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Gebäck
Die Kouign
In Kreuzberg gibt es diesen Ort, der
nach Salzkaramell duftet. Morgens um
kurz vor acht Uhr lungern Menschen
davor herum wie Süchtige, die auf ihren
Dealer warten. Wenn der Laden geöffnet
hat, reicht die Schlange manchmal bis vor
die Tür. Die Menschen warten auf die
Queen. Vier Teile Mehl, drei Teile Zucker,
drei Teile gesalzene Butter, etwas Hefe
zu einem klopsigen Teig vermengt, in
eine Form gelegt, gebacken,
bis der Teig mit einer kristal-
linen Karamellschicht um -
hüllt ist. Etwas Meersalz
darauf. Voilà: die »Kouign-
amann«. Erfunden wurde
diese Butterbombe wegen
einer Mehlknappheit in der
Bretagne vor 150 Jahren.
Mehl steckt mittlerweile in
einer anderen Krise, in
Zeiten von glutenfreien Cup-
cakes, die mit Stevia gesüßt
sind. Aber die Kouign-amann hat über-
lebt. Sie heißt in Berlin »Queen A«. »The
fattiest pastry in all of Europe«, schrieb
die »New York Times« über sie. Ein Kriti-
ker, der hier namentlich nicht genannt
werden möchte, aß sie und sagte,
danach könne man nicht mehr gera-
de gehen. Er wirkte aber ganz glück-
lich. Der deutsche Romantiker Jean
Paul schrieb einmal, die Kunst sei
zwar nicht das Brot, wohl aber der Wein
des Lebens. Offenbar hat Jean Paul nie
eine »Queen A« geknuspert und dazu
schwarzen Kaffee getrun-
ken. Wer sich in diesen
Tagen in Berlin wiederfin-
det und wissen möchte,
was der Inbegriff von
Kunst ist, modern oder
nicht, der sollte morgens
um acht Uhr in die Graefe -
straße 66/67 pilgern zur
Bäckerei Albatross. Dort
sitzt man dann zusammen
und huldigt ihr. Long live
the Kouign. TKW
Demokratie
»Besser als wir«
Die Journalistin Mareike Nieberding,
32, über ihr Buch »Verwende deine
Jugend«, in dem sie mehr politisches
Engagement fordert
SPIEGEL: Frau Nieberding, sind Sie nicht
ein wenig alt für dieses Buch?
Nieberding: Jugendlich bin ich nicht
mehr. Aber 32 ist doch ein gutes Alter für
so ein Buch: Ich bin alt genug, um an die
Jugend von heute zu appellieren, es bes-
ser zu machen als wir, die Generation Y,
und jung genug, um die Politik daran zu
erinnern, dass es an der Zeit ist, die
Jugend endlich ernst zu nehmen.
SPIEGEL:Ihr Buch trägt den Titel »Verwen-
de deine Jugend«. Was soll das heißen?
Nieberding: Die Jugend ist radikal in der
Unterzahl. Bei der letzten Bundestags-
wahl machten die Wahlberechtigten
unter 30 Jahren nur 15 Prozent aus. Das
Buch will deshalb all die jungen Men-
schen, die sich bisher nicht politisiert
haben, dazu motivieren, genau dies zu
tun. Auch ich habe mich lange zu wenig
gemeint gefühlt von den politischen Ent-
scheidungen. Ich war eine faule Optimis-
tin, die darauf vertraut hat, dass »die da
oben« sich schon kümmern werden.
SPIEGEL: Heute glauben Sie, es
wird übel?
Nieberding: Die Lage ist auf jeden Fall
ernst, ich möchte keine Tatenlose mehr
sein. Wir haben in diesem Land, mit
unserer Geschichte, eine besondere Ver-
antwortung: laut zu werden, wenn ande-
re herabgewürdigt werden, den Mund
aufzumachen, wenn man Zeuge von Dis-
kriminierung wird. Für die Jugend gilt
das in besonderem Maße.
SPIEGEL: Sie fordern, dass Jugendliche
mit 14 Jahren wählen dürfen.
Nieberding: Auf Landesebene, ja. Auf
Bundesebene mit 16. Ich finde, wenn
man alt genug ist, um für seine Taten vor
Gericht bestraft zu werden, sollte man als
Bürgerin auch das Recht haben, im abs-
trakten Sinne darüber mitzuentscheiden,
wie und von wem Gesetze gemacht
werden. Wer die Wahl hat, ist politisch
von Bedeutung. Und darum geht es mir,
der Jugend eine Stimme zu geben. SCW
Mareike Nieberding: »Verwende deine Jugend«.
Tropen;108 Seiten; 12 Euro.
Nils MinkmarZur Zeit
Tief verstrickt
Außerhalb Frankreichs kennt
man ihn kaum, aber in Paris
entgeht man ihm nicht.
Der 51-jährige Schriftsteller
Yann Moix gehört zum
Inventar der literarischen und
medialen Szene, ist immer wie-
der im Fernsehen und schreibt Bücher.
Nun hat sich seine Präsenz noch ge -
steigert – er wirkt wie die Verkörpe-
rung aller von Frankreich verdrängten
Themen.
Es begann mit einem Roman: In
»Orléans« schildert Moix seine schreck-
liche Kindheit, wie er vom Vater miss-
handelt und gedemütigt wurde. Als
Kind sah er im Vater einen Nazi, sich
selbst als das jüdische Opfer. Nach
dem Erscheinen meldete sich der Vater
zu Wort, gab einige Schläge zu – aber
nicht die im Buch beschriebenen Ex -
zesse. Außerdem sei es mit dem kleinen
Yann nicht einfach gewesen, der habe
seinen jüngeren Bruder Alexandre
drangsaliert – ihn aus dem Fenster wer-
fen wollen und mit dem Kopf ins Klo
getunkt. Dann meldete sich dieser Bru-
der und bestätigte die Aussagen. Auch
seine Kindheit war ein Martyrium –
verursacht durch den großen Bruder.
In »Orléans« kommt der Bruder nicht
vor, er wurde symbolisch gelöscht.
Wer ist nun Opfer, wer ist Täter?
Das literarische Paris spielte Familien -
aufstellung mit den Männern der
Familie Moix. Dann machte das Maga-
zin »L’Express« öffentlich, dass Moix
als Student in den Jahren 1989 und
1990 antisemitische Cartoons für eine
Studentenzeitung gezeichnet hatte.
Das räumte Moix auch ein – die Texte
dazu habe er aber nicht geschrieben.
Das stellte sich als falsch heraus.
Moix gestand auch das ein, gab aber
an, ein anderer geworden zu sein.
Auch dank seines Freundes und Förde-
rers, des jüdischen Intellektuellen
Bernard-Henri Lévy, der Moix öffent-
lich verzieh.
Wo Moix versprach, reinen Tisch zu
machen, hat er Konfusion gestiftet.
Seine live im Fernsehen vorgetragene
Entschuldigung bei der jüdischen
Gemeinschaft und sein Bekenntnis zum
Staat Israel wirkten suspekt. Was als
literarische Debatte begann, hat sich
zur Wiederkehr des Verdrängten ent -
wickelt: Die französische Familie ist
tief zerstritten und verdrängt ihr riesi-
ges Problem mit dem Antisemitismus.
An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Elke Schmitter im Wechsel.
TAKIS WÜRGER / DER SPIEGEL
»Queen A«
TANJA KERNWEISS
Nieberding