Handelsblatt - 12.09.2019

(lily) #1
Martin Greive, Jan Hildebrand, Michael Maisch,
Jan Mallien, Frank Wiebe Berlin, Frankfurt

A

m Ende seiner Amtszeit zündet Mario
Draghi noch einmal ein großes geld-
politisches Feuerwerk. Wenn der Prä-
sident der Europäischen Zentralbank
(EZB) an diesem Donnerstag zum vor-
letzten Mal nach der Sitzung des EZB-Rats vor die
Presse tritt, wird er aller Wahrscheinlichkeit nach
eine weitere Lockerung der Geldpolitik verkünden.
Eingetrübte Konjunkturaussichten, eine schwache
Inflation, Handelskonflikte und der nahende Brexit
machten weitere Zinssenkungen nötig, dürfte Drag-
hi die Entscheidung begründen.
Seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 hat die EZB
viele umstrittene Entscheidungen getroffen. Dieses
Mal könnte die Richtungsentscheidung der Wäh-
rungshüter besonders gravierende Folgen haben,
politisch wie ökonomisch. So ist nach Handelsblatt-
Informationen in Berliner Regierungskreisen die
Befürchtung groß, US-Präsident Donald Trump
werde die Lockerung der Geldpolitik als bewusste
Manipulation des Wechselkurses werten – und den
schwelenden Handelskonflikt eskalieren.
Viele Politiker fürchten aber vor allem einen Auf-
stand der Wähler, wenn die EZB die Zinsen tiefer
drückt. Die Mehrheit der Deutschen (53 Prozent)
sehen die eigene Altersvorsorge durch die Niedrig-
zinspolitik in Gefahr. Das ergab eine repräsentative
Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov
im Auftrag des Handelsblatts. „EZB – das darf nicht
stehen für ‚Ewige Zins-Bremse‘“, sagte der Vizechef
der Unionsfraktion, Andreas Jung (CDU). Sparer
und Menschen, die fürs Alter vorsorgen, müssten
gestärkt und nicht bestraft werden. „Das Sparbuch
darf nicht zum Strafzettel werden“, sagte Jung. Und
CSU-Finanzpolitiker Hans Michelbach forderte:
„Wir brauchen einen Kurswechsel, hin zu einer
Zinspolitik, die endlich auch wieder die Risiken ab-
bildet und damit marktgerecht wird.“
Bei der EZB gibt es dagegen wenig Verständnis
für die Kritik aus Deutschland. Man müsse doch vor
allem deshalb gegensteuern, weil die deutsche
Wirtschaft in einen Abschwung hineinlaufe, die Re-
gierung in Berlin aber nicht gegensteuere und an
der „schwarzen Null“ festhalte, anstatt die Staats-
ausgaben zu erhöhen, heißt es in Notenbankkrei-
sen.
Der Graben zwischen der europäischen Noten-
bank und der deutschen Hauptstadt war selten so
tief wie in diesen Tagen. Im Juni hatte Draghi ange-
kündigt, die Geldpolitik im Herbst weiter lockern
zu wollen. Kurz darauf wurde anders als von vielen
in Deutschland erhofft nicht Bundesbank-Präsident
Jens Weidmann, sondern die Chefin des Internatio-
nalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, zur
Nachfolgerin Draghis an der Spitze der EZB be-
stimmt. Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass die
Französin nach ihrem Amtsantritt im November
Draghis Politik des billigen Geldes nahtlos fortset-
zen wird.
Beides zusammen hat die Debatte über die Geld-
politik der EZB in Deutschland wieder hochkochen
lassen. So sagte die CDU-Vorsitzende Annegret
Kramp-Karrenbauer im Juli, man müsse „für die Zu-
kunft schauen, ob man nicht die Niedrigzinsphase
ein Stück weit einbremsen muss“. Solche Einlas-
sungen der Politik gegenüber der unabhängigen
Notenbank waren früher ein No-Go, inzwischen
hört man sie regelmäßig – und sie werden immer
schärfer.
Mitte August veröffentlichte die „Bild“ einen Wut-
brief von Sparkassen-Verbandschef Helmut Schle-
weis. „Sie haben den Zins abgeschafft. Die Alters-
vorsorge für Millionen Menschen schmilzt wie
Schnee in der Sonne“, schrieb Schleweis. An Drag-
hi gerichtet schrieb er: „Sie ändern damit schritt-
weise Europa, Deutschland und das Leben von Mil-
lionen Menschen – nicht zum Guten, sondern lang-
fristig zum Schlechten.“ Die Zinskampagne fand
Resonanz. So schlug Bayerns Ministerpräsident
Markus Söder (CSU) vor, Strafzinsen gesetzlich zu
verbieten. Bundesfinanzminister Olaf Scholz kün-
digte an, den Vorschlag prüfen zu lassen – zum Er-
staunen seiner Beamten, die den Vorstoß ihres Mi-
nisters für populistisch halten.

