8 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Meinung
Man kann der SPD nicht
vorwerfen, dass sie auf
ihrem langen Marsch
zurück ins Kanzleramt
etwas dem Zufall überließe.
Die ganze Republik mag
darüber spotten, dass die Partei
sich mitten in ihrer Regierungszeit eine
fünfmonatige Auszeit gönnt, um auf
23 Regionalkonferenzen plus Mitglieder-
abstimmung plus Stichwahl plus Partei-
tag neue Vorsitzende zu finden. Aber,
hier kommt die gute Nachricht: Die
Häme ist unbegründet. Die Genossen
wissen genau, was sie tun. Alles ist bis
ins Detail geplant.
Vor Tourneebeginn bekamen die
17 Bewerber die Gelegenheit, im Berliner
Willy-Brandt-Haus Fotos und Videos für
ihre Bewerbung zu produzieren. Ein
Merkblatt der Parteizentrale (»Informa-
tionen & Hinweise für Teams und Kan-
didat*innen«) erklärte ihnen haargenau,
was dabei zu beachten ist: »Der Look
ist modern, lebendig und authentisch«,
wurde den Kandi dat*in nen zum Bei-
spiel mitgeteilt. Ein ganz wichtiger Hin-
weis, denn wenn es um Authentizität
geht, kann die Planung nicht akribisch
genug sein. Ferner hieß es: »Der Blick in
die Kamera ist freundlich, kommunika-
tiv und offen.« Und über die Kleider-
wahl: »Wir raten zu einem Casual-Busi-
ness-Stil, möglichst klar und modern.«
Für das perfekte Make-up würden im
übrigen professionelle Visagistinnen vor
Ort sein. Das alles steht unter der Maxi-
me: »Die Fotos sollen spontan, in locke-
rer Körperhaltung und nicht zu insze-
niert wirken.« Die Inszenierung eines
freundlich-kommunikativen Blicks bei
lebendig-authentischem Look darf also
niemals inszeniert wirken. Das ist bis-
lang eine der schönsten Stilblüten des
modernen Politikmarketings, die schrift-
lich festgehalten wurden.
Dann kam der Mittwoch, der Tour-
neeauftakt in Saarbrücken. Plötzlich
standen da Menschen auf der Bühne
(manche im Casual-Business-Stil), die
ein Anliegen hatten, die mit Leiden-
schaft sprachen und sich mit Ideen für
eine gerechtere Gesellschaft überboten
(viele jedenfalls). Es war schnell klar,
dass doch noch Leben in dieser Partei
steckt. Die 700 Mitglieder im Saal schie-
nen glücklich über so viel Inhaltlichkeit.
Vielleicht hat die SPD viel zu lange
darauf geachtet, wie sie auf Fotos aus-
sah – bis irgendwann niemand mehr
sehen konnte, wofür sie steht.
An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen
und Alexander Neubacherim Wechsel.
Markus FeldenkirchenDer gesunde Menschenverstand
Bitte recht authentisch!
So gesehen
Weggenickt
Jacob Rees-Mogg erfüllt den
Traum aller Sitzungsopfer.
Gänzlich unangemessene Häme
ergoss sich am vergangenen Dienstag
über Jacob Rees-Mogg, den Brexit-
Hardliner im britischen Parlament.
Während seine ehrenwerten Kolle-
ginnen und Kollegen in schier end -
loser Wiederholung die, je nach
politischer Perspektive, blendenden
oder katastrophalen Aussichten auf
ein ungeregeltes Ausscheiden der
Briten aus der Euro päischen Union
debattierten, lehnte sich der Konser-
vative zu rück, machte sich über
drei Sitz plätze auf der sofagleichen
grünen Parlamentsbank lang, legte
die Hände auf dem Bauch über -
einander und schloss die Augen.
Große Empörung bei der Oppo -
sition: Rees-Mogg zeige mit seiner
Körperhaltung Verachtung für das
Parlament und auch für das Volk,
schimpfte die grüne Abgeordnete
Caroline Lucas. Dabei tat Jacob
Rees-Mogg nur das, wovon andere
träumen.
Man kennt das. Alles ist gesagt,
nur noch nicht von jedem, doch
die Sitzung will einfach kein Ende
nehmen. Man will nur noch weg.
Weg vom Elternabend, weg aus der
Projektsitzung oder eben weg aus
dem Parlament. Kaum einer traut
sich, was Rees-Mogg sich getraut
hat: einfach mal wegnicken.
Es ist nicht bekannt, wie tief er
geschlafen hat, lange kann es bei
dem Gezeter der Opposition nicht
gewesen sein. Ein sogenannter
Powernap also, der, so sagt die Wis-
senschaft, die Leistungsfähigkeit
um bis zu 35 Prozent steigern kann.
Hätte die Pause länger gedauert,
wäre er in Tiefschlaf versunken. Wer
da jäh geweckt wird, fühlt sich nicht
frisch, sondern gerädert. So gesehen
hätte ihn die Opposition ruhig noch
etwas schlafen lassen sollen.
Stefan Kuzmany