Heidemarie Ulrich identifiziert wurde. Sie
beginnen damit an, die Beerdigung vorzu-
bereiten.
Allerdings müssen die Leichen erst ein-
mal zurück nach Deutschland gebracht
werden. In den Tagen nach Ostern klingelt
deshalb in einer Kasseler Wohnsiedlung
das Telefon, Dominik Kracheletz betreibt
dort die Firma Tohr – Weltweite Überfüh-
rungen GmbH, die Abkürzung steht für
Transportation of Human Remains.
Er ist ein großer Mann mit Fliege, er hat
mehrere Bestattungshäuser, eines davon
auf Sylt. Vor Jahren hatten ihn Menschen
damit beauftragt, ihre Angehörigen zurück
nach Deutschland zu holen. Kracheletz
kannte sich nicht aus. Als er merkte, dass
sich auch sonst niemand auskannte, grün-
dete er Tohr. Heute organisiert er jedes
Jahr die Überführung von rund 1600 Ver-
storbenen.
Eine Überführung dauere bei ihm »zwi-
schen drei Tagen aus dem türkischen An-
talya bis zu einem halben Jahr aus China«,
sagt Kracheletz. »Aber China haben wir
nur einmal im Quartal.« Unter den Verun-
glückten sind Bergsteiger, aus Österreich
oder der Schweiz, oft trifft es auch Jugend-
liche auf Abschlussreise, die sich überschät-
zen und betrunken in ein Boot steigen.
Kracheletz engagiert auf Madeira eine
Kollegin, die den portugiesischen Bestat-
tern vor Ort zuarbeiten soll. Seine Ange-
stellten in Kassel übersetzen Antragsformu-
lare, besorgen Papiere der Verstorbenen,
Heiratsurkunden, Scheidungsurkunden,
Stammbücher, ohne diese Unterlagen kann
auch ein deutscher Standesbeamter keine
Sterbeurkunde ausstellen. Und sie helfen,
geeignete Särge zu finden.
Denn die Bestatter dürfen Verstorbene
nicht einfach in einen Sarg legen und nach
Hause verfrachten, es gibt Bestimmungen
wie das »Übereinkommen über Leichen-
beförderung« aus dem Jahr 1973. Dort leg-
te der Europarat fest, ein zugelassener Sarg
bestehe »aus einem äußeren Holzsarg mit
einer Wandstärke von mindestens 20 mm
und einem sorgfältig verlöteten inneren
Sarg aus Zink oder aus einem anderen
selbstzersetzenden Stoff«, alternativ könne
der Sarg mit dem gleichen Material ausge-
kleidet werden, wenn das Holz dafür dicker
ist. Jedem Sarg muss ein Leichenpass bei-
gelegt werden, ein weißes Schriftstück, auf
dem der Name notiert ist, der Start der Rei-
se und das Ziel, wie bei einem Flugticket.
Am 1. Mai startet eine Maschine der
portugiesischen Luftwaffe in Madeira und
liefert abends die ersten 18 Särge in Frank-
furt an. Kracheletz steht selbst auf dem
Rollfeld, im Frachtraum des Flugzeugs
blickt er auf die dunkel verhüllten Kästen,
die mit Gurten am Boden fixiert sind. Er
geht die Särge durch, eins, zwei, drei, ord-
net die Namen den Autos zu, auch Heide-
marie und Klaus Ulrich sind darunter. »Es
gibt nichts Schlimmeres, als wenn wir Ver-
storbene falsch anliefern«, sagt er. Am Tag
darauf landet die Maschine erneut in
Frankfurt, dieses Mal befinden sich elf Lei-
chen an Bord.
Jörn Ulrich schreibt am selben Tag eine
Mail an den Außenminister:
Hallo Herr Maas, Jörn Ulrich ist mein
Name ... Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstel-
len können, wie wir uns durch diese Fehl-
informationen vom Auswärtigen Amt in
dieser Zeit gefühlt haben und auch immer
noch fühlen.
Mit tieftraurigem Gruß
Joern Ulrich
Die Antwort des Außenministers um-
fasst eineinhalb Seiten. Maas spricht sein
Beileid aus, schildert den Hergang auf Ma-
deira, versichert aber, »dass alle Beteiligte
nach bestem Wissen und Gewissen gehan-
delt haben«. Der Brief endet mit:
Mit stillem Gruß
Heiko Maas
Mittlerweile liegt das Busunglück von
Madeira knapp fünf Monate zurück. Es
gibt das Video einer Überwachungskame-
ra, das zeigt, wie der Bus in der engen Kur-
ve die Straße verlässt, die Vorderräder in
der Luft, wie er sich mehrmals überschlägt
und schließlich zum Liegen kommt. Die
Ermittlungen der portugiesischen Staats-
anwaltschaft sind bis heute nicht abge-
schlossen. Möglich, dass die Bremsen des
Busses defekt waren, denkbar auch, dass
der Fahrer übermüdet war.
Stefan Ulrich hat die Beerdigung seiner
Eltern organisiert, sie liegen auf dem Fried-
hof in Neumünster, inmitten von Rhodo-
dendren. 150 Trauergäste kamen, so viele,
dass sie auf eine größere Kirche ausweichen
mussten. Er hat Daueraufträge gekündigt,
die Telefone umgeleitet, Kleidersäcke zur
Tafel getragen. Das Haus seiner Eltern ist
noch nicht verkauft, aber er hat das Un-
kraut gejätet und die Hecken geschnitten.
Stefan Ulrich hat auch Frank Hartmann
getroffen, den Krisenbeauftragten des Aus-
wärtigen Amts. Hartmann hat eingeräumt,
dass es ein Fehler gewesen sei, die Ulrichs
über eine Frau zu unterrichten, die nicht
zweifelsfrei identifiziert war.
In der Zeitung haben die Ulrichs eine
Traueranzeige geschaltet, rechts oben
steht ein Bibelzitat, erster Korintherbrief,
Kapitel 13: »Nun aber bleiben Glaube,
Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe
ist die größte unter ihnen.«
Was ihnen sonst geblieben ist?
Die Armbanduhr ihres Vaters, ein An-
hänger mit einem »H« für Heidi, die Ehe-
ringe. Und eine Kamera mit Urlaubsfotos.
52 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Gesellschaft
MILOS DJURIC / DER SPIEGEL THOR WELTWEITE ÜBERFÜHRUNGEN GMBH
Notfallmanager Hartmann, Särge von verunglückten Madeira-Urlaubern: »Die erste Phase der Krisenreaktion ist sehr schnell und gut gelaufen«
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