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ie Geschichte beginnt mit einem Porträt, einer Fron-
talansicht. Grau in grau. Der Kühlschrank, die
Mikrowelle, die Fliesen, die Wand, alles grau. Davor
Sabrina. Graue Haare, obwohl sie nicht alt ist, die Augen
zwei schwarze Punkte, das Gesicht ein paar Striche und
Kringel in einem blassbeigen Oval. Auf dem verblichenen
T-Shirt sind schwarze Sterne zu sehen, als wäre hier ein
Stern gestorben – und ein
schwarzes Loch geblieben.
Sabrina wird nach wenigen
Seiten aus der Geschichte ver-
schwinden. Aber schwarze Lö-
cher sind hungrige Dinger. Das
Fehlen der unscheinbaren Frau
erzeugt einen Sog, der auf jeder
Seite dieses Comics spürbar ist.
Als »Sabrina« voriges Jahr
bei Drawn & Quarterly erschie-
nen ist, dem bekanntesten Ver-
lag für Comics ohne Superhel-
den, sagte die britische Schrift-
stellerin Zadie Smith, es sei
»das beste Buch – egal in wel-
chem Medium –, das ich über
den derzeitigen Moment gele-
sen habe«. Mit dem »Moment«
meinte sie die Trump-Präsi-
dentschaft, die Apotheose von
Fake News und Verschwö-
rungstheorien. Die Erzählung
sei »ein Meisterwerk« und
»wahrhaft große Kunst«.
Ganz schön viel Gepäck,
nicht nur für einen Comic. Als
»Sabrina« dann auch noch als
erster Comic in der fast 50-jäh-
rigen Geschichte der Auszeich-
nung für den Booker Prize
nominiert wurde, waren aufge-
regte Stimmen schon mit Ver-
gleichen zu »Maus« bei der Hand – Art Spiegelmans Comic
über den Holocaust, mit dem er 1992 den Pulitzerpreis gewann.
Nick Drnaso ist 30 Jahre alt, und geht es nach seinem Look,
reiht er sich bereits jetzt prima in die Reihe der lebenden Le-
genden der Comic-Kunst ein. Drnaso (gesprochen: Dürr-Näs-
so) ist ein blasser Kerl mit Kassengestellbrille und einem Blei-
stiftschnurrbart, ein freundlich wirkender Weirdo. Und wie
so oft bei gelungener Kunst liegt der Nukleus von »Sabrina«
nicht in einer auf dem Reißbrett angelegten Reflexion über
unsere Zeit, sondern in fast unaushaltbar intensiven Gefühlen:
Liebe, was sonst – und noch etwas anderem.
Nick Drnaso: »Sabrina«. Aus dem Amerikanischen von Daniel Beskos und
Karen Köhler. Blumenbar; 208 Seiten; 26 Euro. Erscheint am 13. September.
Nehmen wir das Happy End vorweg: Heute ist Drnaso
mit der Comiczeichnerin und Blumenhändlerin Sarah Leit-
ten verheiratet. Doch als sie anfingen, sich zu treffen, und
es langsam ernst wurde, da merkte der schüchterne junge
Mann eines Tages, wie sehr er sie emotional brauchte. Und
diese Abhängigkeit machte ihm Angst. Was wäre, wenn
sie ihn verließe? Oder verschwände? Oder stürbe? Was
würde aus ihm werden? Wie aushaltbar wäre ein Leben
danach? Mit diesem Horror im Nacken begann er die ersten
Zeichnungen einer Erzählung über Teddy, einen jungen
Mann, dessen Freundin Sabrina eines Tages auf dem Weg
nach Hause verschwindet.
»Sabrina« ist durchsponnen von diesem Gefühl des Ver-
lustes, in dem alle Schönheit, alle Normalität vergeht.
Drnaso wirft uns in eine Welt großer Kargheit. Die Far-
ben sind verblichen, die Gesichtszüge der Figuren sind
selten mehr als ein paar schwarze Punkte und Striche. Und
eben darin liegt der Reichtum der Erzählung. Denn die
erschreckende Leere, mit der »Sabrina« uns Bild für Bild
konfrontiert, ist Teddys Welt. Und das Wissen darum
trifft rüder als jeder weit-
schweifige litera rische Ge-
dankenstrom. In der Karg-
heit steckt auch ein erzäh -
lerisches Angebot: Jedes
Detail, das Drnaso für sei -
ne Geschichte dem Alltag
entreißt und in Teddys Welt
drapiert – ein leerer Wäsche-
korb, ein merkwürdig ge-
formter Busch, ei ne Über-
wachungskamera – gehört
zu einem lyrischen Uhr-
werk, das die Geschichte
erzählt und intensiviert.
Nur aus einem Winkel
bricht plötzlich eine Über -
fülle in die Erzählung: Als
Sabrinas Leiche gefunden
wird, wollen Verschwörungs-
theoretiker darin ein groß
angelegtes Ablenkungsma-
növer erkannt haben. Hier
lässt Drnaso den gedank -
lichen Kurzschlüssen der
Verwirrten viel Raum. Ver-
führerisch wortreich strö-
men ihre Gedankenketten
in die Geschichte und die
Köpfe der Figuren. So offen-
bart er eines der großen Di-
lemmata unserer Zeit: dass
wir die Möglichkeit haben,
jene Wahrheiten zu wählen, die wir ertragen können. Sogar
zum Tod gibt es alternative Fakten.
Fast bis zum Ende wird Teddy im Sturm seiner Emotio-
nen vor sich hin vegetieren. Regungslos auf einer Matratze
liegend, erstarrt auf einem Treppenabsatz. Drnasos prägen-
des Stilmittel ist sein Umgang mit Gesichtern: Sie sind merk-
würdig leer, obwohl die Figuren voll von Emotionen und
Gedanken sind, voller Ängste und Hoffnungen. Sie sind
wie Gefäße, in denen Stürme von Emotionen toben. So er-
trägt Teddy den Wahnsinn seiner Existenz – bis ihn das Le-
ben irgendwann wieder mit bedeutungslosem Alltag und
wohltuender Gleichgültigkeit überschwappt.
Das ist in der dunklen Welt dieses Buches dann ein Happy
End.Benjamin Maack
Die Seele,
ein schwarzes Loch
Comic-Kritik»Sabrina« von Nick
Drnaso erzählt meisterhaft vom Verlust
eines geliebten Menschen.
DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Kultur
NICK DRNASO
Seite aus »Sabrina«
Jedes Detail gehört zu einem lyrischen Uhrwerk