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ass Plattenfirmenbosse dumm und
gierig sind und wegweisende Werke
großer Künstler zurückhalten, weil
sie dem kommerziellen Kalkül nicht ent-
sprechen, ist ein beliebtes Vorurteil. Oft
genug stimmt es ja auch, Superstars wie
Prince und George Michael wurden wegen
solcher Konflikte über Jahre künstlerisch
stark eingeschränkt.
So ist es aber nicht immer. Manchmal
haben die Chefs einfach recht. Es gibt Plat-
ten, die das Licht der Öffentlichkeit zu
Recht nie erblickt haben. Weil sie schon
misslungen waren, als sie entstanden –
und mit den Jahren, die sie im Archiv ver-
staubten, nicht besser geworden sind.
34 Jahre ist es nun her, dass der Jazz-
trompeter Miles Davis, damals 59 Jahre
alt, Musiker für eine Aufnahmesession
nach Los Angeles rief. Er hatte seine Plat-
tenfirma gewechselt und war zu Warner
gegangen – nach drei Jahrzehnten bei
Columbia, wo er seit 1955 unter Vertrag
gewesen war und alle seine wegweisen-
den Platten produziert hatte. Dementspre-
chend wichtig schien, was passieren würde.
Wie sollte er klingen? Er galt als Picasso
des Jazz. Er war der Mann, der mit seinen
künstlerischen Wandlungen diese Musik
ein halbes Dutzend Mal in eine neue Rich-
tung gelenkt hatte. Der allerdings die zwei-
te Hälfte der Siebzigerjahre im Drogen -
nirwana verbracht und fast keine Musik
mehr gemacht hatte. Und dem Kritiker seit
seinem Comeback vorwarfen, keinen Jazz
mehr zu spielen.
Jazz war Davis zu diesem Zeitpunkt
tatsächlich ziemlich gleich. Er hatte eine
neue Frau und eine neue Hüfte und wollte
neu anfangen. Ihm ging es um Erfolg. Er
saß vor dem Fernseher, schaute MTV.
Wenn ihm etwas gefiel, ließ er sich die Plat-
ten schicken. Pop interessierte ihn. Weißer
Pop, schwarzer Pop.
So entstand »Rubberband«, ein Al-
bum, das jetzt endlich herauskommt. Und
das auch bestimmt sein Publikum finden
wird, welcher Kunstfreund würde an ei-
nem neu entdeckten Picasso-Gemälde
vorbeigehen? Das jedoch tatsächlich we-
nig mehr zeigt als einen älteren Mann,
den es verzweifelt zu den jungen Leuten
zieht – der aber den künstlerischen Weg
nicht findet.
Die jungen Leute waren Davis’ Neffe
Vince Wilburn Jr, ein Schlagzeuger, und
eine Reihe junger Musiker. Er schickte sei-
nen Neffen los, um sich eines dieser neuen
elektronischen Schlagzeuge zu kaufen –
Davis’ alter Freund Herbie Hancock hatte
es mit dem Electrostück »Rockit« an die
Spitze der amerikanischen Dancecharts
gebracht. Elf Stücke umfasst »Rubber-
band« heute, aus jedem weht eine Achtzi-
gerjahre-Daddelfunk-Stimmung herüber,
die damals schon fragwürdig war und seit-
dem nicht gut gealtert ist: glatte Synthesi-
zerflächen, perfekt heruntergegniedelte
Gitarrensoli, elektronische Basslinien.
Das hat manchmal seine interessanten
Momente, wenn Davis’ Trompete zwi-
schen diesen Klängen hindurchstößt. Aber
das ist selten, der Trompeter spielt zu we-
nig. Was an sich nicht ungewöhnlich ist.
Davis war ein großer Zuhörer, dass er
künstlerisch nie stehen blieb, lag auch da-
ran, dass er sich immer wieder für junge
Musiker öffnete und dann lauschend ne-
ben ihnen auf der Bühne stand. Es rettet
»Rubberband« allerdings auch nicht. Auf
»Tutu«, dem Album danach, klappte dann
einiges von dem, was Davis sich vorgestellt
hatte – »Rubberband« wurde nie veröf-
fentlicht. Die Warner-Chefs legten die Auf-
nahmen einfach weg. Bevor sie nun er-
schienen, mussten sie überhaupt erst ein-
mal fertig produziert werden.
Davis starb 1991, in den vergangenen
Jahren sind einige verschollene Platten ver-
storbener großer Jazzmusiker erschienen,
von John Coltrane oder dem Briten Tubby
Hayes und anderen. Fast alle kamen aus
den heroischen Jahren dieser Musik in den
Sechzigern. Und auch wenn sie alle voll
bemerkenswerter Musik waren – jede die-
ser nachträglichen Veröffentlichungen leb-
te vor allem von dem Wunsch, der Kanon
des Jazz möge nicht abgeschlossen sein,
die große Zeit jener Musik müsse doch
noch Meister werke in sich bergen, die der
Entdeckung harren. Dass diese Zeit vor al-
lem vorbei ist und die Vergangenheit kein
Ersatz für die Gegenwart sein kann, ist für
Jazzfreunde schwer zu schlucken.
Auch »Rubberband« ist so ein Fall.
Wobei man allerdings viel guten Willen
mitbringen muss, um das Genie von Miles
Davis zu finden, in dem kühlen, melan-
cholischen Sound, den er nie verlor, und
in dem eigenartigen Kontrast, den er mit
der sauberen Künstlichkeit der Synthesizer
eingeht, die die Stücke dieses Albums an-
sonsten prägen.
Aber das ist die gutwillige Interpretation.
Wer nichts über Miles Davis weiß, wem die
historische Einordnung egal ist – für den
könnte dieses Album auch schlicht nach
Fahrstuhlmusik klingen.Tobias Rapp
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019^121
Neue Hüfte,
neue Musik
Jazz34 Jahre nach seiner Entste-
hung erscheint »Rubberband«,
ein unveröffentlichtes Album des
Trompeters Miles Davis.
LUCIANO VITI / GETTY IMAGES
Künstler Davis 1987: Vergangenheit kann kein Ersatz für die Gegenwart sein
Kultur