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och ist das neue alte Stadtschloss
in Berlin nicht ganz fertig. Doch
sein stuckbesetzter Baukörper
füllt die historische Mitte der
Hauptstadt aus und veranschaulicht den
Glauben mancher Menschen, man könnte
sich die Vergangenheit so zurechtlegen,
wie sie einem gerade passt.
Das Schloss soll den Eindruck erwecken,
es stünde seit Hunderten Jahren an dieser
Stelle. Als wäre das Original im Krieg nicht
beschädigt, in den Jahren der DDR nicht ge-
sprengt und durch den Palast der Republik
ersetzt worden, der dann auch verschwin-
den musste – eben für die Schlosskopie.
Zwei große Deutsche, Wilhelm und
Alexander von Humboldt, sollen dafür
bürgen, dass die Nostalgie nicht
ganz so aufgesetzt wirkt. Insbeson-
dere der Naturforscher Alexander
von Humboldt wird gern als Licht -
gestalt der deutschen Wissen-
schaftsgeschichte dargestellt, als
gelehrter Abenteurer, als uner-
schrockener Idealist. Am 14. Sep-
tember jährt sich sein Geburtstag
zum 250. Mal.
Er hat eine erstaunliche Neu -
entdeckung erfahren, seitdem der
Publizist Hans Magnus Enzens -
berger vor 15 Jahren »Kosmos«
neu herausbrachte, Humboldts
Hauptwerk. Er ist auch der Held
von Daniel Kehlmanns Bestseller
»Die Vermessung der Welt«. Und
er ist, zusammen mit seinem Bru-
der Wilhelm, der Pate des neu
gegründeten Humboldt Forums,
mit dem die Bundesregierung das
neue alte Stadtschloss füllen wird.
Die museumsähnliche Einrichtung
soll Deutschland als weltoffen
und der Aufklärung verpflichtet
zeigen.
Denn Humboldt ist zum »role
model« des guten Deutschen ge-
worden. Aber: Das ist möglicher-
weise eine ähnliche Illu sion wie die Fassa-
de des Stadtschlosses.
Alexander von Humboldt kam 1769in
Berlin als Sohn eines Offiziers zur Welt,
im selben Jahr wie Napoleon also. Beide
Männer sollten die Epoche prägen: der
Franzose als Gesetzgeber und Eroberer,
später als Tyrann; der Preuße hingegen als
Forscher. Napoleon verdächtigte den im-
mer wieder in Paris weilenden Humboldt
allerdings, ein Spion zu sein, vielleicht war
er nur eifersüchtig auf den ohne jedes Blut-
vergießen erworbenen Legendenstatus des
Forschers.
Dieser Status ist auch dem Nachwende-
deutschland wieder bewusst geworden.
In Jahren, in denen dieses Land eine
größere Rolle in der Welt spielen soll, aber
nicht klar ist, welche. Da ist die Versu-
chung groß, sich an Alexander von Hum-
boldt zu halten. Ihn als Propheten einer
freundlichen Globalisierung zu feiern, der
früh vor Monokultur und Naturzerstörung
warnte und Rettung im Fortschritt der Wis-
senschaft vermutete, auch als Humanisten
und Kulturverbrüderer.
Diese Perspektive ist möglich – aller-
dings ist sie nur eine unter vielen. Hum-
boldts Werk, sein Leben eröffnen noch
ganz andere.
Das Bild, das sich in der Öffentlichkeit
schon früh durchsetzte, ist das des kühnen
Forschers im südamerikanischen Dschun-
gel oder das des Bergsteigers, der es fast bis
auf den Gipfel des Chimborazo schaffte.
Eines Mannes, der frei auch im Geist war.
Aber viele Jahre seines Lebens arbeitete
Humboldt als Höfling. Er begleitete den
preußischen König auf Reisen, im Alltag,
führte dessen Korrespondenz und sorgte für
die abendliche Unterhaltung. Und seine bei-
den großen Expeditionen durch Südameri-
ka und Russland unternahm er im Auftrag
und mit Genehmigung des spanischen Kö-
nigs und des russischen Zaren – beide ab-
solute Monarchen, die nicht durch Men-
schen- und Freiheitsliebe aufgefallen sind.
