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s ist 34 Jahre her, dass die kana-
dische Schriftstellerin Margaret
Atwood ihren Roman »Der Re-
port der Magd« veröffentlichte.
Damals, 1985, war Ronald Reagan der
Präsident der Vereinigten Staaten; es
gab die UdSSR noch, und dass Ajatollah
Chomeini die Macht in Iran übernom-
men hatte, lag gerade einmal sechs Jahre
zurück.
Atwood war 45 Jahre alt, trug dunkle
Locken und war Mutter einer damals neun-
jährigen Tochter. In Kanada hatte sie einen
Ruf als Literaturkritikerin und Autorin,
doch über Kanada hinaus war sie nicht
wirklich bekannt. Im Fernsehen lief »Dal-
las«. Literaturverfilmungen waren höchs-
tens was fürs Kino.
Damals hat Atwood das Ende ihres in-
zwischen zum modernen Klassiker gereif-
ten Romans »Der Report der Magd« ein-
fach offengelassen. Bis zu diesem Sommer.
Am 10. September wird ihre Fort -
setzung vom »Report der Magd« erschei-
nen. Der neue Roman trägt den Titel
»Die Zeuginnen«. Auf Englisch heißt er
»The Testa ments«, er wird weltweit am
selben Tag in den Buchläden liegen. Bis
dahin wird ein großes Geheimnis um das
Werk gemacht.
Das Manuskript wurde vorab nicht ver-
schickt und erst recht nicht gemailt, die
Mails hätten ja gehackt werden können.
Wer es vorab lesen durfte, wie der SPIEGEL,
musste zum Buch reisen, die Lektüre fand
unter Aufsicht im Verlag statt. So etwas gibt
es sonst nur in der Popmusik, wenn ein neu-
es Taylor-Swift-Album ansteht etwa, im Li-
teraturbetrieb aber ist das höchst selten.
Doch seit vor zwei Jahren die amerikani-
sche Fernsehserie »The Handmaid’s Tale«
startete, sind Margaret Atwood und ihr Ro-
man weltberühmt.
Es ist die große Icherzählung der Magd
Desfred, die nach einem politischen Um-
sturz im totalitären und christlich-funda-
mentalistischen Staat Gilead lebt, den At-
wood auf dem Gebiet der USA verortet
hat. Als Desfred versucht, mit Mann und
Kind aus Gilead zu fliehen, wird sie gefan-
gen genommen, von ihrer Familie ge-
trennt, um einem Kommandanten des neu-
en Systems und seiner kinderlosen Frau
Margaret Atwood: »Die Zeuginnen«. Aus dem Eng -
lischen von Monika Baark. Berlin Verlag; 576 Seiten;
25 Euro.
als gebärfähige Magd zu dienen. In einem
monatlichen Ritual muss sie sich von dem
Ehemann vergewaltigen lassen, um für das
Regime Nachkommen zu produzieren.
Am Ende des Romans wird sie gezwungen,
in einen Wagen einzusteigen, mit dem in
Gilead Menschen zur Deportation abge-
holt werden. Es bleibt ungewiss, wohin sie
gebracht wird und ob sie womöglich
schwanger ist.
Eigentlich sollte das Interview mit der
Schriftstellerin im Konferenzraum eines
privaten englischen Klubs stattfinden,
doch Atwood gefällt es draußen im Garten
besser, und es ist auch viel schöner, ein
perfekter Sommertag Mitte Juli, nicht zu
warm, nicht zu kalt, die hoch stehende
Sonne wirft ihr helles Licht. Draußen sein
zu dürfen ist ein Luxus, der den Mägden
in Gilead nur nach strengen Regeln zuge-
standen wird.
Atwood wiederum verbrachte die Jahre
ihrer Kindheit in den Wäldern Kanadas,
ihr Vater war ein Insektenforscher, den
sie als Mädchen ab und zu bei seiner
Arbeit begleitete. Ihre Literatur ist von
diesen Naturerfahrungen geprägt. Wälder
sind in Atwoods Romanen Übergangs orte
zur Freiheit, und ihr Blick auf ihre fiktiven
Charaktere gleicht dem eines Insekten -
forschers. Die Schriftstellerin verfolgt mit
oft ungerührtem Interesse, wie sich ihre
Figuren unter speziellen Umständen ver-
halten.
