Die Weltwoche - 05.09.2019

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Weltwoche Nr. 36.19 29


den SRG-Wahlbarometer zum Massstab, halten
immerhin 17 Prozent der Schweizer dieses
Thema für besonders wichtig. Zum Vergleich:
Die Gleichstellung von Mann und Frau kommt
nur auf 15 Prozent (dafür indirekt auf mehrere
Fragen bei Smartvote).


Einfluss auf Wahlverhalten


Was bedeutet das für die Parteien? Unklar ist,
ob voting advice applications, wie Angebote à la
Smartvote im wissenschaftlichen Jargon heis-
sen, einen Einfluss auf das Wahlverhalten ihrer
Nutzer haben. Kürzlich erschien im Journal of
Politics eine Feldstudie, die am Beispiel von
Smartvote dieser Frage nachging. Die Auto-
ren, darunter Forscher aus der Schweiz, schrei-
ben in ihrem Resümee, die Resultate liessen
einen Einfluss vermuten. Konkret würden die
Nutzer bestärkt, ihre favorisierte Partei tat-
sächlich zu unterstützen. Gleichzeitig würden
sie vermehrt andere Parteien als Wahloptio-
nen erwägen. Eine ältere Untersuchung, ver-
öffentlicht in West European Politics, stellte zu-
dem fest, dass die Frageauswahl das Ergebnis
der Wahlempfehlung verändern kann.
Wendet man diese Erkenntnisse auf den
diesjährigen Wahlkampf in der Schweiz an,
drängt sich der Schluss auf, dass die Frageaus-
wahl bei Smartvote der FDP helfen und der
SVP schaden kann. Beide Parteien konkurrie-
ren um Wähler rechts der Mitte, unterschei-
den sich aber in ihrer Haltung zum Rahmen-
abkommen. Die SVP lehnt es ab und weiss
damit den grössten Teil ihrer Anhänger hinter
sich. Die FDP verfolgt einen «Ja, aber»-Kurs:
Ihre Fraktion hat dem Abkommen zuge-
stimmt, sofern die EU gewisse Fragen klärt.
Mehr als die Hälfte der FDP-Wähler fordert
hingegen Nachverhandlungen, wie eine
Tamedia-Umfrage im Frühling ergab. Die
EU hat dieses Ansinnen inzwischen zurück-
gewiesen und damit potenziell viele Frei sin-
nige ver ärgert. Sie dürften für die SVP-Posi-
tion empfänglich sein.
Sichtbar ist diese Position auf Smartvote
nicht. Könnten sich die Kandidaten dort zum
Rahmenabkommen äussern, würden manche
FDP-Anhänger womöglich mehr SVP-Politi-
ker zur Wahl empfohlen bekommen. Dass die-
sen Freisinnigen einen Wechsel zur SVP zu-
mindest ins Auge fassen würden, legen die
neuen Studienergebnisse nahe. Passieren
dürfte nun, was die Forscher ebenfalls beob-
achteten: dass die Parteipräferenz der Nutzer
gestärkt wird. In der wichtigsten europapoliti-
schen Frage, die Smartvote stellt – Beitrittsver-
handlungen: ja oder nein? –, unterscheiden
sich SVP und FDP nicht. Es hätten beim Frei-
sinn viele Kandidaten ausscheren müssen, da-
mit für die Wähler eine erkennbare Differenz
entstanden wäre. Die Parteispitze unterband
dies schon im Ansatz: «Die FDP lehnt einen
EU-Beitritt ab», heisst es in ihrem Smartvote-
Leitfaden unmissverständlich. g


Umwelt


Grünes Glaubensbekenntnis


Von Klimajugend bis Bundesrat – fast alle fordern einen CO 2 -
Ausstoss von netto null. Dass die Realität sich den hehren Plänen
nicht beugt, wird ausgeblendet. Von Hans Rentsch und Martin Schlumpf

D


ie Gletscher-Initiative ist der grösste Eti-
kettenschwindel der schweizerischen
Abstimmungsgeschichte. Den Leuten wird
suggeriert, wir Schweizer hätten es in der
Hand, das Abschmelzen unserer Alpenglet-
scher zu verhindern. Denn wer liest schon den
Initiativtext? «Netto null CO2» ist zum neuen
grünen Glaubensbekenntnis geworden, dem
nun alle Parteien mit Ausnahme der SVP hul-
digen. Auch der Bundesrat hat nachgezogen.
Die Differenzen liegen nur noch beim Zielter-
min: 2030 (Klimajugend), 2040 (BDP) oder
2050 (Bundesrat). Der mehr oder weniger ra-
sche Ausstieg aus der fossilen Energie ist be-
schlossene Sache.
Professor Thomas Stocker (Universität
Bern) zeigte in einem Referat an einer
NZZ-Konferenz kürzlich, was nötig wäre, um
das 1,5-Grad-Celsius-Ziel zu erreichen, das
vom Weltklimarat (IPCC) vorgegeben und von
der Uno-Staatengemeinschaft zumindest de-
klamatorisch mitgetragen wird. Das noch ver-
bleibende CO2-Budget müsste gemäss IPCC
in den nächsten dreizehn Jahren auf null ge-
senkt werden, was einer jährlichen Redukti-
onsrate von 7,5 Prozent entspricht. Unser
CO2-Ausstoss, der immer noch ungebrochen
weiterwächst, müsste also ab sofort drama-
tisch gebremst werden!

