Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1

»historische Zusammenhänge, Tatsachen
zu repräsentieren und nicht das, was da-
raus gemacht wurde«.
Denn jede Epoche stülpte ihre eigenen
Deutungen und Umdeutungen über die
Humboldts – die beiden Kunsthistoriker
nennen das »Geschichtsdesign«. Und sie
möchten ein Bewusstsein dafür schaffen,
wie es gelingen könnte, sich von diesen In-
terpretationen zu emanzipieren.
Savoy und Blankenstein feiern die
Humboldts nicht. Sie tun auch nicht so,
als ließen sie sich ohne Weiteres in die
Gegenwart verfrachten (in der Alexander
von Humboldt etwa als »Vater der Um-
weltbewegung« gesehen wird). Sie pro -
pagieren eine Rückkehr zu den originalen
Dokumenten und plädieren für eine Be-
trachtung mit »mehr historischer Veran-
kerung«.
So werden sie beispielsweise Bücher
präsentieren, wie sie die Brüder als Kinder
gelesen haben, auch einige ihrer späteren
Briefe. Außerdem Karten, die Berlin dar-
stellen, dazu Weltkarten.
Diese Landkarten, sagen die Kuratoren,
seien der Ausdruck eines grundsätzliche-
ren Perspektivwechsels, der sich damals
vollzogen habe. Erst in dieser Zeit hätte
der Durchschnittsmensch gelernt, Karten
zu lesen, zu nutzen, vorher sei das dem
Militär und bestimmten Eliten vorbehal-
ten gewesen.


Beide Humboldtswaren umfassend Ge-
lehrte und wollten doch nie nur lesen, nur
auf Papier studieren. Wilhelm von Hum-
boldt, geboren 1767, ist der Nachwelt
zwar vor allem als Bildungsreformer be-
kannt. Aber auch er war viel auf Reisen,
und das nicht nur als Diplomat seines
Königs.
Blankenstein und Savoy erinnern daran,
dass die Brüder keine nomadischen Kos-
mopoliten waren, sondern vielmehr mit
»europäischem Blick, mit europäischer
Brille« auf die Welt schauten und in die
Ferne zogen.
Noch heute gilt Alexander von Hum-
boldt, der 1799 mit seinem Reisegefährten,
dem Botaniker Aimé Bonpland, an Bord
ging, vielen als »zweiter Entdecker« Ame-
rikas. Auch die Berliner Schlossbauer ha-
ben ihn so beworben – obwohl schon diese
Idee des Entdeckens eine wenig völkerver-
bindende ist. Der spanische König erlaubte
Expeditionen schließlich vor allem des-
halb, weil er sich Erkenntnisse darüber er-
hoffte, wie seine Kolonien besser auszu-
beuten seien.
Und Alexander von Humboldt, der
Multi-Interessierte, konnte nicht nur Pflan-
zen, Tiere, Mineralien bestimmen, Land-
schaften kartieren, dokumentieren, wo
Schneegrenzen und wo Meeresströmun-
gen verlaufen, sondern auch Tipps geben,
wie die Zuckerherstellung oder wie Bewäs-


serungssysteme zu verbessern seien oder
wo große Wasserstraßen angelegt werden
könnten. Projekte wie den später realisier-
ten Bau eines Panamakanals befürwortete
er dringend. Seine Karte von Mexiko dien-
te auch dem Zweck der besseren Erschlie-
ßung des Landes. Und als er später in Russ-
land war, wirkte er ebenfalls nützlich im
Sinne der Obrigkeit, dort legte er Aufzeich-
nungen über Gold- und Diamantenvor-
kommen an.
Kurator Blankenstein nennt ihn einen
»Strukturimpulsgeber« der kreolischen
Eliten in Lateinamerika sowie der Monar-
chen in Europa. In Süd- und Mittelame -
rika spiele der lange so verehrte Hum-
boldt heute »nicht mehr nur die Rolle des
Helden«.

Nichts ist so einfach, so glatt an den
Humboldts, wie es gern vermittelt wird.
Sie selbst, standesbewusst, selbstbewusst,
haben sich in einer Situation der Überle-
genheit gewähnt.
Alexander von Humboldt entwickelte
sich zu einem Gegner der Kolonial -
herrschaft, der Sklaverei, er betonte die
Einheit des Menschengeschlechts, aber
seine Beschreibungen der Menschen zeu-
gen von einer Überheblichkeit, die für
damalige Verhältnisse milde gewesen sein
mag, heute aber schwer als vorbildlich
gelten kann.
»So nahe alle Völker Amerikas mit -
einander verwandt scheinen, da sie ja
derselben Rasse angehören, so unterschei-
den sich doch die Stämme nicht selten
bedeutend im Körperwuchs, in der mehr
oder weniger dunklen Hautfarbe, im
Blick, aus dem bei den einen Ruhe und
Sanftmut, bei andern eine unheilvolle

Mischung von Traurigkeit und Grausam-
keit spricht.« An ande rer Stelle spricht er
über den »Wilden in seiner verständigen
Einfalt«. Und den »gechristeten Wilden«
mochte er nicht, denn der sei »feiger und
dümmer«.
In seinem Element war er augenschein-
lich, wenn Fragen offen blieben, wenn die
Beobachtung zum Kuriosum raffiniert
wurde. Etwa in seinem kleinen Aufsatz
»über die erdefressenden Otomaken« in
Venezuela. Diese Menschen, er besuchte
sie in der Nähe einer Missionsstation,
genießen in seiner Schilderung »fetten,
milden Lehm«, den sie zu Kugeln formen,
backen und dann etwas befeuchten. Letzt-
lich blieb es Humboldt ein Rätsel, warum
sie das taten und vor allem warum sie

nicht krank wurden. In manchen Monaten
hatten sie Mühe, Fische zu fangen – dass
dann zur Lehmkugel gegriffen wurde,
leuchtete Humboldt noch ein. Aber auch
wenn es Fisch gab, seien sie nach dem
Lehm »so lüstern« gewesen. Ein mora -
lischer Unterton schwingt mit: Sie konn-
ten sich nicht beherrschen, diesen Lehm
zu essen.
Diese Leute, die er als »von unan -
genehmen tartarischen Gesichtszügen«
beschrieb, blieben ihm wegen solch
mangelnder Affektkontrolle suspekt.
Man findet diese herablassenden Be-
schreibungen, dann wieder präzise Plä-
doyers, warum den Juden dieselben
Rechte und Pflichten wie allen anderen
zukommen müssen.
Humboldt lebte in seinem eigenen Kos-
mos aus lauter Geschichten. Der 40 Jahre
jüngere Charles Darwin sollte davon
Zeuge werden, als es ihm 1842 endlich ge-

112 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019

Kultur

AKG-IMAGES
Weitsch-Gemälde mit Reisegefährten Humboldt, Bonpland, 1810: »Verständige Einfalt«
Free download pdf