Die erste Frage an Margaret Atwood im
Sommer 2019 muss lauten: Warum haben
Sie sich nach mehr als 30 Jahren entschlos-
sen, eine Fortsetzung zu schreiben? »Zwei
Dinge, nein, drei Dinge«, sagt sie. »Ers-
tens: die Wahl in den USA. Zweitens: Seit
›Der Report der Magd‹ erschienen ist, bin
ich unzählige Male gefragt worden, wie
die Geschichte weitergeht. Ich hatte das
für den Leser bewusst offengelassen, aber
nachdem die Fernsehserie die Handlung
fortgesetzt hat, habe ich mich entschieden,
in der Erzählung noch einen Schritt weiter
voranzuschreiten.«
Drittens also: Die Schriftstellerin will
sich die Geschichte, die sie einst erfunden
hat, zurückerobern.
Die Fernsehserie nach Atwoods Buch
startete in den USA wenige Monate, nach-
dem Trump die Präsidentschaft übernom-
men hatte. Der Erfolg war groß, hohe Ein-
schaltquoten, ein Preisregen bei der Emmy-
Verleihung. Viele Zuschauer erkannten
in der dystopischen Erzählung vom Staat
Gilead einen geradezu prophetischen Ent-
wurf dessen, worauf die USA unter ihrem
neu gewählten Präsidenten zusteuern
könnten: auf das Ende eines liberalen, to-
leranten, weltoffenen Miteinanders.
Die Serie ist großartig gefilmt, mit tollen
Schauspielern besetzt. Elisabeth Moss in
der Hauptrolle als Magd Desfred bleibt
einem lange im Gedächtnis. Eine zweite
Staffel sollte entstehen, eine dritte, doch
der Stoff von Atwoods Roman war ausge-
schöpft. »Der Report der Magd« war zu
Ende erzählt. Ein Team von zehn Autoren
wurde darangesetzt, den Stoff fürs Fern-
sehen weiterzuentwickeln. Margaret At-
wood gab ihre Einwilligung. »Ging’s Ihnen
gut damit?« – »Hatte ich eine Wahl?«, ant-
wortet sie. Atwood hätte als große Verhin-
dererin gegolten.
Aber sie bestand darauf, dass in der
Handlung nur Dinge vorkommen dürfen,
die eine Entsprechung in der realen
Menschheitsgeschichte haben. Von dieser
Prämisse habe sie sich auch beim Schrei-
ben des Romans leiten lassen. Kein dysto-
pischer Heckmeck, sondern ausschließlich
Erfahrungen, die für manche Menschen
einmal die Realität waren. Als sie sich Mit-
te der Achtzigerjahre ans Schreiben mach-
te, waren die Erlebnisse der Frauen in Iran
nach der Islamischen Revolution ein wich-
tiger Einfluss – aber auch, was Atwood
während eines längeren Aufenthalts in
West-Berlin und auf Reisen in der DDR
über das Stasispitzelsystem erfuhr.
Die Schriftstellerin bekam die Dreh -
bücher zum Gegenlesen, sie pochte darauf,
dass bestimmte Figuren am Leben blie-
ben – Tante Lydia! –, denn damals reifte
der Gedanke, selbst eine Fortsetzung zu
schreiben. Sich die Hoheit über den Stoff
zurückzuholen.
Es ist eine langweilige Art der Annähe-
rung, eine Frau über ihr Alter wahrzuneh-
men. Doch gleichzeitig bereitet es einem
gute Laune, wenn jemand so überhaupt
nicht 80-jährig ist wie Margaret Atwood.
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Kultur
Später Superstar
LiteraturMargaret Atwood hat eine Fortsetzung von »Der Report der Magd« geschrieben: Mit dem
Roman »Die Zeuginnen« will sich die fast 80-jährige Feministin ihre Geschichte zurückerobern.
»Die wichtigste Sache
beim Romanschreiben?
Den Leser über die erste
Seite hinausbringen.«