mich zu sehr langweilen und mit dem
Schreiben gar nicht erst beginnen.«
Die bezwingende Kraft des ersten
Romans lag in dem Entwurf des Staates
Gilead, und je älter das Buch wurde, desto
beeindruckender war es, wie diese Vision
nichts von ihrer Aktualität einbüßte. At-
wood war es gelungen, eine Welt zu schaf-
fen, in deren Düsternis sich im Laufe der
Jahrzehnte die verschiedensten weltpoli-
tischen Entwicklungen spiegeln konnten.
Dem neuen Roman fehlt diese Einmalig-
keit, die Welt Gileads konnte nicht noch
mal neu erfunden werden. Doch Atwood
ergänzt sie in »Die Zeuginnen« um eine
facettenreiche, kluge Erörterung der Frage,
welchen Einsatz und welche persönlichen
Zugeständnisse der Kampf um ein freiheit-
liches politisches System von jedem Ein-
zelnen verlangt.
Sie war immer eine politische, eine fe-
ministische Schriftstellerin. Was sich zuerst
mal darin zeigt, dass im Mittelpunkt fast
all ihrer Romane Frauen stehen. Und diese
Frauen sind längst nicht immer nur positi-
ve Charaktere. Atwood ist dafür kritisiert
worden, dass das Böse bei ihr durchaus
weiblich sein kann. Doch einer schemati-
schen Sichtweise auf Frauen hat sie sich
stets souverän widersetzt. Es wäre litera-
risch uninteressant, und es stempelt Frau-
en als Sonderwesen ab.
Atwood, das wird in dem Gespräch mit
ihr an diesem Sommertag in London deut-
lich, ist eine Kämpferin für die Menschen-
rechte, dafür, dass diese Rechte für alle
gelten. Ohne Ausnahmen. »Wieder und
wieder verteidige ich die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte. Jeder
Mensch ist ein Mensch. Ich weiß gar nicht,
warum ich das seit Jahrzehnten wiederho-
len muss. Wenn man erst anfängt, manche
Menschen als weniger menschlich zu be-
trachten als andere, gerät alles in Rut-
schen«, sagt sie. Keine Errungenschaft,
kein Gesetz sei für die Ewigkeit. Alles kön-
ne wieder rückgängig gemacht werden.
Milde oder gar Schönfärberei liegen der
Autorin bei ihrem Blick auf die Welt völlig
fern. Eine Verschärfung des Abtreibungs-
verbots oder der Kampf für dessen Ab-
schaffung, wie er im US-Bundesstaat Ala-
bama geführt wird, bezeichnet Atwood als
den Versuch, Frauen zu »Sklavinnen« zu
machen. Zu einer Art Sklavinnen? »Nicht
zu einer Art Sklavinnen. Es ist Sklaverei,
eine Frau dazu zu zwingen, ein Kind zu
bekommen.«
Als sich nach Donald Trumps Amts -
einführung der erste Women’s March in
Washington formierte, um gegen dessen
Präsidentschaft zu protestieren, gab es
Plakate, auf denen zu lesen war: »Make
Margaret Atwood fiction again« – Mar-
garet Atwood muss wieder zu Literatur
werden.
Selbstverständlich hat sie das regis-
triert. Auch bei anderen Protestmärschen
seien diese Poster aufgetaucht, es habe
Demonstranten in rotem Gewand und mit
weißer Haube gegeben – wie die Mägde
aus der Fernsehserie. »Das hat nichts
mehr mit mir zu tun«, sagt Atwood.
»Mein Roman ist zu einem jener Bücher
geworden, die eigene Formen annehmen.
Charles Dickens kann auch nichts da -
gegen tun, dass seine Figur Ebenezer
Scrooge heute als Tannenbaumanhänger
verkauft wird.«
Sie ist nun so berühmt, dass ein Inter-
view mit ihr von einer Literaturagentin
genauestens überwacht wird, nach 40 Minu -
ten kündigt die Dame an, dass noch 5 Mi-
nuten blieben – die große Popstarbehand-
lung. Die Premiere von »The Testaments«
wird am 10. September stattfinden, in
mehr als tausend Kinos weltweit wird eine
Veranstaltung mit Atwood live übertragen
werden. Doch wenige Tage vorher gelingt
es der »New York Times«, vor der Zeit an
das Manuskript des Romans zu gelangen,
womit die ganze schöne PR-Strategie in
sich zusammenfällt. Wäre ihr dieser Ruhm
und dieser Rummel im Alter von 20 Jahren
zugestoßen, sagt Atwood, hätte er vermut-
lich ihr Leben ruiniert. Claudia Voigt
120
GEORGE KRAYCHYK / HULU / AP
Szene aus der Fernsehserie »The Handmaid’s Tale«, 2018: »Alles gerät ins Rutschen«
Atwood war immer
politisch, feministisch.
Ihre Frauenfiguren
sind nicht nur positiv.