Die Politik hat mit ihrer Kritik an der EZB nicht
nur Kleinsparer, sondern auch die angeschlagenen
deutschen Finanzinstitute im Blick. Eine Fortset-
zung des bisherigen Niedrigzinskurses drohe „lang-
fristig das Finanzsystem zu ruinieren“, warnte
CSU- Finanzpolitiker Michelbach. Die Politik des bil-
ligen Geldes vergrößert ihre Probleme, weshalb
auch die Bankenchefs sich verstärkt auf die EZB
einschießen. „Langfristig ruinieren diese Niedrig-
zinsen das Finanzsystem“, sagte Deutsche-Bank-
Chef Christian Sewing auf dem Handelsblatt Ban-
ken-Gipfel. Der Chef des genossenschaftlichen Ver-
sicherungskonzerns R+V, Norbert Rollinger, warnt:
„Es droht eine Zerstörung des Bankensystems in
seiner bisherigen Form.“ Auch die Folgen für seine
Branche würden immer gravierender, sagte Rollin-
ger im Interview (siehe Seite 6).
In Frankfurt löst das deutsche Trommelfeuer re-
signierte Ratlosigkeit aus. Draghi hat sich zwar vor
gut einer Woche in Berlin mit Kanzlerin Angela
Merkel (CDU) zu einem Austausch getroffen. An-
sonsten hat er aber alle Versuche eingestellt, die
Deutschen von seiner Geldpolitik zu überzeugen.
Dass ein EZB-Präsident die Stimmungslage in der
größten Volkswirtschaft der Euro-Zone ignoriert,
halten auch viele in der Zentralbank für einen Feh-
ler. Lagarde wird zwar versuchen, wieder bessere

Drähte nach Berlin zu legen. Doch auch die Franzö-
sin, die anders als der schweigsame Draghi schwie-
rige Botschaften höchstcharmant verpacken kann,
dürfte schnell an Grenzen stoßen.

Gegenseitige Schuldzuweisung
Denn in Frankfurt herrscht ein völlig anderes Lage-
bild vor als in Berlin. „Es ist frustrierend. Dass
Deutschland auch Teil des Problems ist, wird in
Berlin nicht verstanden“, heißt es in Notenbank-
kreisen. So sei die deutsche Industrie zuletzt einge-
brochen. Damit drohe der ganze Euro-Raum in ei-
ne Rezession zu rutschen. Deutschland könne dem
entgegenwirken, indem die Regierung die Staats-
ausgaben erhöhe. „Auch wenn es nur um ein paar
Milliarden ginge, hätte allein die Ankündigung, die
schwarze Null aufzugeben, eine hohe symbolische
Wirkung“, heißt es in Notenbankkreisen. „Doch
dazu ist in Berlin niemand bereit.“
Mit ihrer Forderung ist die EZB nicht allein. Auch
US-Ökonom Larry Summers sagt, die Notenbanken
könnten mit ihren Mitteln nur noch wenig ausrich-
ten. Deswegen sei die Finanzpolitik stärker gefragt.
„Nicht die EZB ist für die negativen Effekte der
niedrigen Zinsen für Sparer und Banken verant-
wortlich, sondern die Politik“, sagt Marcel Fratz-
scher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschafts-

Das große


Unverständnis


Die Bundesregierung fürchtet politischen und
ökonomischen Schaden durch eine weitere Lockerung
der Geldpolitik. EZB-Präsident Draghi ärgert sich
über Berlins Untätigkeit.

Photo by cmophoto.net on Unsplash


Henning Schacht


Wir brauchen
einen
Kurswechsel.
Hans Michelbach
CSU-Finanzexperte

Titelthema


EZB in der Zinsfalle


(^4) DONNERSTAG, 12. SEPTEMBER 2019, NR. 176

Free download pdf