Süddeutsche Zeitung - 12.09.2019

(Brent) #1
Es gibt gute Gründe, eine Buchpremiere in
weltweit über 1000 Kinos zu übertragen.
Einer wäre, dass bei solch einem großen
Wirbel niemand mehr die Bedeutung des
präsentierten Buches infrage zu stellen
wagt. Ein anderer, dass man einer bald
achtzigjährigen Autorin anstrengende Le-
sereisen ersparen möchte. Für Margaret At-
wood und ihr neues Buch „Die Zeuginnen“
zumindest dürfte letztere Überlegung
keine Rolle gespielt haben. Ebenso flink
wie ihre deutlich jüngere Interviewerin
Samira Ahmed von der BBC huschte sie am
Dienstagabend auf die Bühne des Londo-
ner National Theatre und ließ auch nach
fast zwei Stunden Lesung und Gespräch
nicht die geringsten Ermüdungserschei-
nungen erkennen.
Das Bühnenbild war den Räumlichkei-
ten nachempfunden, wie sie in der serien-
mäßigen Verfilmung ihres Romans „The
Handmaid’s Tale“ zu sehen sind; Atwood
selbst hatte sich farblich dem Cover von
„The Testaments“ („Die Zeuginnen“), der
Fortsetzung jenes „Reports der Magd“, an-
gepasst, inklusive grasgrünem Nagellack.
Dieser Nagellack aber war das einzig Ex-
zentrische an der Schriftstellerin, ansons-
ten strahlte sie höchste Professionalität
aus, beantwortete jede Frage konzise,
mischte ihren Repliken in gemessenen Ab-
ständen kleine Scherze bei, setzte Pausen,
die kein Schauspieler besser hätte setzen
können, und erzielte beim Publikum mit
minimalistischer Mimik größte Effekte,
selbst im fernen Berlin, wo sich in einem
Steglitzer Filmpalast doch eine stattliche
Anzahl von Menschen versammelt hatte,
um der Aufführung zu folgen. Sogar ein
Berichterstatter der Pariser ZeitungLe
Mondehatte sich eingefunden, um den
zweiten Mann im Publikum zu fragen, was
ihn denn hergeführt habe.
Margaret Atwood indes betonte, ohne
dass man es ihr als Understatement hätte
auslegen wollen, dass sie nichts in ihre Ro-
mane aufnehme, was es in der Geschichte
der Menschheit nicht schon gegeben habe.
Sie sprach über George Orwells „1984“ wie
über die argentinische Militärjunta, über
Thomas Cromwell wie über den Einfluss
der Bibel auf ihr Schreiben („The Testa-
ments“!), über die Résistance in Polen und
Frankreich und ihre Tante Ada, die die ers-
te Jagd- und Angelführerin in Nova Scotia
gewesen sei. Originalität ist für Atwood,
durchaus erfrischend, keine relevante Ka-
tegorie. Junge Frauen, die mit alten Män-
nern verheiratet werden? „It’s not new!“ Es
geht ihr um die Sache, allem voran um die
Sache der Frau. Dass die Kleidung der Mäg-
de bei „Me Too“-Demos als ein Symbol ver-
wendet wird, findet sie „brillant“: Die Robe
bedecke die Knöchel, errege also nirgend-
wo Anstoß und sei zudem mit keinerlei
Lärm verbunden – was im Zeitalter des Ra-
dios freilich schlecht funktioniert hätte.
Sogar auf die Publikumsfrage, wie ange-
sichts Boris Johnsons und Donald Trumps
die Welt noch zu retten sei, gab Atwood wie
aus der Pistole geschossen Antwort: Als
Erstes und Wichtigstes müsse man sich
ums Klima kümmern, davon hänge alles
ab.Vor allem das Leben von Frauen und
Kindern, denn die würden im Krisenfall als
Erste und am stärksten leiden. So war es
denn wohl ein Zeichen der Hoffnung, dass
sich mit Beginn der Übertragung noch ein
paar Männer unters Publikum mischten,
die von keiner Zeitung und womöglich
nicht einmal von ihren Frauen geschickt
worden waren. tobias lehmkuhl

