Frankfurter Allgemeine Zeitung - 12.09.2019

(Michael S) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton DONNERSTAG, 12. SEPTEMBER 2019·NR. 212·SEITE 11


Ann-Christine Mecke ist Musikwissen-


schaftlerin und Dramaturgin. Sie hat zu-


sammen mit Martin Pfleiderer, Bernhard


Richter und Thomas Seedorf „Das Lexi-


kon der Gesangsstimme“ herausgegeben


und die umfangreiche Studie „Mutanten-


stadl. Der Stimmwechsel und die Deut-


sche Chorpraxis im 18. und 19. Jahrhun-


dert“ vorgelegt. Wir erreichten sie telefo-


nisch in Berlin. F.A.Z.


Der Thomanerchor in Leipzig hat erst-


mals in seiner Geschichte ein Mädchen


zum Vorsingen für einen Knabenchor zu-


gelassen. Ist das ein längst überfälliger


Schritt oder etwas völlig Widersinniges?


Ich glaube, es ist vor allem ein durch ju-


ristische Beratung induziertes Verfahren,


mit dem man sich juristisch auf die siche-


re Seite bringen will. Ich glaube nicht,


dass dahinter wirklich eine Entscheidung


steht.


Würde das Mädchen überhaupt eine Zu-


kunft im Thomanerchor haben?


Ich halte es für bedenklich, einzelne


Mädchen in solch einen Chor integrieren


zu wollen. Aus pädagogischen, musikali-


schen und historischen Gründen wäre


das übereilt, und die Folgen für den Chor


wären unabsehbar.


Welche musikalischen Gründe sprächen


dagegen?


Solch ein Chorklang ist ja eine fast magi-


sche Sache. Und bei einem Internats-Chor


wie dem Thomanerchor hat der auch et-


was mit der Form des Zusammenlebens


zu tun. Man sagt ja, dass Chöre, die mit In-


ternaten verbunden sind, einen geschlosse-


nen Chorklang haben, wie ihn der Tölzer


Knabenchor, der kein Internats-Chor ist,


nicht erreichen kann. Wenn man an die-


ser ganzen Art des Zusammenlebens et-


was ändert, könnte das Einflüsse auf die


Musik haben, die man noch gar nicht vor-


ab berechnen kann. Deswegen wäre ich da


vorsichtig, weil es eine gewachsene Struk-


tur verändert. Wir wissen über Mädchen-


stimmen eigentlich nicht viel. Man hat in


Tests herausgefunden, dass man den Un-


terschied hören kann, auch bei gleich aus-


gebildeten Kindern. Allerdings waren die-


se gleich ausgebildeten Kinder niemals


Mädchen und Jungen, die nach der Art ei-


nes leistungsorientierten deutschen Kna-


benchores ausgebildet worden sind. Die-


sen Test konnte man einfach noch nicht


machen. Nach dem Forschungsstand klin-


gen Mädchenstimmen im Mittel etwas an-


ders; und Experten können das auch hö-


ren. Deshalb wäre es schon aus rein akusti-


schen Gründen schwierig, Mädchen in


Knabenchören zuzulassen.


Kann man das beschreiben oder sogar


messen, inwieweit sich die Mädchen-


von der Knabenstimme unterscheidet?


Ja, ich habe dazu in einer Arbeitsgrup-


pe einen Test mit durchgeführt. Wir ha-


ben vor allem einen Unterschied im vier-


ten Formanten gefunden.


Also durch Spektralanalyse.


Genau. Formanten sind Bereiche im


Obertonspektrum von Schwingungen,


die besonders verstärkt werden und zu


charakteristischen Klangfarben beim Sin-


gen führen. Wo sie jeweils liegen, hat ana-


tomische und stimmtechnische Ursachen.


Wir haben festgestellt, dass die höheren


Formanten, vor allem der vierte Formant,


bei Knabenstimmen signifikant tiefer lag


als bei Mädchenstimmen, auch bei denen,


die gleich ausgebildet wurden. Bei Kna-


ben, die von Hörern besonders eindeutig


als Knabenstimmen erkannt wurden,


liegt er sogar noch etwas tiefer. Es gibt


auch bei gleich ausgebildeten Stimmen


zwischen Jungen und Mädchen einen Un-


terschied, der allerdings durch Singtech-


nik überlagert, abgeschwächt oder ver-


stärkt werden kann.


Welche pädagogischen Gründe sprächen


dagegen?


