Der Spiegel - 07.09.2019

(Ron) #1

münden dürfte, die das Königreich seit
Langem gesehen hat.
Es ist ein Drama, das fast vergessen lässt,
worum es eigentlich geht: um die Frage,
ob Großbritannien am 31. Oktober den
vertraglosen Bruch mit der EU wagt, wie
Boris Johnson es offenbar will. Das briti-
sche Unterhaus hat dem nun vorerst einen
gesetzlichen Riegel vorgeschoben. Und mit
diesem Aufbegehren gegen einen Premier-
minister, der die gewählten Abgeordneten
einfach übergehen wollte, nicht nur ein Zei-
chen für die parlamentarische Demokratie
gesetzt. Es hat eine chaotische Scheidung
von der EU zumindest ein Stück unwahr-
scheinlicher gemacht. Aber was nun?
Mit seinem rücksichtslosen Voranpflü-
gen hat Boris Johnson, der 77. Premiermi-
nister Großbritanniens, eine der ältesten
und ehrwürdigsten Parteien Europas tief
gespalten. So tief, dass nicht zu erkennen
ist, wie und wann sie sich von Boris, dem
König der Zocker, wieder erholen soll. 
Die parteiinterne Fehde über das Ver-
hältnis zu Europa hat die Tories nahezu zer-
stört. Die Partei Margaret Thatchers, die
Partei Harold Macmillans, die Partei Wins-
ton Churchills – von dem Boris Johnson
sich bis in die Körpersprache hinein so viel
Oberflächliches abgeschaut hat – existiert
in ihrer bisherigen Form nicht mehr. Große
Namen der Tories sind ausgestoßen worden
aus der Fraktion, die sie selbst jahrzehnte-
lang geprägt hatten. Männer wie Kenneth
Clarke, der in mehreren konservativen Ka-
binetten gedient hat, und 13 weitere ehe-
malige Minister und Staatssekretäre.
An die Stelle der alten Partei ist eine
Gruppe von Eiferern getreten, angeführt
von Boris Johnson, deren Sprache und
Vorgehen verblüffend anderen autoritären
Populisten ähnelt, wie es sie in den USA,
in Italien, Polen, Ungarn und anderswo
auch gibt. Nur dass diesmal das selbst er-
nannte Geburtsland der modernen
Demokratie von Demokratiever-
ächtern ausgehöhlt wird, die sich
selbst als die einzig wahren Demo-
kraten bezeichnen. Sie wollen das
Parlament ausschalten, um das Er-
gebnis eines Referendums durch -
zusetzen, dessen Fragestellung so
vage gehalten war, dass niemand
genau weiß, welchen Brexit die Bri-
ten eigentlich wollten. Von einem
No Deal jedenfalls war niemals die
Rede.
Unter dem Vorwand, den Volks-
willen durchzusetzen, wird die
»Mutter der Parlamente«, das bri-
tische Unterhaus, von einem Teil
ihrer Kinder misshandelt. Und nie-
mand weiß, wen oder was diese
Konservativen, die sich mit kriege-
rischer Rhetorik immer weiter auf-
putschen, noch willens sind zu zer-
stören, um ihr Ziel zu erreichen:


ihre Nation vom »Joch« der Europäischen
Union zu befreien – oder das, was am
Ende noch übrig ist von dieser Nation.
Diese Gruppe steht für einen englischen
Nationalismus, der die Fliehkräfte im Land
stärkt, die Unabhängigkeitsbestrebungen
der Schotten genauso anfacht wie die Ver-
einigungssehnsucht der nordirischen Re-
publikaner. Gordon Brown, Schotte und
vorerst letzter Labour-Premier, hatte be-
reits vor Wochen orakelt: Boris Johnson
könnte »der letzte Premierminister des
Vereinigten Königreichs« sein.
Die neueste und bislang heftigste Es -
kalationsstufe im mehr als dreijährigen
Brexit-Scharmützel hatte der 55-jährige
Johnson noch vor dem Ende der parlamen-