Zum überwiegenden Teil fossil
Doch was geschieht derweil effektiv in der
gros sen, weiten Welt? Die bisherige interna-
tionale Klimapolitik hat kaum Wirkung ge-
zeigt. Nach der BP Statistical Review 2019 ist
der Gesamt energieverbrauch der Welt von
1992 bis 2018 um 69 Prozent angestiegen. Der
fossile Anteil blieb längere Zeit bei 87 Pro-
zent konstant. Erst seit 2012 fiel er langsam
auf 85 Prozent. Noch immer werden also
mehr als vier Fünftel unseres Energiebedarfs
mit fossilen Quellen gedeckt. Auch der jährli-
che Mehrverbrauch ist zum überwiegenden
Teil fossil.
Und doch gibt es erste Anzeichen einer noch
schwachen Wende: Seit 1992 ist der Anteil Öl
am Gesamtenergiemix um knapp 7 Prozent
gesunken und durch rund 4 Prozent erneuer-
bare Energien und 3 Prozent Gas ersetzt wor-
den. Gleichwohl darf man die Proportionen
nicht aus den Augen verlieren. Ungeachtet
fantastischer Ausbauraten von Wind- und So-
larenergie in den letzten Jahren machen sämt-
liche erneuerbaren Energien (ohne

Wasserkraft) erst 4 Prozent des Gesamtver-
brauchs aus.
Zudem hat der Zuwachs an CO2-Emissio-
nen zum überwiegenden Teil im Raum Asien/
Pazifik stattgefunden, zu mehr als der Hälfte
in China. Alle Reduktionen, die Europa reali-
siert hat, sind durch China und Indien mehr-
fach wettgemacht worden. Und die Gewichte
werden sich weiter verlagern: Indien wird
China in absehbarer Zukunft als energie-
hungrigstes Land überholen, getrieben von
weiterem Bevölkerungswachstum und einem
noch bescheidenen Pro-Kopf-Energiever-
brauch.
All diese energiepolitischen Veränderun-
gen hat die Internationale Energieagentur
(IEA) ihrem Outlook 2019 zugrundegelegt.
Im Szenario «New Policies» geht sie davon
aus, dass alle Länder bis 2040 ihre Verspre-
chungen, die sie im Pariser Klimaabkommen
abgegeben haben, vollständig erfüllen wer-
den. Das Resultat ist ernüchternd: Der Ener-
gieverbrauch steigt um weitere 25 Prozent,
und auch der CO2- Ausstoss nimmt auf einem
leichten Aufwärtspfad weiter zu. Eine un-
überbrückbare Diskrepanz zwischen An-
spruch und Wirklichkeit tut sich auf: Laut IP-
CC sollten wir den CO2-Ausstoss jährlich um
über 7 Prozent senken, doch die Prognosen
aufgrund optimistischer Annahmen zeigen
ein weiteres Wachstum. Von netto null ist die
Welt im Jahr 2040 weiter entfernt als heute.
«Wenn wir alle zusammen unseren Lebens-
stil ändern, können wir den Klimawandel
stoppen.» Das sagte Selina Walgis, National-
ratskandidatin von den Jungen Grünen, im
Gespräch mit der NZZ. Diesem Satz werden
viele Leute heutzutage sicher zustimmen,
weil die Zustimmung nichts kostet, aber ein
gutes Gefühl vermittelt. Doch wie möchte die
junge grüne Hoffnungsträgerin drei Vierteln
der Menschheit die Änderung des Lebensstils
schmackhaft machen? Durch gutes Zureden
oder doch eher durch eine autoritäre Welt-
regierung? Man kann nur hoffen, dass sich
auch die Wahlberechtigten solche Fragen stel-
len, bevor sie den Wahlzettel ausfüllen.

Hans Rentsch ist promovierter Ökonom und freier
Autor.
Martin Schlumpf ist emeritierter Professor
für Musiktheorie und privater Forscher, vor allem
auf den Gebieten Energie und Klima.
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