Die Weltwoche - 05.09.2019

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Weltwoche Nr. 36.19 43
Bild: Flickr (Hans-Michael Tappen); Illustration: Bianca Litscher (www.sukibamboo.com)


J


eder Krieg hat sei­
ne Vorgeschichte.
Der deutsche Kanz­
ler Adolf Hitler be­
gründete in seiner
Rede vor dem Reichs­
tag das Losschlagen
mit den berühmt­
gewordenen Worten:
«Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf
unserem eigenen Territorium auch mit bereits
regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr
wird jetzt zurückgeschossen.»
Tatsächlich hatten die Deutschen schon
früher mit dem «Zurückschiessen» begonnen.
Hitler berief sich auf den Versailler Vertrag,
der das Leiden Deutschlands und der Deut­
schen unerträglich gemacht habe, und darauf,
dass seine Friedensvorschläge auch von Polen
zurückgewiesen worden seien. Das war aber
nur noch Rekapitulation des Bekannten. Er
hatte weitertragende Pläne.
Der damalige Auslandchef der NZZ, Albert
Müller, schrieb im Morgenblatt des 4. Septem­
bers 1939 mit unnachahmlicher Klarheit:
«Man kann die Augen nicht verschliessen vor
der Tatsache, dass die Verantwortung für diese
europäische Katastrophe auf einem Mann
liegt, der – viel eindeutiger als in früheren
historischen Kontroversen über die Frage der
Kriegsschuld – mit Name und Vorname be­
zeichnet werden kann.»
Müller schrieb, als Grossbritannien und
Frankreich sich bereits im Kriegszustand mit
Deutschland befanden. Bis zum 31. August
habe sich die britische Diplomatie bemüht,
einen bewaffneten Angriff Deutschlands auf
Polen zu verhindern. Die Reichsregierung
ging darauf gar nicht mehr ein.
Der Angriff auf Polen bedeutete unter die­
sen Umständen «eine Herausforderung der
beiden Westmächte, die daraus die Konse­
quenzen ziehen mussten, wenn sie nicht selbst
einer deutschen Vorherrschaft über Europa
sich beugen und nach einer Niederlage Polens
die immer steigenden Ansprüche und Forde­
rungen des Siegers erfüllen wollten».
Der vor kurzem verstorbene Historiker John
Lukacs bezeichnete das Geschehen von 1939
bis 1941 als den letzten europäischen Krieg.
Nachher veränderte sich alles. Es könne immer
noch zu Revolutionen und Bürgerkriegen
kommen. Auch Eroberungen von aussen seien
denkbar. Doch ein Völkerkrieg, mit dem eine
Nation versuche, ganz Europa zu dominieren,

mit dem Resultat eines alleuropäischen Ge­
metzels sei sehr unwahrscheinlich geworden.
Das Jahr 1941 sei der Wendepunkt gewesen.
Vorname und Name des Kriegsschuldigen –
Adolf Hitler ist der Spiritus rector, die treiben­
de Kraft. Ohne ihn ist der Weltenbrand nicht
zu verstehen. So wächst auch die Hitler­Litera­
tur Jahr für Jahr – vier neue deutschsprachige
Biografien allein seit 2018 – und es gibt Bücher
über die Bücher. Der letzte Satz in einem dieser
Werke lautet: Mit Hitler werden wir so schnell
nicht fertig.

Geschichte als Fundgrube
Lukacs vertrat später, nach dem Umbruch der
Jahre 1989/91, die damals kaum verstandene
These, die stärkste Kraft im 20. Jahrhundert sei
nicht der Kommunismus, sondern der Natio­
nalismus gewesen. Dieser werde auch die
Zukunft in den Zerfallszonen der einstigen
Imperien bestimmen.
Achtzig Jahre seit Kriegsbeginn, hundert
Jahre seit dem Vertrag von Versailles, den
Hitler in seiner Reichstagsrede zwanzig Jahre
später als unerträgliche Last für die Deutschen
und als Kriegsgrund hinstellte. Die deutsche
Opferrolle ist tief verankert und weitverbrei­
tet.
Noch im Jahr 1984 – nomen est omen – be­
tonte der amerikanische Diplomat George F.

Kennan, Vater der Containment­Strategie im
Kalten Krieg, dass die Rachsucht der briti­
schen und französischen Friedensbedingun­
gen dem Nationalsozialismus und einem
weiteren Krieg den Boden bereitet habe. Der
Zweite Weltkrieg sei das Ergebnis des dum­
men und demütigenden Straffriedens gewe­
sen, der Deutschland aufgezwungen wurde.
Geschichte ist eine Fundgrube, aber auf je­
den Fall ein Kontinuum. Die Deutschen waren
keine Chorknaben. Die Bedingungen, die das
neuvereinigte Reich dem besiegten Frank­
reich 1871 nach dem preussisch­französischen
Krieg diktierte, waren harscher als jene von
Versailles. Hätten die Deutschen den Ersten
Weltkrieg gewonnen, wäre ihr «Versailles»
viel schärfer ausgefallen, wie sich aus den Plä­
nen vor Kriegsbeginn ablesen lässt. Und
schliesslich: Die drakonischen Gebietsverluste
des Zarenreichs, der Sowjetunion nach dem
Frieden von Brest­Litowsk 1918 lassen sich mit
Versailles gar nicht erst messen.
Im Gegensatz zu 1945 verlangten die Alliier­
ten von Deutschland keine bedingungslose
Kapitulation und nahmen es dann mit der
Durchsetzung des Versailler Vertrags nicht
sehr genau. Eine Besetzung Deutschlands
wollten die Sieger nicht – sie hatten einen
Grossteil ihrer Truppen schnell demobilisiert.
Versailles hätte Jalta und Potsdam sein müs­
sen.
Der französische alliierte Oberkomman­
dierende Marschall Ferdinand Foch wollte
einen Frieden, der es für Deutschland un­
möglich machen sollte, je wieder Frankreich
anzugreifen. Er erklärte zu Versailles: «Das
ist kein Friede. Das ist ein Waffenstillstand
für zwanzig Jahre.» Er irrte sich um genau 65
Tage.

Ausland


«Seit 5.45 wird zurückgeschossen»


Von Hansrudolf Kamer _ Mit dem deutschen Angriff auf Polen
vor achtzig Jahren begann der Zweite Weltkrieg, der die Geschicke
Europas und Asiens bis heute prägt.

Nachher veränderte sich alles: Hitler im deutschen Reichstag, 1. September 1939.
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