Man braucht sich nur einmal gemischte


Kinderchöre anzuschauen. Typischerwei-


se sind da zu achtzig Prozent Mädchen


und zu zwanzig Prozent Jungen. Das hat


damit zu tun, dass die Mädchen meistens


länger im Chor bleiben, weil der Stimm-


bruch nicht so deutlich ist wie bei den Jun-


gen. Und dann auch damit, dass sich


schnell ein Übergewicht der Mädchen ein-


stellt und die Jungen dann sagen: „Irgend-


wie ist das hier nichts für mich.“ Bei vie-


len Jungen scheint es so zu sein, dass sie


das Singen leichter mit ihrem Männlich-


keitsbild vereinen können, wenn sie in ei-


ner reinen Jungsgruppe sind, gerade in ei-


nem leistungsorientierten Knabenchor.


Brauchen Jungen einen geschützten


Raum zum Singen?


Ob sie den brauchen, weiß ich nicht,


aber es hat sich herausgestellt, dass man


damit mehr Jungen zum Singen motivie-


ren kann als ohne diesen geschützten


Raum. Vielleicht ist das auch ein Über-


gangsphänomen, dass irgendwann ad


acta gelegt werden kann.


Eine „gegenderte“ Pädagogik müsste


darauf hinarbeiten, dass Jungen weiter


singen, auch wenn sie älter werden?


Dass sie den Kinderchor verlassen, hat


ja mit dem Stimmwechsel zu tun. Aber än-


dern müsste man, dass Singen nicht mit


dem Stigma des Mädchenhaften verbun-


den ist, was in einigen Gesellschafts-


schichten so zu sein scheint.


Sie sprachen von historischen Gründen,


die gegen Mädchen in Knabenchören sprä-


chen. Dürfen sie uns so wichtig sein, dass


wir damit Diskriminierung rechtfertigen?


Sie können niemals Grund für Diskrimi-


nierung sein. Deshalb glaube ich, dass


auch der Thomanerchor langfristig nicht


darum herumkommt, ein adäquates Ange-


bot für Mädchen zu machen. Auf der ande-


ren Seite ist es derclaim to famedes Tho-


manerchors, Johann Sebastian Bachs Mu-


sik in der Besetzung von Bach aufführen zu


können. Man würde wahrscheinlich den


Chor existentiell gefährden, wenn er das


nicht mehr so von sich behaupten kann.


Welche Konsequenzen wird solch ein ju-


ristisches Vorgehen gegen reine Knaben-


chöre langfristig haben?


Letztlich wurde der Prozess in Berlin ja


verloren. Aber durch den Prozess wurde


Aufmerksamkeit erzeugt und auf das Pro-


blem hingewiesen, dass Mädchenchöre


oft schlechter finanziert sind und weniger


Beachtung finden. In dieser Hinsicht war


der Prozess ein Erfolg und wird weitere


Erfolge bringen. Aber letztendlich hat das


Gericht gesagt: Kunstfreiheit geht über


Geschlechtergerechtigkeit. Und das finde


ich auch richtig. Ich möchte nicht in einer


Welt leben, in der das künstlerische Ur-


teil von Chorleitern und Dirigentinnen


komplett Gerechtigkeitsüberlegungen un-


terstellt wird.


Das Gespräch führteJan Brachmann.


Gespräch mit der Stimm-Expertin Ann-Christine Mecke


Die Folgen für die Thomaner wären unabsehbar


Singende Mädchen brauchen dringend mehr Förderung, aber pädagogische und musikalische Gründe sprechen gegen deren Aufnahme in Knabenchöre


Die Behauptung, dank eines Fund-


stücks müsse die Geschichte einer Epo-


che in weiten Teilen neu geschrieben


werden, dürfte, dem „Stern“ sei’s ge-


dankt, aus deutschen Redaktionen


nicht mehr allzu oft zu hören sein. In


Großbritannien darf man da unbefan-


gener sein, weshalb uns der „Guardian“


nun mit der Überschrift überrascht:


„Dieses Tonband schreibt alles um, was


wir über die Beatles wussten“. Das


weckt erhebliche Erwartungen an das,


was da enthüllt werden mag: Stammen


sie gar nicht aus Liverpool? Waren sie


in Wahrheit zu fünft? Ist Paul McCart-


ney doch schon, wie oft gemunkelt,


1966 gestorben? Hat am Ende all die


großen Hits Ringo geschrieben?