Die vor Kurzem – pünktlich zum Ge-
burtstag – erschienene sogenannte Berner
Ausgabe versammelt in zehn Bänden
* Muschelzeichnung nach Humboldt, Anfang 19. Jahrhun -
dert; Humboldt-Autograf, um 1800; Stich eines Schwarz-
gesicht-Uakari nach Humboldt, Anfang 19. Jahrhundert;
Herbarbogen, um 1805.
** Alexander von Humboldt: »Sämtliche Schriften«. Stu-
dienausgabe in zehn Bänden; dtv; 6848 Seiten; 250 Euro.
sämtliche Schriften Humboldts, also alles,
was er veröffentlicht hat, Gesamtumfang:
fast 7000 Seiten**. Viel Stoff, der einem
Humboldt – und seine unruhige Zeit – nä-
herbringt.
Seine wissenschaftliche Arbeit etwa war
eine Herausforderung der Religion: Die
Theologie sollte nicht mehr das Monopol
darauf haben, die Phänomene des Lebens
und der Natur zu deuten.
Seine Experimente, Theorien und ihre
literarisch anspruchsvolle sowie bewe -
gende Beschreibung vermittelten ein
neues Verständnis von Mensch und
Umwelt, welches ohne Himmel und
Hölle, Schuld und Gnade, Heilige und
Götter auskam.
Diese Welt entwickelte er auch
im Selbstexperiment. Als junger
Mann ritzte er sich immer wieder,
öffnete die Wunden, damit sie
nicht verheilten, und setzte sich
Stromstößen aus. Er legte tote Frö-
sche auf die mit Strom traktierten
Wunden, um zu schauen, ob sie
zucken. Er stieg in Gruben hinab,
atmete Gase ein und bastelte an
Luftflaschen und Grubenlampen,
um das Leben von Bergleuten si-
cherer zu machen.
Während seines langen Lebens –
er wurde fast 90 Jahre alt – stürzte
er sich immer wieder in Reisen, De-
batten, Forschungen und Korres-
pondenzen. Doch die revolutio -
nären Ideale seiner Jugend – als 20-
Jähriger karrte er Sand, um in Paris
einen Tempel der Freiheit zu errich-
ten – hielten nicht lange. Er selbst
wollte ganz sicher kein Revolutio-
när sein.
Die Kunsthistorikerin Bénédicte
Sa voy und ihr Kollege David Blan-
kenstein bereiten für das Deutsche
Historische Mu seum – schräg ge-
genüber der Schlossbaustelle – eine
Ausstellung über die Brüder Humboldt
vor, im November soll sie eröffnet werden,
und sie wird Diskussionsstoff bieten.
Savoy war 2017 aus dem Beirat des
Humboldt Forums ausgetreten, weil sie
den Eindruck hatte, im künftigen Schloss
solle mit der unkritischen Präsentation eth-
nologischer Objekte deutsche Kolonial -
geschichte beschönigt werden. Sie löste
mit ihren Einwänden eine internationale
und in Berlin noch nicht verwundene
Debatte aus.
Vielen gilt sie seither als Rebellin, vor
allem ist die gebürtige Französin aber eine
viel beschäftigte Professorin, sie lehrt in
Paris und Berlin. Die Einladung des Deut-
schen Historischen Museums, mit Blan-
kenstein diese Ausstellung zu gestalten,
nahm sie dennoch an. Zu verlockend er-
schien beiden Experten die Möglichkeit,
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 111
Kultur
Naturabbildungen*:Wie Welt wohl sei
VON LINKS NACH RECHTS: DAS GRAPHISCHE GESAMTWERK ALEXANDER VON HUMBOLDT ÜBER FINES MUNDI VERLAG SAARBRÜCKEN; STAATSBIBLIOTHEK Z
U BERLIN / BPK; GILLES MERMET / AKG- IMAGES; PAUL D. STEWART / SCIENCE PHOTO LIBRARY