Von ihren grauen Haaren sollte sich nie-
mand täuschen lassen. Das Interview dauert
kaum fünf Minuten, da blitzt schon ihr tro-
ckener Humor auf. »Die wichtigste Sache
beim Romanschreiben: Wenn man möchte,
dass der Leser bis zu dem wundervollen
Moment der Weisheit auf Seite 80 kommt,
muss man ihn über die 1. Seite hinausbrin-
gen und über die 5. und auch über die 20.«
Bei der Lektüre von »Die Zeuginnen«
fällt zuerst auf, wie sehr der Ton des neu-
en Romans dem des Vorgängers aus dem
Jahr 1985 entspricht. Da ist die gleiche
schnoddrige Poesie, die gleiche Unerbitt-
lichkeit im Schildern menschlicher Ab-
gründe und die Gabe, auch in eine finstere
Geschichte Spott und Witz einzuweben.
Und, ja, da sind auch der Wille und das
Talent, satt unterhaltsam zu sein. »Die
Zeuginnen« ist ein literarischer Page -
turner. Eine Rarität.
Im Mittelpunkt stehen drei Frauen, die
Geschichte setzt rund 16 Jahre später ein
und beginnt gleich mit einer großen Über-
raschung, nämlich damit, dass die Erzäh-
lerin diesmal Tante Lydia ist. Auf den al-
lerersten Seiten berichtet sie davon, wie
sie ein Denkmal ihrer selbst enthüllt.
»Schon jetzt bin ich versteinert.«
Der Leser kennt die Figur aus »Der Re-
port der Magd« als eine sadistische Erzie-
herin, die an eine KZ-Aufseherin erinnert,
und jenen Frauen, die dafür vorgesehen
sind, als Mägde in Gilead Kinder zur Welt
zu bringen, die Idee von Zucht und Ord-
nung im neuen Staat mit Stromschlägen
und grausameren Methoden vermittelt.
In »Die Zeuginnen« entpuppt sich Tante
Lydia als eine Doppelagentin. Sie hat ein
Privatgemach in einer der letzten verblie-
benen Bibliotheken in Gilead und schreibt
hier eine Art Tagebuch über ihre Erfahrun-
gen an der Spitze des Systems. Innerlich
hat sie sich längst abgewandt. Der Leser
erfährt, wie Tante Lydia zu der Person wur-
de, als die man sie im ersten Roman kennen -
lernte; gleichzeitig betreibt sie von innen
heraus den Untergang Gileads.
Nach wenigen Seiten wechselt das Buch
zur zweiten Erzählerin, hinter der sich
Desfreds erste Tochter verbirgt, die ihr
weggenommen wurde, als sie mit Mann
und Kind kurz nach der Gründung Gileads
zu fliehen versuchte. Sie heißt Agnes
Jemima und wurde von einer Familie in
Gilead großgezogen. Als die Geschichte
einsetzt, geht ihre Schulzeit zu Ende, der
Zeitpunkt, an dem junge Frauen in Gilead
verheiratet werden. Doch Agnes zögert,
kann sich für keinen der Heiratskandida-
ten entscheiden und kommt in die Obhut
von Tante Lydia, weil sich die junge Frau
zu einer der führenden Tanten ausbilden
lassen will.
Die dritte Erzählerin schließlich ist ein
16-jähriges Mädchen in Kanada, dessen El-
tern ein betont unauffälliges Leben führen.
Sie führen einen Secondhandladen und
sind bemüht, sich politisch nicht zu posi-
tionieren. Doch die rebellische Tochter be-
sucht trotz des Verbots ihrer Eltern eine
große Demonstration gegen die Zustände
im benachbarten Staat Gilead. Daraufhin
überschlagen sich die Ereignisse, bald wird
deutlich, dass diese Erzählerin, Daisy, die
zweite Tochter Desfreds ist.
Weil Atwood einen handlungsgetriebe-
nen, spannenden Roman geschrieben hat,
ist es allen potenziellen Lesern gegenüber
unfair, vorab zu viel zu verraten. Nur noch
dies: Die Heldin des ersten Romans, Des-
fred, taucht in »Die Zeuginnen« nur noch
ganz am Rande auf. Als handelnde Figur
hat Atwood sie nicht mehr berücksichtigt.
War das ihr Plan von Anfang an? Es
könnte auch ein ziemlich guter Scherz sein,
der Atwood diebische Freude bereitet hat,
ausgerechnet jene Figur, die spätestens seit
der Fernsehserie weltweit populär ist, ein-
fach nicht mehr vorkommen zu lassen.
»Wenn ich mit einem Roman beginne, weiß
ich selbst ziemlich wenig über das Buch«,
sagt sie. »Wüsste ich schon alles, würde ich
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019 119
OLIVIER HESS / DER SPIEGEL
Schriftstellerin Atwood: Das Böse kann durchaus weiblich sein