partei Neue Rechte, die die Siedler-
interessen vertritt, warfen Netanjahu in-
des vor, in seinen insgesamt 13 Jahren als
Premierminister bislang keine konkreten
Schritte in diese Richtung unternommen
zu haben.
In einer Knesset-Sitzung am Mittwoch
wies Netanjahu diese Kritik zurück. Er er-
klärte, er hätte die Annexion des Jordan-
tals vergangene Woche bereits vornehmen
wollen. Aber Generalstaatsanwalt Avichai
Mandelblit habe ihm mitgeteilt, dass er als
Premierminister eines Übergangskabi-
netts keine so weitreichenden Schritte un-
ternehmen könne.
Netanjahu hatte bereits vor der Parla-
mentswahl im April angekündigt, jene Ge-
biete, wo die rund 120 jüdischen Siedlun-
gen und Außenposten stehen, annektieren
zu wollen. Laut einer Umfrage des „Israel
Democracy Institute“ sind 48 Prozent der
jüdischen Israelis dafür, dass die israeli-
sche Souveränität auf das sogenannte

C-Gebiet im Westjordanland ausgedehnt
werden soll, das unter israelischer Verwal-
tung steht und wo sich die meisten Siedlun-
gen befinden.
In seiner Rede am Dienstagabend bezog
Netanjahu erstmals auch das Jordantal in
seine Annexionspläne ein. Ausgenommen
sein sollen lediglich palästinensische Orte
wie die Stadt Jericho. Dort leben nach Anga-
ben der israelischen Menschenrechtsorga-

nisation Betselem rund 60 000 Palästinen-
ser und etwa 5000 israelische Siedler.
Auch Netanjahus Herausforderer Benny
Gantz vom blau-weißen Bündnis vertritt
die Ansicht, dass Israel selbst im Falle ei-
ner palästinensischen Staatsgründung die
Kontrolle über das Jordantal und damit die
Grenze zu Jordanien behalten müsse. Das
Jordantal macht rund dreißig Prozent des
Westjordanlandes aus, das Israel 1967 von

Jordanien erobert hatte. Zusammen mit
den Siedlungsgebieten würde Israel damit
mehr als zwei Drittel des Westjordanlan-
des übernehmen.
Netanjahu begründete seine Absichten
mit einer „historischen Gelegenheit“, die
sich durch den Nahost-Friedensplan erge-
be. US-Präsident Donald Trump hatte an-
gekündigt, kurz nach den Wahlen in Israel
die mehrfach verschobene Präsentation
des Plans abhalten zu wollen. Nach dem in
der Vorwoche angekündigten Rückzug des
US-Nahostverhandlers Jason Greenblatt
gibt es jedoch Zweifel, ob der mehrfach an-
gekündigte Plan überhaupt jemals präsen-
tiert wird. In Sicherheitsberater John Bol-
ton ist Netanjahu ein weiterer Verbündeter
im Weißen Haus abhanden gekommen.
Die rund 600 000 Siedler, von denen
rund 450 000 im Westjordanland leben,
sind eine bei rechten Parteien umworbene
Wählerklientel. In Umfragen hat sich ver-
gangene Woche Blau-Weiß vor Netanjahus
Likud geschoben. In keiner der Umfragen
reicht es für die Bildung einer rechten Re-
gierung unter Netanjahus Führung ohne
die Partei von Avigdor Lieberman.
Militante Palästinenser aus dem Gaza-
streifen feuerten am Dienstagabend und
Mittwoch insgesamt fünf Raketen auf Isra-
el ab. Netanjahu musste während einer
Wahlveranstaltung kurz Schutz in einem
Bunker suchen. Die israelische Armee griff
Stellungen im Gazastreifen an.
alexandra föderl-schmid  Seite 4

DEFGH Nr. 211, Donnerstag, 12. September 2019 (^) POLITIK HMG 7
Die meisten Kommentatoren sind
sich einig: Es geht vor allem um
Stimmenmaximierung für Likud
Die meisten Beobachter sind sich
einig,dass Trump keinen starken
Sicherheitsberater will
Und durch die Mitte fließt ein Fluss: Mit Blick auf das Jordantal spricht Benjamin
Netanjahuvon einer „historischen Gelegenheit“. FOTO: AMIR LEVY/GETTY IMAGES
Die HDP verhalf der säkularen
Opposition in mehreren Städten
zu spektakulären Siegen
„Warum nimmt mein Sohn eine
Waffe in die Hand, wenn er einen
Stift halten könnte?“, fragt Biçer
Laut Abrechnung flog Sebastian
Kurz im Privatjet nach Rom
Schlepper drohen
mit dem Brexit
Mehr illegale Migranten überqueren
daher jetzt den Ärmelkanal
Zum Kämpfen verführt
In der Kurdenhochburg Diyarbakır protestieren Mütter dagegen, dass die PKK ihre Söhne entführt haben soll. Der türkischen Regierung kommt das sehr gelegen
Über die
Verhältnisse
Die ÖVP lässt sich offenbar nicht
nur den Wahlkampf zu viel kosten
Vorschlag der Verzweiflung
Israels Premier Netanjahu muss um seine Mehrheit fürchten. Kurz vor der Wahl versucht er es mit einem aggressiven Szenario: Er will das Jordantal annektieren

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