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Ausland
Grund, hat sich Schukow über sein Sofa
gehängt.
Aus der russischen Provinz betrachtet,
wirkt Schukow wie ein verzogener Schnö-
sel, seine ultraliberale Philosophie elitär.
In den Regionen wird derzeit ebenfalls
protestiert, aber es geht da um handfeste
Dinge – Essen, Rente, sauberes Wasser. In
Moskau geht es ums Prinzip. Und die Mos-
kauer empört es, wenn ein nachdenklicher,
friedfertiger Musterschüler, noch dazu aus
gutem Elternhaus, zum Staatsfeind erklärt
wird. Wohin bewegt sich ein Land, das so
jemanden hinter Gitter bringt?
»Egal ob man mit ihm einverstanden ist
oder nicht, Jegor ist eine markante Per-
sönlichkeit, ehrgeizig, intellektuell, ein gu-
ter Student. Ausgerechnet so jemanden als
Opfer auszuwählen ist ein starkes Zei-
chen«, sagt Walerija Kassamara. Die Poli-
tikdozentin und Prorektorin der Higher
School of Economics (HSE) hat Schukow
unterrichtet. Auch sie hat vor Gericht für
ihn gebürgt.
Die HSE, kurz »Wyschka«, ist eine Elite -
hochschule, regierungsnah und zugleich
liberal. Das erklärt die Solidarität, die
Schukow erfahren hat. Liberal und regie-
rungsnah sein, das ist in Russland ein fast
unmöglicher Spagat, man sieht das an Kas-
samara selbst: Auch sie kandidiert für das
Stadtparlament, als Unterstützerin des
Bürgermeisters – desselben Mannes, der
der Polizei für ihr hartes Durchgreifen
gegen Demonstranten dankte.
Als Wissenschaftlerin hat sie erforscht,
was die Generation Schukows von ihrer
eigenen unterscheidet. Sie sagt: Die Jun-
gen, »oder die Generation Putins, wie sie
sich selbst nennen«, hätten keine Angst.
Sie seien in der ruhigsten Zeit groß gewor-
den, die Russland je gekannt habe, behütet
von den Eltern. Sie fürchteten sich nicht
mal, wenn sie nach einer Kundgebung im
Polizeitransporter landeten. »Unsereiner
hätte gedacht: Wenn ich festgenommen
werde, verliere ich meinen Studienplatz,
kriege keine Arbeit, und mein ganzes
Leben ist im Eimer.«
Jugendliche Furchtlosigkeit ist es, was
Schukow verkörpert, und diese Furcht -
losigkeit erklärt zugleich die drakonischen
Strafen, die das Regime gegen ihn und sei-
ne Mitstreiter erwägt. Die Strafen haben
einen Zweck: eine neue Protestgeneration
das Fürchten zu lehren. Auch Angst muss
eingeübt werden, und die herkömmlichen
Mittel scheinen nicht zu wirken.
Es ist mit der Einschüchterung offen-
kundig so wie mit manchen Medikamen-
ten – der Staat muss die Dosis erhöhen,
um bei den Jungen weiterhin das ge-
wünschte Angstniveau zu erzielen. Russ-
lands Justiz ist dabei, mit einer stärkeren
Dosierung zu experimentieren. Anders als
bei der großen Protestwelle 2012 hat sie
dabei mehr Mittel, die Gesetzgebung wur-
de verschärft. Aber anders als damals ist
sie unsicher, welche sie einsetzen soll. Ein
Großverfahren wegen »Massenunruhen«
wie 2012 will sie nun doch nicht.
Wie Schukow selbst die Angst über-
wand, das zeigt sein YouTube-Blog. Am
- August nahm er sein bislang letztes Vi-
deo auf. »Wir dürfen jetzt die Angst nicht
siegen lassen«, sagt er mit ernster, fester
Stimme, »denn mit der Angst kommt die
Stille, die nur noch unterbrochen wird
vom Bremsen des Gefangenentranspor-
ters vor der Tür und dem Schrillen der
Klingel.«
Stunden später klingelte die Polizei an
Schukows Wohnungstür. Sein Freund
Jewgenij Owtscharow war dabei, als Schu-
kow abgeführt wurde. »Er wirkte nicht
eingeschüchtert, eher so: LOL, ich bin bloß
Student und 21 Jahre alt, und so viele Poli-
zisten holen mich ab«, erzählt er.
Owtscharow und Schukow kennen sich
von der politischen Arbeit. Auch Schukow
wollte nämlich diesen Sommer für das
Stadtparlament kandidieren, Owtscharow
half ihm dabei. Es war ein verrückter Ein-
fall. Nachdem sie tausend Unterschriften
gesammelt hatten, gaben sie auf.
Die beiden ahnten nicht, was folgen
würde – ihre erste Begegnung mit der Welt
des russischen Strafvollzugs. Als Owtscha-
row im Gefängnis Kleidung für Schukow
abgeben wollte, wurde er von den Wäch-
tern angeschnauzt, weil er die Regeln nicht
kannte. »Woher soll ich so was denn wis-
sen? Wird so etwas künftig in der Schule
unterrichtet?«, sagt er.
Wie Owtscharow, so hat auch Nikita
Pona rin in den ersten Tagen nach Schu-
kows Verhaftung große Ängste durchge-
standen. Aber, sagt er: »Wir haben Angst
vor langen Haftstrafen. Alles andere
- zehn Tage Arrest oder eine hohe Geld-
strafe – gilt heute als Kleinigkeit«. Ponarin
ist ein Kommilitone von Schukow, er trägt
einen hochgezwirbelten Hipster-Schnurr-
bart und eine silberne Schildkröte am Ohr.
Mit Schukows ultraliberalen Ideen konnte
er nichts anfangen, aber sie haben gern
über Politik diskutiert.
Jetzt organisiert er im Internet Hilfe für
Schukow. Für die Eltern jener, die in Un-
tersuchungshaft sitzen, haben sie einen
eige nen Chat mit Tipps eingerichtet. Die
Zahlung von Geldstrafen und Anwaltskos-
ten, das Schicken von Briefen, all das ist
heute – anders noch als bei den regierungs-
kritischen Protesten 2012 – bestens orga-
nisiert. Vielleicht sei eben das der Unter-
schied zwischen den Generationen, sagt
Ponarin: »Ich fühle mich nicht allein ge-
genüber dem System. Hinter mir stehen
3000 Leute, die unseren Kanal abonniert
haben.«
Die Solidarität senkt die Angst. Die dra-
konische Justiz soll sie wieder heben.
Die Schukow-Unterstützer vor dem
Basmanny-Gericht am Dienstag freuen
sich und stellen zugleich die eigene Freude
infrage. Den großen Schauprozess wegen
»Massenunruhen«, den sie befürchtet ha-
ben und in dem Schukow eine Hauptrolle
gespielt hätte, wird es nicht geben, so viel
ist klar. Aber die Einschüchterungskam -
pagne hält an, das zeigen die strengen
Einzelurteile. Die Paragrafen haben sich
geändert. Der Kampf geht weiter.
Christian Esch
Twitter: @Moskwitsch
ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES
Einsatzkräfte, Protestierender am 3. August in Moskau: Es geht ums Prinzip