Der Mann ist fassungslos. „Warum lassen
wir es zu, dass einige Internetfirmen kom-
plette Personenprofile von uns allen anle-
gen und diese ohne jede Begrenzung behal-
ten und analysieren?“ Diese Frage stellt er
dem Publikum, und an der Wand erscheint
der Umriss eines Menschen, der nur aus
jenen Datenpunkten besteht, die vor allem
Tech-Firmen aus China und den USA sam-
meln. Die nächste Folie listet auf, was alles
gespeichert wird: Aufenthaltsort, Konsum-
verhalten, Reisepläne und -buchungen,
Fortbewegungsmittel, welche Suchabfra-
gen gestellt und Apps genutzt werden.
Als „Datenstaubsauger“ bezeichnet der
Redner Whatsapp, den zu Facebook gehö-
renden Messenger-Dienst. Dass der Vor-
trag seine Wirkung nicht verfehlt, liegt
nicht nur am schlechten Gewissen der Zuhö-
rer über die Verdrängung der Fakten. Der
Warnruf kommt nicht von Peter Sunde,
dem Gründer der Filesharing-Plattform Pi-
rate Bay, sondern von Paul-Bernhard Kal-
len, dem Chef des Burda-Konzerns.
In dieser Woche machte die hauseigene
Digitalkonferenz „DLD“ Station in Brüssel.
In der Vertretung des Freistaats Bayern
nimmt neben Kallen auch Konferenz-
chefin Steffi Czerny Bezug auf das Motto
„Optimismus und Mut“: Die Europäer
müssten an das Friedensprojekt EU glau-
ben und „neue Erzählungen“ gegen Popu-
lismus und Nationalismus finden.
Die Chance, vor dem Start der neuen EU-
Kommission unter Ursula von der Leyen
für neue Prioritäten zu werben, lässt sich
Kallen nicht nehmen. „Mehr Mut“
wünscht er sich von der Kommission und
dies bedeutet für ihn, gerade die US-Tech-
firmen zu zähmen und den Bürgern mehr
Hoheit über ihre Daten zu geben. Eine für
„DLD Europe“ in Auftrag gegebene Um-
frage von Allensbach fand heraus, dass
77 Prozent der deutschen Nutzer es für
„zwecklos“ halten, die Bestimmungen zur
Nutzung von Internetdiensten zu lesen.
67 Prozent beziehungsweise 61 Prozent
der 14- bis 29-Jährigen halten Whatsapp
und Google für „unverzichtbar“, weshalb
sie auf „okay“ klickten.
Europa könne schon jetzt mehr tun,
sagt der Juraprofessor Boris Pall. Er be-
zweifelt, dass „die Freiwilligkeit bei einer
großen Marktmacht eines Anbieters“ noch
gegeben sei. Pall ist überzeugt, dass im Fal-
le einer strengeren Auslegung der Daten-
schutzgrundverordnung „alle Datenverar-

beitungen rechtswidrig“ wären – mit rück-
wirkender Geltung. Axel Voss, umstritte-
ner Berichterstatter für die Urheberrechts-
reform und EU-Abgeordneter der CDU, for-
dert von der EU-Kommission: „Gebt uns
Gründe, schneller handeln zu müssen.“
Natürlich dient die Konferenz dazu, in
Brüssel Lobbyarbeit zu betreiben. Aber wie
stets bei DLD bringt Steffi Czerny eine bun-
te Mischung aus Politikern, Investoren,
Professoren und Aktivisten zusammen.
Das Duo „Heer und Speer“, das hinter der
Idee des kostenlosen Interrail-Tickets
steht, präsentierte einen 10-Punkte-Plan,
um die Jugend noch mehr für Europa zu be-
geistern. Die Britin Christina Colclough
kümmert sich für den Gewerkschaftsver-
band „Uni Global Union“ um die Zukunft
der Arbeit und diskutiert unter anderem
mit Pirate-Bay-Gründer Sunde darüber,

