Die Weltwoche - 05.09.2019

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40 Weltwoche Nr. 36.19
Bild: Silas Koch (World Vision)


Dreissig Monate war Tony Rinaudo nun be­
reits im Niger, einem der ärmsten Länder in
der Sahelzone. 6000 Bäume hatte er jedes Jahr
gepflanzt. An einer Hand konnte er jene ab­
zählen, die überlebten. Es war ein aussichts­
loses Projekt. In seiner Verzweiflung tat er
das, was er bereits als Kind getan hatte, als in
seiner Heimat, im Ovens Valley im Nordosten
Victorias, Australien, ein Pestizidabfluss Fi­
sche und Gewässer verseucht hatte und Tau­
sende Hektar Buschland abgeholzt worden
waren. Damals betete er zu Gott: «Bitte nutze
mich auf irgendeine Weise, damit ich etwas
Sinnvolles bewirken möge.»
Kurz darauf begab sich Rinaudo auf eine
lange Reise, die ihn Anfang der achtziger Jahre
zuerst zu einem Agronomiestudium und dar­
auf als Missionar in den Niger führte. An der
Uni hatte man ihm ein Axiom der Entwick­
lungshilfe eingetrichtert: «Gegen den Hunger
muss man Bäume pflanzen.» Doch die Theorie
erwies sich in der harschen Realität des Niger
als totaler Reinfall. Schlimmer noch, die Men­
schen dort interessierten sich keinen Deut für
den Australier und dessen wohlmeinendes
Projekt. «Nach zweieinhalb Jahren Pflanzzeit
war ich bereit, aufzugeben und nach Hause
zu gehen.» Ehe er seine Sachen packte, wand­
te er sich abermals dem Allmächtigen zu und
hoffte auf ein Zeichen des Himmels.

Tony Rinaudo, Sie hatten auf Ihren Ge­
ländewagen Baumsetzlinge geladen und
fuhren in die Steppe hinaus, als Sie eine
Entdeckung machten, die Ihr Leben und
das von Millionen von Menschen verän­
dern sollte. Wie hat sich das zugetragen?
Ich machte halt, um den Luftdruck der
Reifen zu prüfen. Da fielen mir die vielen
Büsche in der Landschaft auf. Ich hatte sie
schon oft gesehen, mir aber nichts dabei
gedacht. Nun schaute ich genauer hin. Als
ich die Form ihrer Blätter betrachtete, er­
kannte ich, dass es sich um eine Baumart
handelte. In diesem Moment fiel es mir wie
Schuppen von den Augen. Es gab buch­
stäblich Millionen dieser Sträucher, und
plötzlich begriff ich, dass sie alle das Po­
tenzial hatten, zu Bäumen zu werden. Bis­
lang war es nie dazu gekommen, weil die
Bauern vor der Aussaat ihrer Nahrungs­
pflanzen jeweils diese Büsche ausgerissen
und verbrannt hatten. Für sie waren sie
Unkraut, welches der nächsten Ernte im
Weg stand.

Wenn ich Sie richtig verstehe, waren die
Büsche in Wirklichkeit die Ausläufer einer
Baumkolonie, eines unterirdischen Walds,
der nach der Rodung lange Zeit tief in der
Erde überlebt hatte?
Absolut richtig. Die meisten Baumarten
sterben nicht aus, wenn man sie rodet. Sie
verfügen noch über 30 bis 50 Prozent der
Biomasse unter der Erde in Form von
Wurzeln.
Wie tief unter der Erde?
Es hängt vom Alter und der Art ab, aber
einige der Pfahlwurzeln können zwanzig
oder dreissig Meter tief reichen.
Wie alt sind diese unterirdischen Wälder?

Eine wissenschaftlich fundierte Antwort
kann ich Ihnen nicht geben, aber gemäss
meinen Erfahrungen können Baumstümpfe
mehr als hundert Jahre, vielleicht zwei Jahr­
hunderte alt werden.
Sie haben eine spezielle Technik, diesen
unterirdischen Wald wieder auf der Ober­
fläche wachsen zu lassen. Wie funktioniert
das?
Die Saat für den neuen Wald entspringt
den Köpfen der Menschen. Wenn ich das
menschliche Verhalten ändern kann, wird
der Baum von selbst wachsen. Wenn es mir
gelingt, die Bauern davon zu überzeugen,
dass sie und ihre Kinder eine bessere Zu­

«Crazy Tony» lässt die Wüste blühen


Tony Rinaudo nutzt ein Teppichmesser als Waffe gegen Armut und Hunger.


Der Australier erklärt, wie er mit scharfer Klinge und etwas himmlischer Hilfe unterirdische Wälder


in die Höhe zieht und so die Massenmigration bremsen kann. Von Urs Gehriger


«Wo es mal Wald gab, kann Wald zurückkehren»: Ex­Missionar Rinaudo.
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