Im Text zur Schlagzeile wird dann ein


wenig tiefer gestapelt: Dass die Ge-


schichte der Beatles umgeschrieben wer-


den müsse, bezieht sich – und ist zudem


als Frage formuliert – auf einen kurzen


Abschnitt, und zwar auf die Zeit kurz


vor der Veröffentlichung des letzten ge-


meinsam erarbeiteten Albums „Abbey


Road“ am 26. September 1969. Der dies


ausspricht, genießt als Beatles-Exeget al-


lerdings ähnliches Gewicht wie sein


Mammutwerk „The Beatles – All These


Years“, dessen erster Band 2013 erschie-


nen ist. Mark Lewisohn hat nämlich die


Tonbandaufnahme einer Gruppensit-


zung zutage gefördert, deren Entste-


hungsgeschichte, erzählte sie nicht ein


renommierter Archivar wie Lewisohn,


geradezu verdächtig simpel anmutet:


Weil einer aus der Band, Ringo, einen


Termin beim Arzt hatte, schnitt ein an-


derer, John, für ihn auf Kassette mit,


was die Beatles zu besprechen hatten.


Lewisohn zufolge war demnach die


Band damals noch nicht heillos ver-


kracht, sondern dachte über ein weite-


res Album nach. John Lennon habe an


jenem 8. September 1969 nicht nur vor-


geschlagen, die mythische Autorenzeile


Lennon-McCartney aufzulösen, son-


dern paritätisch je vier Stücke von ihm,


von Paul und von George zu veröffentli-


chen (sowie, falls von diesem ge-


wünscht, zwei von Ringo). McCartney


habe reagiert mit dem Satz: „Bis zu die-


sem Album dachte ich, Georges Stücke


seien nicht so gut“, worauf Harrison


sich verteidigt habe, dies sei „eine Frage


des Geschmacks“, die Leute würden sei-


ne Lieder mögen. Lennon wiederum


habe Pauls Song „Maxwell’s Silver Ham-


mer“ attackiert und angeregt, Komposi-


tionen dieser Art künftig besser ande-


ren Künstlern zu überlassen. Paul


schließlich, nun selbst in der Abwehrhal-


tung, habe geantwortet: „Ich habe es auf-


genommen, weil es mir gefallen hat.“


Die Dissonanzen in der Band waren


bekannt, als O-Töne im Gruppenge-


spräch zu hören waren sie bislang


nicht. Wenige Tage nach der Aufnahme


verließ Lennon die Band, deren Auflö-


sung aber erst viel später, nämlich im


April 1970, bekanntgegeben wurde.


Weitere Einblicke in die Beatles der Ab-


bey-Road-Ära verspricht Lewisohn in


seinem Programm „Hornsey Road“,


mit dem er in diesem Herbst in Großbri-


tannien auf Tournee geht. Es ist ein wei-


terer Beleg für die Einzigartigkeit die-


ser Band: Selbst ihre Biographen kön-


nen berühmt werden.JÖRG THOMANN


D


ass die Hochzeit des Dichters


Ivan Martin Jirous, genannt


„Magor“, auf Deutsch „Der


Narr“, und der Künstlerin Julia-


na Stritzková keine kleine Sache werden


würde, hätte man vielleicht ahnen kön-


nen. Nicht nur der Gästeschar aus der


tschechischen Künstlerszene wegen, die


sich auf dem Foto zur offiziellen Einla-


dungskarte auf der Prager Karlsbrücke


drängelte und die der Maler JanŠafránek


auf einem Ölbild verewigte, seinem Hoch-


zeitsgeschenk. Sondern auch wegen des


„Musikfestivals der zweiten Kultur“, das


im Anschluss an die Hochzeit im tsche-


chischen Ort Bojanovice abgehalten wur-


de – Jirous war Mitbegründer der anar-


chistischen Band „Plastic People of the


Universe“, deren Mitglieder wie viele an-


dere tschechische Künstler mit Berufsver-


bot belegt worden waren. Und ein Festi-


val, bei dem ausgerechnet diese Band auf-


trat, musste den zunehmend repressiven


Staat nervös machen.


Die Härte, mit der die Justiz dann im


Frühjahr 1976 gegen die am Festival Be-


teiligten vorging, war dennoch unerwar-


tet zu einer Zeit, in der sich der Staat ei-


gentlich bemühte, die Erinnerung an die


gewaltsame Niederschlagung des „Prager


Frühlings“ im August 1968 verblassen zu


lassen. Neunzehn am Festival Beteiligte


wurden festgenommen und vor Gericht


gestellt, wenig später kam es in der „Rude


Pravo“, dem Zentralorgan der tsche-


chischen Kommunisten, zu einer massi-


ven Diffamierungskampagne gegen den


Lebensstil der Undergroundkünstler.