ob digitale Plattformen die Demokratie
gefährden. Colclough sagt „ja“ und fordert
das Publikum auf, darüber nachzudenken,
ob man seinen Job hätte, wenn ein Algorith-
mus mitentschieden hätte, wer zum Vor-
stellungsgespräch eingeladen wird: „Ich
kämpfe dafür, dass jeder das Recht hat, ein
Mensch zu bleiben – und nicht zum Ver-
braucher und Objekt degradiert wird.“ Sie
warnt davor, beim Thema Sozialkredit nur
nach China zu schauen: „Das passiert hier
in Europa, jeden Tag und seit Jahren.“
Der richtige Umgang mit China ist Dauer-
thema in Brüssel. Michael Clauß, seit einem
Jahr Deutschlands EU-Botschafter, schil-
derte, wie naiv der Blick auf Peking und sei-
nen Ehrgeiz bis vor Kurzem in Brüssel war.
Clauß war von 2013 bis 2018 Botschafter in
Peking und erinnert daran, wie innovativ
chinesische Firmen sein können, die zu-
dem von marktverzerrenden Beihilfen und
Protektionismus profitieren. Für Clauß
steht fest: Trotz Brexit und anderer Krisen
muss die EU Zeit und Energie aufbringen,
Antworten auf diese Herausforderungen zu
finden, etwa durch eine Stärkung des digita-
len Binnenmarkts und mehr Geld für For-
schung und Infrastruktur.
Man spürt: Die Zeit drängt, nun müssen
Taten folgen, in Brüssel wie in Berlin.
matthias kolb

von jörg häntzschel

A


ls die Architekten Jacques Herzog
und Pierre de Meuron vor drei Jah-
ren in Berlin ihren Siegerentwurf
für das Museum des 20. Jahrhunderts am
Kulturforum vorstellten, nannten sie den
Bau einen „Tempel“, einen „Ort der Stille
und des Nachdenkens“. Sie sprachen auch
von „einem Ort der Vorräte und der Nah-
rung wie ein landwirtschaftlicher Betrieb“.
Wie bescheiden!, dachte man. Und beschei-
den, protestantisch wirkte der Entwurf
tatsächlich, der sich – wenn auch sehr
raumgreifend – zwischen zwei Architektur-
ikonen zwängt: Mies van der Rohes Neue
Nationalgalerie und Scharouns Philharmo-
nie. Die zwei Megastars des Bauens, die
kurz zuvor mit der Elbphilharmonie ein
himmelstürmendes und 866 Millionen Eu-
ro teures Luxusprojekt abgeschlossen
hatten, wirkten architektonisch und rheto-
risch wie geläutert. Dass man ihren
Entwurf auch als „Aldi“ und als „Bierzelt“
verunglimpfte, „müsse man aushalten“,
erklärte Herzog weise.
Sie waren wohl dennoch dankbar, dass
sich ein anderer Begriff für das geplante
Museum durchsetzte: „die Scheune“. Dass
sich Öffentlichkeit und Politik nach eini-
gem Hadern mit dem Entwurf halbwegs an-
gefreundet haben, ist auch diesem Namen


geschuldet. Scheunen kosten wenig. Scheu-
nen sind ehrlich und unkompliziert. Die
Scheune schien nicht nur das Gegenmo-
dell zur Elbphilharmonie zu sein, sondern
auch das Gegenmodell zum Humboldt-Fo-
rum und all den anderen schwer an ihrer
symbolischen und architektonischen Über-
ausstattung tragenden Berliner Kulturbau-
ten. Deshalb erschienen auch die Baukos-
ten von 200 Millionen Euro realistisch. Das
war der Betrag, den Kulturstaatsminis-
terin Monika Grütters im Parlament für
das Museum lockergemacht hatte.
Doch wenn sie am Montag im Haushalts-
ausschuss die aktualisierte Schätzung
vorstellt, wird der Preis viel höher liegen.
Schon vor einem Jahr erfuhr die SZ, dass
man intern von 400 Millionen ausgehe.
Grütters dementierte nicht. Nun sprechen
Abgeordnete und Kulturfunktionäre von
446 bis 480 Millionen. Und auch das sei
nur ein Zwischenschritt. Bis das Haus 2025
oder 2026 fertig wird, würden 600 Millio-
nen verbaut. Träfe das zu, würde die Scheu-
ne teurer als das Humboldt-Forum mit sei-
ner handgemeißelten Barockdekoration.
Wie ist das möglich? Darauf hat man
auch in Berlin keine Antwort. „Ist mir unbe-
greiflich“, „Kann ich nicht nachvollziehen“,
heißt es, oder auch einfach: „ein Wahn-
sinn“. Das Kulturstaatsministerium re-
agierte auf eine Anfrage der SZ nicht.