tarischen Sommerpause eingeläutet: Am
Mittwoch vergangener Woche teilte er den
verblüfften Abgeordneten des Unterhau-
ses mit, dass er sie in Kürze in eine fünf -
wöchige Zwangspause schicken werde. Da
sein Land die EU unter allen Umständen
an Halloween, dem 31. Oktober 2019, ver-
lassen werde, sei es an der Zeit, in Ruhe
ein Regierungsprogramm für die Monate
und Jahre danach zu erarbeiten.
Das war, wie so vieles im Leben des Bo-
ris Johnson, ein pinocchiohafter Umgang
mit der Wahrheit. Den Parlamentariern
war sofort klar, dass Johnson ihnen jede
Möglichkeit rauben will, seine Brexit-Pla-
nungen zu torpedieren.
Die Angst des Regierungschefs vor dem
650-köpfigen Unterhaus ist begründet.

Von seiner Vorgängerin Theresa May hat
der ehemalige Außenminister eine fragile
Koalition mit den nordirischen Nationalis-
ten von der DUP geerbt, die nur noch eine
Stimme Mehrheit hatte. May selbst hatte
ihren mit Brüssel verhandelten Schei-
dungsvertrag dreimal im Parlament zur
Abstimmung gestellt – und war dreimal
gescheitert.
Zwei unversöhnliche Gruppen, die un-
ter Missachtung jeder Parteiloyalität zu-
sammenarbeiteten, hatten sie stets in die
Zange genommen: auf der einen Seite EU-
Freunde, die letztlich das Brexit-Votum
rückgängig machen wollten – auf der an-
deren Seite radikale Freihandelsbefürwor-
ter, die insgeheim auf einen vertraglosen
Bruch mit dem Staatenverbund, den soge-
nannten No Deal, spekulierten.
Der größte Frevel in den Augen der Bre-
xit-Hardliner war die von May abgesegnete
Notfalllösung – der sogenannte Backstop –
für die irisch-nordirische Grenze, die künf-
tig eine EU-Außengrenze sein wird. Der
Backstop sieht daher vor, dass Nordirland
bis auf Weiteres in der EU-Zollunion und
in Teilen des Binnenmarkts bleiben würde,
sollten sich das Vereinigte Königreich und
die 27 verbliebenen EU-Staaten nicht zeit-
nah auf einen Freihandelsvertrag einigen
können. Damit die von einem jahrzehnte-
langen Bürgerkrieg vernarbte Region weit-
gehend friedlich bleibt, wollen London,
Dublin und Brüssel keinesfalls wieder
Grenz- und Zollkontrollen ein führen.
Die Brexit-Hardliner sehen im Backstop
vordergründig »fortgesetztes Vasallentum«
und einen Angriff auf die Unteilbarkeit
des Königreichs. Tatsächlich fürchten viele
aber mindestens genauso sehr, dass ihr
Traum vom unbegrenzten Handel mit der
ganzen Welt unerfüllt bleiben könnte.
Johnson, der zweimal gegen und einmal
für Mays Scheidungsabkommen gestimmt
hatte, war also gewarnt. Er ent-
schied sich, anders als May, aber
gegen jede Form der Kompro -
misssuche und schlug sich auf die
Seite der Hardliner. Die EU ließ er
wissen, dass er gar nicht erst ver-
handeln werde, sollte sie am Back-
stop festhalten – und zog schließ-
lich aus, das Parlament mundtot zu
machen.
Damit löste er eine politische La-
wine aus, unter der er schon bald
selbst begraben werden könnte.
Der Mann, der sich zum Brexit-
Alleinherrscher machen wollte, ist
am Ende dieser Woche nur noch
ein kleiner König Gernegroß.
Bereits Stunden nach Johnsons
Ankündigung, das Parlament für
fünf Wochen zu suspendieren, hat-
te sich der Widerstand formiert.
Eine ganz große Koalition, beste-
hend aus Labour, fast allen anderen

12

Titel

Rees-Mogg-Fotomontage
Verachtung fürs Parlament

Labour-Granden wollen
Johnson ab sofort
»in seinem eigenen Saft
schmoren lassen«.
Free download pdf