Umgekehrt solidarisierte sich nun eine


Reihe von Intellektuellen mit den Inhaf-


tierten. Sie wandten sich mit einem Pro-


testbrief an den tschechoslowakischen


Präsidenten und später mit der Bitte um


Unterstützung an Heinrich Böll – der


Brief wurde am 28. August 1976 in dieser


Zeitung publiziert und trug die Unter-


schriften einiger Autoren und Künstler,


die später auch die „Charta 77“ unter-


schreiben sollten, allen voran der Drama-


tiker Václav Havel, der Philosoph Jan


Patočka und der Dichter und Verleger


Ludvíg Vaculík.


Die Gerichte verhängten hohe Haftstra-


fen gegen die Undergroundkünstler. Und


ihre Unterstützer sammelten im Dezem-


ber 1976 Unterschriften für ein neues,


grundsätzliches Manifest. Es stammt in


wesentlichen Passagen von Havel, und


man kann es in seiner List und zugleich


großen Deutlichkeit nur bewundern: Es


steht fest auf dem Boden der in der Tsche-


choslowakei geltenden Gesetze, mehr


noch, die Unterzeichner nehmen für sich


in Anspruch, diese Gesetze vollkommen


ernst zu nehmen – anders als die Regie-


rung, die sie ja erlassen oder sich ihnen


angeschlossen hat wie etwa der Schlussak-


te von Helsinki. Denn die dort verbrief-


ten Rechte der Bürger gälten „leider nur


auf dem Papier“, heißt es in der Charta,


die ausdrücklich das Recht auf freie Mei-


nungsäußerung nennt. „Die Verantwor-


tung für die Einhaltung der Bürgerrechte


im Land obliegt selbstverständlich vor al-


lem der politischen und staatlichen


Macht“, heißt es weiter: „Aber nicht nur


ihr. Jeder trägt sein Teil Verantwortung


für die allgemeinen Verhältnisse und so-


mit auch für die Einhaltung kodifizierter


Pakte“ – ein ungeheurer Satz in jeder Dik-


tatur und ein folgenreicher Kunstgriff zu-


gleich. Denn indem die Unterzeichner –


die ausdrücklich „keine Organisation“ be-


gründen, keine Partei sein und keine Mit-


glieder werben wollen – auf dieser juristi-


schen und moralischen Basis argumentie-


ren, muss sich jedes staatliche Organ, das


gegen sie vorgeht, zugleich auch auf eine


Diskussion darüber einlassen, wie sie es


denn mit den Bürgerrechten hält, zu de-


ren Einhaltung sich das Land gerade im


Rahmen eines internationalen Abkom-


mens verpflichtet hatte. Und deshalb stell-


te sich auch die Publikation des Manifests


im westlichen Ausland als wirkungsvolles


Druckmittel der Unterzeichner heraus –


obwohl der Staat hart zurückschlug und


sie inhaftierte oder zur Ausreise zwang,


sie bespitzelte und drangsalierte.


Im Stadtgeschichtlichen Museum Leip-


zig wurde jetzt eine Ausstellung eröffnet,


die sich der Charta 77 widmet, ihrer Ent-


stehung, den Akteuren und schließlich ih-


rem Erbe nach der „Samtenen Revoluti-


on“ vom November 1989, in deren Ver-


lauf Václav Havel Präsident der Tschecho-


slowakei und später Tschechiens wurde.


Die Schau ist eine Übernahme aus der


Prager Nationalgalerie, die aber um einen


weiteren Teil ergänzt wurde, der sich der


Rezeption der Charta 77 im Ausland wid-


met, wobei ein Schwerpunkt sinnvoller-


weise auf der DDR liegt.


Der Rahmen dazu wird diskret, aber ef-


fizient mit zwei Exponaten gesteckt – am


Anfang steht eine Schreibmaschine der


Marke „Mercedes, Modell 4“, wie sie zum


Vervielfältigen der tschechischen Manu-


skripte und Manifeste in Gebrauch war,


am Ende eine „Progress“-Druckmaschine


des Leipziger „Arbeitskreises Gerechtig-


keit“, mit deren Wachsmatritzen im Okto-


ber 1988 die erste Ausgabe der Samisdat-


zeitschrift „Ostmitteleuropa“ produziert


wurde.