Ein paar Gründe für die gestiegenen
Kosten liegen auf der Hand: Nach der
Kritik daran, dass der neue Bau sich viel zu
dicht an die Matthäikirche dränge, verklei-
nerten die Architekten die Grundfläche.
Zum Ausgleich wurde ein zusätzliches Kel-
lergeschoss nötig, was in Berlin stark ins
Geld geht. Und auch sonst lässt sich man-
ches finden: die boomende Baukonjunktur
etwa, die die Preise in die Höhe treibt. Doch
viele in Berlin überzeugt das nicht. Ihre ein-
zige Erklärung: „Das ist eben Berlin.“

Unter Grütters entstanden und entste-
hen in Berlin etliche Museumsbauten: au-
ßer dem Humboldt-Forum die James-Si-
mon-Galerie, die Erweiterung des Berggru-
en-Museums und die Renovierungen der
Neuen Nationalgalerie und des Pergamon-
Museums, doch das Museum des 20. Jahr-
hunderts ist ihr Herzensprojekt, von ihr er-
dacht, von ihr durch die Instanzen getrie-
ben. Würde man ihr dieses Denkmal nun
wegnehmen, „könnte sie gleich zurücktre-
ten“, sagen einige, deshalb sei mit Wider-
stand nicht zu rechnen. Doch schon am
Mittwoch klang das im Bundestag anders.

Dort sagte die SPD-Abgeordnete Katrin
Budde, sie wolle „ganz offen die Frage stel-
len, die unter der Hand ja zwischen vielen
diskutiert wird: Brauchen wir ein zusätzli-
ches neues Museum der Moderne? Wäre
cool, wäre toll, wenn wir es hätten“, aber
wenn es zu Lasten aller anderen Projekte
gehe, „möchte ich die Regierung bitten, zu
überlegen, ob man da nicht Begrenzungen
bei der Ausgabe einführt.“
Um eventuellen Einwänden dennoch
vorzubeugen, hat man im Kulturstaats-
ministerium in den letzten Wochen eine
raffinierte Dramaturgie ausgeheckt. Einer-
seits sollen Parlament und Öffentlichkeit
an die exorbitanten Kosten gewöhnt, ande-
rerseits aber von der Unausweichlichkeit
des Projekts überzeugt werden. So sollen,
heißt es, einigen Journalisten die Zahlen
bei einem Hintergrundgespräch am Mon-
tag erklärt werden, und damit noch bevor
Grütters am Nachmittag im Haushaltsaus-
schuss die Parlamentarier unterrichtet.
Außerdem sei der erste Spatenstich schon
für Anfang Oktober geplant, und damit
noch vor den entscheidenden Bereini-
gungsgesprächen am 18. November, dem
Termin, an dem die Finanzierung des Baus
erst beschlossen würde. Es solle der Ein-
druck erweckt werden, so ein Beteiligter,
das Projekt sei nicht mehr aufzuhalten.
Öffentliche Bauten werden immer teu-

rer als geplant. Dass sich aber die Kosten
noch vor Baubeginn fast verdreifachen, ist
ungewöhnlich. Es wirft auch kein gutes
Licht auf das Auswahlverfahren. Dass Her-
zog & de Meuron mit ihrem Wettbewerbs-
beitrag unter der 200-Millionen-Grenze
blieben, sei nur durch eine viel zu groß di-
mensionierte Grundfläche möglich gewe-
sen, so ein Abgeordneter. „Die sind nicht
von gestern.“ Dass die Fläche reduziert
und das teure weitere Tiefgeschoss nötig
werden würde, sei immer klar gewesen.
Spätestens angesichts der neuen Zahlen
muss man aber auch nach dem Sinn des
ganzen Unterfangens fragen. Bevor Grüt-
ters die Scheune propagierte, stand ja ein
anderer Vorschlag im Raum, der außer zu-
sätzlichem Platz für die Moderne auch eine
Neuordnung der Berliner Kunstbestände
ermöglicht hätte. Die Tintorettos und Cra-
nachs, die am Kulturforum wie Exilanten
vor sich hin kümmern, sollten aus der Ge-
mäldegalerie in einen Neubau auf der Mu-
seumsinsel umziehen. Am Kulturforum
sollte ein Moderne-Campus entstehen, auf
der Museumsinsel die Alte Kunst vereinigt
werden. Dieser Plan fiel unter anderem
wegen der erwarteten Kosten durch. Doch
nun wird die damals als günstiger beworbe-
ne Lösung wohl teurer als der Plan A – und
die Zerfahrenheit der Berliner Museums-
landschaft wird vollends festgeschrieben.

