Die Weltwoche - 05.09.2019

(ff) #1

28 Weltwoche Nr. 36.19
Bild: Walter Bieri (Keystone)


Wer wissen will, welche Politiker die eigenen
Ansichten am ehesten vertreten, nutzt in der
Schweiz meist Smartvote. Gestartet 2003, hat
sich die Web-Applikation als wichtigster
Wahlhilfeservice etabliert. Nur in wenigen
Ländern gab es so früh ein solches Angebot,
und nur in wenigen Ländern erreichen ver-
gleichbare Plattformen einen ähnlich hohen
Marktanteil. Bei den eidgenössischen Wahlen
vor vier Jahren liessen sich 85 Prozent der
National- und Ständeratskandidaten von
Smartvote politisch vermessen. Daraus resul-
tierten 1,3 Millionen Wahlempfehlungen –
bei knapp 5,3 Millionen Wahlberechtigten.
Das Herzstück der Anwendung ist ein Kata-
log von 75 Fragen. Er umfasst alle Politikbe-
reiche und berücksichtigt Sachpositionen,
Werthaltungen sowie Budgetprioritäten. Die
Kandidaten hinterlegen ihre Antworten
öffentlich einsehbar, teils mit Kommentaren
versehen, um ihre Ansichten zu erklären.
Nachdem ein Nutzer den Fragebogen eben-
falls ausgefüllt hat, berechnet ein Algorithmus
einen prozentualen Übereinstimmungswert.
Dargestellt wird das Ergebnis in Listenform,
gefiltert nach Wahlkreisen. Der Nutzer sieht
so auf einen Blick, welche wählbaren Kandi-
daten mit Smartvote-Profil ihm politisch am
nächsten stehen.


Gleichauf mit der Klimapolitik


Da Smartvote die Konkurrenz sichtbarer
macht – und damit eine hohe Aufmerksamkeit
erreicht –, haben die Parteien im Normalfall
ein Interesse daran, ihr Profil möglichst scharf
herauszustellen. Der Sonntagsblick berichtete
kürzlich, fast alle Parteien würden ihren
Kandidaten einen Leitfaden zur Verfügung
stellen, um die Fragen zu beantworten. Aller-
dings lassen sich Differenzen bei Smartvote
nur dann abbilden, wenn auch nach ihnen ge-
fragt wird. Die Betreiber der Plattform, orga-
nisiert in einem politisch neutralen, nicht
gewinn orientierten Verein, berücksichtigen
für ihren Fragebogen wichtige Themen, «zu
welchen viele Kandidierende unterschiedliche
Meinungen haben», wie sie schreiben. Gleich-
zeitig räumen sie ein, dass subjektiv sei, was
man als wichtig bewerte.
Dass Smartvote gelegentlich eine Leerstelle
lässt, überrascht deshalb kaum; dass es dies-
mal das Rahmenabkommen der Schweiz mit
der Europäischen Union trifft, schon eher.
Folgt man dem jüngsten SRG-Wahlbarometer,
zählt die Europapolitik für 37 Prozent der


Schweizer zu den drei wichtigsten Themen
der Gegenwart. Das ist der zweithöchste Wert,
hinter der Gesundheitspolitik und gleichauf
mit der Klimapolitik. Im Frühjahr, als die Dis-
kussion um das Rahmenabkommen einem
ersten Höhepunkt zustrebte, lag dieser Wert
sogar nahe bei 50 Prozent, was Platz eins be-
deutete. Gespiegelt wird das bei Smartvote
nicht. Nur drei von 75 Fragen beziehen sich
auf das Verhältnis der Schweiz zur Europäi-
schen Union – und keine davon auf das Rah-
menabkommen.
Gefragt wird nach der Personenfreizügig-
keit, nach dem Schengen-Abkommen und
nach EU-Beitrittsverhandlungen. Während
aber die Personenfreizügigkeit und das Schen-
gen-Abkommen tatsächlich Debatten anstos-
sen, die manchmal sogar in knappen Volks-
entscheiden münden, wirkt die Frage nach
Beitrittsverhandlungen aus der Zeit gefallen.
Gerade einmal 15 Prozent der Bevölkerung
wünschen sich einen EU-Beitritt, wie die all-
jährliche Sicherheitsstudie der ETH für 2019
ermittelte – ein tiefer Wert im historischen

Vergleich. Und von den gros sen Parteien hat
nur noch die SP den EU-Beitritt im Programm.
Die FDP und die CVP räumten diese Position
schon vor Jahren.
Die Konfliktlinie in der Europapolitik ver-
läuft heute kaum mehr entlang der Beitritts-
frage. Die Parteien streiten viel eher darum,
welchen Preis die bilateralen Verträge haben
dürfen. Soll man, um sie nicht zu gefährden,

eine institutionelle Anbindung der Schweiz an
die Europäische Union unterstützen? Soll
deren Gerichtshof im Zweifel verbindliche Ur-
teile für die Schweiz fällen dürfen? Im Katalog
von Smartvote fehlen solche Fragen – ausser bei
der Personenfreizügigkeit –, dabei betreffen sie
nicht nur die vieldiskutierte Europa politik,
sondern auch Unabhängigkeit und Souverä-
nität im Allgemeinen. Nimmt man wiederum

Vorteil Freisinn


Das Rahmenabkommen ist bei Smartvote, der grössten Online-Wahlhilfe der Schweiz,


kein Thema. Das dürfte der SVP schaden und der FDP helfen.


Von Erik Ebneter


Die Europapolitik zählt für
37 Prozent der Schweizer zu den drei
wichtigsten Themen der Gegenwart.

«Ja, aber»-Kurs: FDP-Chefin Petra Gössi am Eidgenössischen Schwingfest in Zug.
Free download pdf