Tatsächlich nehmen Texte in dieser


Ausstellung den ihnen gebührenden


Raum ein, in Form von vielen originalen


und wenigen faksimilierten Aufrufen (die


Charta brachte es bis zu ihrer Auflösung


1992 auf insgesamt 572 Manifeste), Unter-


grundzeitschriften, vervielfältigten und


sauber gebundenen Typoskripten, Spitzel-


berichten oder auch Zeitungsseiten, die


unter anderem die Eskalation im Jahr


1977 veranschaulichen: Die Ausgabe die-


ser Zeitung vom 7. Januar des Jahres pu-


bliziert das Manifest unter der Über-


schrift „Auch Bürger in der Tschechoslo-


wakei wollen ihre Rechte verteidigen“ im


Inneren des Blattes, während achtzehn


Tage später die DDR-Zeitung „Neues


Deutschland“ den Bericht einer Prag-Kor-


respondentin auf die Titelseite hebt. Sei-


ne Überschrift: „Empörung gegen zügello-


se Hetzkampagne gegenČSSR – Prager


Werktätige brandmarken Angriffe westli-


cher Massenmedien“. Zugleich wurde die


Stasi, auch dies zeigen Dokumente dieser


Ausstellung, aktiv gegen Ostdeutsche, die


Samisdat-Publikationen über die Grenze


schmuggelten und deren Wohnungen


durchsucht wurden.


Die Charta 77 wollte „die Macht der


Ohnmächtigen“ bündeln, hat Havel spä-


ter geurteilt, und das geforderte Primat


der Moral über die Politik sollte sich lang-


fristig als überraschend wirksam erwei-


sen. Genau hier setzte die Staatsmacht


an, indem sie umgekehrt Stimmung ge-


gen die Unterzeichner und das Manifest


machte – dessen Wortlaut damals unter


keinen Umständen weiter verbreitet wer-


den sollte, so dass viele, die gedrängt wur-


den, eines der rasch organisierten Gegen-


manifeste zu unterzeichnen, gar nicht wis-


sen konnten, wogegen sie sich mit ihrer


Unterschrift eigentlich wandten.


Das – auch räumliche – Zentrum die-


ser Leipziger Ausstellung aber ist ein


Teil, der wiederum die Bewegung aus je-


der Mystifizierung heraushält und sich


auf diejenigen konzentriert, die sie tru-


gen. Man könnte auch sagen: Die Schau


fragt nach dem Milieu, aus dem die Char-


ta gewachsen ist. Sie stellt das Werk tsche-


chischer Fotografen vor, deren Bilder


den Alltag der Dissidenten festhalten,


das Musikfestival und Magors friedliche


Hochzeit. Sie zeigt Kunstwerke, die in


diesem Umfeld entstanden sind, und im-


mer wieder die Feiern, die Vernissagen,


die Theateraufführungen im privaten


Rahmen. Dass auf den Bildern auch Spit-


zel zu sehen sind, stellte sich erst viel spä-


ter heraus.


Am Ende hatten 1883 Menschen die


Charta unterschrieben, 25 haben ihre Si-


gnatur zurückgezogen. Bis zur Auflösung


der Charta im Jahr 1992 hatten 35 Unter-


zeichner als Sprecher fungiert. Eines der


schönsten Bilder dieser Ausstellung, ent-


standen im Wendejahr 1989, zeigt das Ehe-


paar Jirous auf dem Land, beide selbstge-


strickt gewandet und mit der freundlichen


Würde der Anarchisten, die wissen, dass


ihnen langfristig nicht so leicht beizukom-


men ist. TILMAN SPRECKELSEN


Charta 77 Story – Kunst und Protestbewegung.Im


Stadtgeschichtlichen Museum, Leipzig; bis zum



  1. November. Kein Katalog.


Ein leichtes Mädchen –Cousinenko-


mödie von Rebecca Zlotowski.


Idioten der Familie –Drama über Be-


hinderung und Freiheit von Michael


Klier (F.A.Z. von gestern).


Über Grenzen –Dokumentation über


eine Mittsechzigerin auf Motorradtour.


Am Ende


Gruppensitzung: Die


Beatles auf Tonband


Die Macht der


Ohnmächtigen


Neu im Kino


Vor gut vierzig Jahren entstand in der damaligen


Tschechoslowakei die Bürgerrechtsbewegung


„Charta 77“. Eine Ausstellung in Leipzig fragt


nach ihrem Erbe.


Vor „Magors“ Hochzeit posierten die Gäste 1976 auf der Karlsbrücke in Prag. Der Maler JanŠafránek hielt sie im Bild fest und schenkte sein Werk den Neuvermählten. Foto Bibliothek Libri Prohibiti Prag


Überwachte Dissidenten in Prag, November 1976 Foto Archiv der Staatssicherheitskräfte Prag


Ann-Christine Mecke Foto Bernhard Ludewig

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