Dass einer wie Markus Lüpertz seine Aus-
stellung soleise beginnt, überrascht. Im
ersten Saal, einem Seitenkabinett in der
gewaltigen Architektur des Münchner
Hauses der Kunst, hängen frühe Blätter
und Bilder, die wie ein Vorspann zu seinem
Werk wirken. Den 1941 in Böhmen gebore-
nen Markus Lüpertz, der Anfang der Sech-
zigerjahre in Berlin lebt, muss man sich vor
der Leinwand als zögerlich, fast verzagt
vorstellen. Wann immer er kann, sitzt er
deswegen vor einer anderen Leinwand –
im Kino – und schaut sich durch die Pro-
gramme, vom Western bis zum Autoren-
film. Irgendwann hakt was ein, und es wer-
den diese gestauchten Figuren daraus, ei-
ne verquere Geometrie, die er wieder und
wieder mit Buntstiften, Kreiden und dem
Pinsel eingrenzt. Bald breiten sich die „Di-
thyramben“ oder „Donald Ducks Heim-
kehr“ (1963) in dunkel leuchtende Farbig-
keit aus, kaum zu erkennen, dass es das Lo-
go der „20th Century Fox“ ist, das im Ateli-
er wieder und wieder umgeschmolzen
wird.
Die Kuratorin Pamela Kort hat also gan-
ze Arbeit geleistet und das Werk des selbst-
ernannten Malergenies mit der These vom
„kinematografischen Blick“ neu aufge-
schlossen. Serialität, Variation, Rhythmus,
das sind nun die Themen. Im gewaltigen
Mittelsaal hängen Dachpfannen und Glei-
se wie die „Dithyramben“, die kaum er-
kennbar sind: Aus dem ratternden Gleich-
klang grüner Kuben schält sich auf mehr
als zwölf Meter Breite nur langsam das
Bild von Eisenbahnschwellen.
Das ist schöne, herausragende Malerei,
fast abstrakt, fast modern. Aber nur fast,
schließlich ist der Begriff der Dithyrambe
dem Altgriechischen entlehnt, und schon
bald fährt der Künstler die Abstraktion run-
ter und legt bei der Motivik nach. Aus dem
jungen Berliner Maler wird Markus Lü-
pertz, Beruf Genie, der es in den Achtziger-
jahren in der alten Bundesrepublik zu mo-
numentaler Prominenz bringen wird. Da-
mals stand deutsche Malerei international
hoch im Kurs, und Lüpertz lieferte dem
Kunstmarkt folkloristisch-deutsche Su-
jets: Stahlhelme, Kornähren, Eisenbahn-
gleise, kahle Wälder. Die besten sind so un-
heimlich wie das von der Wiener Albertina
ausgeliehene Diptychon, auf dem Soldaten-
mantel und Stahlhelm in verschatteten
Grüntönen zu einem Schemen zusammen-
gesteckt sind, an dem der Pinsel fast ver-


