in Moskau im Spätsommer 2019, dass
Oppositionelle aufatmen, wenn die eine
absurde Beschuldigung durch eine an -
dere ersetzt wird.
Seit den jüngsten Protesten in Moskau
läuft Russlands Strafjustiz auf Hochtouren.
Am selben Tag, an dem Schukow in den
Hausarrest entlassen wird, haben Mos -
kauer Gerichte drakonische Urteile gespro-
chen: fünf Jahre für einen Tweet. Drei Jah-
re für einen Demonstranten, der Pfeffer-
spray einsetzte. Zwei Jahre, weil jemand
einen Polizisten an der Hand zerrte.
Aber kein Fall ist so prominent wie der
von Schukow. Der Student ist zum Symbol
geworden – für eine kindlich-unerschro-
ckene russische Jugend, die in die Mühle
eines repressiven Apparats gerät. Schukow
sei ein »zeitgenössischer Held«, verkün-
dete der Schriftsteller Dmitrij Bykow, einer,
der »die wichtigsten Züge seiner Genera-
tion« verkörpere, seine Festnahme sei »ein
kolossaler Fehler« des Kreml.
Schukows Fall steht zugleich für eine
neue Solidarität: Studenten und Dozenten
E
ine Menschentraube steht an einem
lauen Abend vor dem Moskauer
Basmanny-Gericht, die jugendlichen
Gesichter sind fröhlich. Es ist am Ende
doch noch ein guter Tag geworden, jeden-
falls für die Freunde von Jegor Schukow.
Gerade noch saß der Politikstudent in
einem Käfig im Gerichtssaal. Er hatte einen
Monat Untersuchungshaft hinter sich und,
im schlimmsten Fall, acht Jahre Haft vor
sich – wegen angeblicher Teilnahme an
»Massenunruhen«. Massenunruhen, das ist
eine Formel der russischen Justiz für jene
Proteste, auf denen Moskauer freie Wah-
len zum Stadtparlament am 8. September
forderten und an denen Schukow teilge-
nommen hatte.
Am Dienstagabend entschied die Rich-
terin überraschend, dass Schukow aus
der Untersuchungshaft in den Hausarrest
verlegt wird. Und die Ermittler verkün-
deten, er werde nur noch wegen »Ex -
tremismus« beschuldigt. Darauf stehen
maximal fünf Jahre, nicht mehr acht. So
weit haben sich die Maßstäbe verschoben
treten für ihn ein. Oxxxymiron, einer der
berühmtesten Rapper im Land, hat zwei
Millionen Rubel Kaution für ihn angebo-
ten. Zwei Chefredakteure haben für ihn
gebürgt. Die Assoziation amerikanischer
Russischlehrer hat sich solidarisiert.
Das Drama um Schukow beginnt in den
Semesterferien. Ende Juli ziehen Tausen-
de Moskauer vor das Rathaus, um gegen
den Ausschluss oppositioneller Kandida-
ten von der Wahl zum Stadtparlament zu
protestieren. Die friedliche Demonstration
ist nicht genehmigt, die Polizei löst sie auf
und nimmt vorübergehend 1400 Men-
schen fest. Der Bürgermeister und die Be-
hörden sprechen von »Massenunruhen«.
Kurz darauf präsentiert ein TV-Sender
Schukow als einen der Anführer. Er habe
die Menge angeleitet, eine Polizeikette zu
durchbrechen. Der Film ist ein schnell
gebastelter Propagandabeitrag – die abge -
bildete Person ist gar nicht Schukow, wie
sich bald herausstellt. Aber da ist die Ma-
schinerie der Justiz schon angeworfen. Am
- August wird Schukow festgenommen.
Dass es ihn trifft, ist kein Zufall. Schu-
kow führt einen YouTube-Blog mit damals
100 000 Abonnenten, auf dem er über ge-
waltfreie Proteste nachdenkt. Es ist ein
sehr studentischer, intellektueller Blog, es
geht darin auch um den »Libertarismus«,
die Idee, dass der Staat weitgehend über-
flüssig sei, weil er die Freiheit des Einzel-
nen einschränke. Die Fahne der Libertä-
ren, eine Klapperschlange auf gelbem
86 DER SPIEGEL Nr. 37 / 7. 9. 2019
Generation furchtlos
RusslandDer Student Jegor Schukow kam wegen der Teilnahme an
den Protesten in Moskau ins Gefängnis. Tausende Russen
solidarisieren sich mit ihm. Begehrt die Jugend gegen Putin auf?
YURI KADOBNOV / AFP
Demonstrant mit Schukow-Porträt: »Wir dürfen die Angst nicht siegen lassen«