Die Weltwoche - 05.09.2019

(ff) #1
Weltwoche Nr. 36.19 49

Verrückte Zeiten: Regisseur Polanski mit seiner Frau Emmanuelle Seigner, 2013.


R


oman Polanski, 86, bleibt auf Achse. Ber-
lusconi-haft hält sich der Hollywood-Greis
im Gespräch wie keine andere Filmgrösse
seiner Altersklasse. Taucht der Regiemeister
irgendwo auf, hat man sofort das Gefühl, er
werde noch im selben Moment festgenom-
men. Wird eines seiner neuen Werke angekün-
digt, weht demjenigen, der es zeigt, ein Sturm
der Entrüstung entgegen.
An der Mostra del cinema di Venezia, dem
ältesten Filmfestival der Welt, das am Samstag
zu Ende geht, ist es mal wieder so weit. Direk-
tor Alberto Barbera muss sich verteidigen, weil
er Polanskis neuen Film «J’accuse» in den
Wettbewerb aufnahm. Der Regisseur selber
kam nicht nach Venedig, schliesslich wird er
seit 1978 von den Amerikanern gesucht. Er gab
damals zu, Sex mit einer Dreizehnjährigen ge-
habt zu haben, floh aber während des Gerichts-
prozesses nach Europa. Danach konnte er sich
jahrzehntelang wieder voll und ganz der ge-
liebten Filmerei widmen.
Seinen Lebensabend dürfte sich Polanski
dennoch anders vorgestellt haben. Aus hei-
terem Himmel wurde er 2009 in Zürich ver-
haftet, dann entehrt. Die Zeiten sind fast noch
verrückter als damals in den sechziger und
siebziger Jahren, als er, der Pole, in Hollywood
Meisterwerke drehte, als seine erste Frau
Sharon Tate vom Manson-Clan ermordet
wurde, als er zurück nach Europa flüchtete und
weiterhin Film um Film herausbrachte.
Polanski blieb Polanski. Doch die Welt um
ihn herum veränderte sich. Noch 2002 wurde
sein Film «The Pianist» mit drei Oscars ausge-
zeichnet. Letztes Jahr schloss man ihn unter
dem Druck der #MeToo-Bewegung in Holly-
wood plötzlich aus der Oscar-Academy aus,
obwohl er sich seit vierzig Jahren nichts mehr
hat zuschulden kommen lassen. Immer unge-
mütlicher wurde es für Polanski, nachdem die
USA 2005 einen internationalen Haftbefehl
gegen ihn ausgestellt hatten. Dieser wurde
ihm in der Schweiz zum Verhängnis. Seinen
Film «The Ghost Writer» musste er, 76-jährig,
in einem Winterthurer Gefängnis fertigstel-
len. Die Auslieferung an die USA blieb ihm
allerdings erspart.
2019 ist wieder ein Polanski-Jahr. Zum einen
spielt seine Biografie in Quentin Tarantinos
neuem Film um den Mord an Sharon Tate eine
zentrale Rolle. Und jetzt in Venedig gab es
während der ersten Festivaltage in den Medien
fast nur ein Thema: Darf man den Film eines
Sexualstraftäters zeigen? Das Publikum küm-
merte dies wenig: Polanskis Historiendrama
über die Dreyfus-Affäre erhielt bei der Pre-
miere tosenden Applaus.

Ikone der Woche


Most wanted


Von Benjamin Bögli
Free download pdf