zagt: der Fond roh und unfertig, viele Par-
tien sind nur eben kreidig angedeutet. Die
„Seelower Höhen“ dagegen spielen das Mo-
tiv routiniert durch in virtuosem, aber
gleichgültigem Malduktus.
In der Schau sind es solche Bilder, gegen
die alle kuratorische Klugheit nicht an-
kommt. Hinter den Logos und Schwellen
tauchen doch wieder die Nymphen auf –
und die hoch aufgesockelten Skulpturen,
die der Künstler, wie zu hören ist, lieber im
Marmor-Entree des NS-Baus platziert hät-
te. Als ihm das verwehrt wurde, weil dort
bald der junge Amerikaner Theaster Gates
eine Installation aufbauen wird, beschloss
er trotzig, einen eigenen Eingang bauen zu
lassen, weswegen seine Besucher durch ei-
ne eigens geöffnete Flügeltür eintreten. Un-
behelligt von der Avantgarde.
Die Lüpertz-Schau steht nun räumlich
genauso quer im Haus der Kunst wie im
Programm. Das prägte in den vergange-

nen Jahren unter dem international gefei-
erten Direktor Okwui Enwezor nicht nur
die aktuellsten Strömungen der Kunst, son-
dern auch den postkolonialen Diskurs.
Dass diese Schau nach Enwezors Abgang
vom Geschäftsführer auf die Agenda ge-
setzt wurde, während man Ausstellungen
von Joan Jonas und Adrian Piper strich,
empfanden nicht wenige als Provokation.
Zumal es nach der Jörg-Immendorff-Re-
trospektive im vergangenen Jahr das zwei-
te Großprojekt ist, das in Zusammenarbeit
mit der Galerie Michael Werner gestemmt
wird. Das offensichtliche Bemühen um Ver-
jüngung dieses Malers prallt ab an einem
Werk, das auf seine Nymphen und Stahlhel-
me besteht und sich den Auftritt brachial
freizuräumen weiß. catrin lorch

Markus Lüpertz: Über die Kunst zum Bild.Haus
der Kunst, München. Bis 26. Januar 2020. Der Kata-
logkostet 49,90 Euro.

Die erste Saison des neuen Intendanten
des Residenztheaters in München, Andre-
as Beck, beginnt mit einem Fehlstart:
Gleich seine erste Premiere fällt aus. Die
für den Saisonauftakt am 18. Oktober ge-
plante Uraufführung von „Wir sind hier
aufgewacht“ von Regisseur Simon Stone
am Cuvilliéstheater müsse verschoben
werden, teilte das Theater am Mittwoch
mit. Die Finanzierung für ein jahrelang ge-
plantes Filmprojekt von Stone sei überra-
schend durch Netflix gesichert worden,
das möchte er nun lieber verwirklichen als
die Uraufführung in München. dpa

DEFGH Nr. 211, Donnerstag, 12. September 2019 HMG 9


Öffentliche Bauten werden immer
teurer als geplant, nur selten vor
Baubeginn schon so viel teurer

Mensch bleiben


Die Digitalkonferenz DLD stellt Forderungen an Europa


Film
Die Tragikomödie
„Ein leichtes Mädchen“
spielt mit Vorurteilen 10

Feuilleton
Live und hinter Glas in Berlin:
Die Tanzrevolutionäre des


  1. Jahrhunderts 11


Literatur
Zerquältes Selbstbild:
Jonathan Safran Foers Buch
über die Erderwärmung 12

Wissen
Die Digitalisierung hilft
Landwirten, umweltfreundlicher
zu produzieren 14

 http://www.sz.de/kultur

Doch mehr Scheine für die Scheune


Der Bau des Berliner Museums des 20. Jahrhunderts sollte maximal 200 Millionen Euro kosten und galt als bescheidenes


Gegenmodell zu Megaprojekten wie Elbphilharmonie und Humboldt-Forum. Jetzt könnten sich die Kosten verdreifachen


Gegen alle kuratorische Klugheit


DasMünchner Haus der Kunst versucht, Markus Lüpertz zu verjüngen


Rückschlag für neuen


Residenztheater-Chef


Grünes


Testament


Margaret Atwood präsentiert
ihr neues Buch in London

Die Zeit drängt, nun
müssen Taten folgen,
in Brüssel wie in Berlin

FEUILLETON


HEUTE


„Donald Ducks Heimkehr“ (1963) von Markus Lüpertz. FOTO:HDKVG BILDKUNST, BONN 2019

„Das ist eben Berlin.“ – Siegerentwurf für das Museum des 20. Jahrhunderts am Kulturforum. FOTO: HERZOG& DE MEURON

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