Die Weltwoche - 05.09.2019

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Weltwoche Nr. 36.19 53
Bild: Brigitte Friedrich (Süddeutsche Zeitung, Keystone)


der Werbetexter durch, im Roman wäre etwas
weniger davon mehr gewesen.
Hört man sich unter hiesigen Werbern um,
so ist von Tom Zürcher nur Positives zu hören.
Er gilt als herausragendes Talent, als Einzel-
gänger, der sich von jeglicher Szene fernhält.
Er ist weder Mitglied des Art Directors Club
noch des Schweizer Autorenverbandes. Welche
bekannten Werbesprüche von ihm stammen,
dürfe er nicht verraten, da er als Selbständiger
hauptsächlich im Auftrag grosser Agenturen
arbeite. «Diese wollen nicht, dass der Kunde
erfährt, dass der Slogan von einem freien
Texter und nicht von ihnen stammt.»
Werbetexter sei für ihn bloss ein Brotberuf.
«Einer, der nicht weh tut.» Er arbeite nur so
viel, bis er wieder genug Geld habe, um sich
einem neuen Buch zu widmen. An «Mobbing
Dick» hat er ganze zwei Jahre geschrieben.
«Es ist ein Rennen gegen das Bankkonto. Ist
es leer, muss das Buch fertig sein.» Förder-
gelder be antragt hat er noch nie. «Weshalb
sollen andere für mich bezahlen?»


«Der unentdeckteste Schriftsteller»


Als «Mobbing Dick» im Juni dieses Jahres
herauskam, passierte dasselbe wie bei seinen
vorangehenden zwei Romanen: nichts. In
den Zeitungen erschien keine einzige Rezen-
sion, in den Buchhandlungen fand man den
Roman, wenn überhaupt, bloss versteckt.
Doch dann erschien plötzlich eine hymnische
Besprechung beim deutschen Radiosender
Deutschlandfunk. Rezensent war der renom-
mierte Berliner Literaturkritiker Jörg Mage-
nau, seines Zeichens Jurypräsident des Deut-
schen Buchpreises. Eine Woche später wurde
die Nomination von Zürchers Roman be-
kannt gegeben. Magenau sagt auf Anfrage, er
sei erst durch seine Tätigkeit als Juror auf
Zürcher aufmerksam geworden. Mehr will er
über das Auswahlverfahren nicht sagen.
Seither hat sich für Tom Zürcher vieles ge-
ändert. Plötzlich kommen Bestellungen aus
Deutschland, der Verlag druckt demnächst die
zweite Auflage. Die Selbstbezeichnung, mit
der Zürcher stets kokettierte, ist nun definitiv
Vergangenheit: dass er der «unentdeckteste
Schriftsteller» der Schweiz sei.


Schweizer Klassiker


Last eines Sohnes


Mit dem Roman «Der Stumme» gab Otto F. Walter 1959
einer sprachlosen Generation eine schreiende Stimme.
Von Christoph Mörgeli

Vereint in Schuld und Sühne: Schriftsteller Walter.

Otto F. Walter: Der Stumme.
Rowohlt. 9. Aufl., 2012. 184 S.

Tom Zürcher:
Mobbing Dick.
Salis. 288 S., Fr. 33.90

E


r kämpfte um die Liebe und Anerkennung
eines übermächtigen Vaters. Dieser war
gutbürgerlicher Nationalrat und Inhaber eines
katholisch-konservativen Verlags in Olten.
Nach acht Töchtern, darunter die Lyrikerin
Silja Walter, ruhten viele väterliche Hoffnun-
gen auf dem Stammhalter. Otto Friedrich Wal-
ter (1928–1994) wurde zunächst brav Kloster-
schüler, Offizier, Buchhändler und Verleger im
väterlichen Geschäft. Doch sein berühmter
Erstling bedeutete radikale Distanzierung,
schroffe Emanzipierung, ja zornige Auseinan-
dersetzung mit dem Vater-Sohn-Thema. «Der
Stumme» wurde nach seinem Erscheinen zu
den bedeutendsten Romanen der deutschspra-
chigen Nachkriegsliteratur gezählt – und er-
wies sich als tragfähig genug, um es zu bleiben.
Einem Bautrupp im herbstlich trüben Jura
schliesst sich der stumme Hilfsarbeiter Lothar
Ferro («Loth») an. Er weiss unter den zwölf ab-
geschieden lebenden Arbeitern seinen Vater.
Loth musste als Kind miterleben, wie dieser
Trunkenbold im Affekt die Mutter umbrachte.
Dabei verlor er seine Sprache. Die eingeblen-
dete Vergangenheit erinnert an die Verhältnisse
einer miesen Kindheit. Der Vater schlägt sich als
Hausierer durch, der seine Waren mit dem Mo-
torrad von Haus zu Haus schleppt. Er nimmt
den Sohn mit, der ihn trinken, huren und prü-
geln sieht. Nach der Entlassung des herunter-
gekommenen Alten aus dem Gefängnis findet
ihn Loth im zwölfköpfigen Strassenbautrupp.
Er wird nicht erkannt, führt aber als Erken-
nungszeichen einen Motorradschlüssel mit
sich, den er dem betrunkenen Vater einst abge-
nommen hat und der die Erinnerung sofort
wiederherstellen würde.
Vater Ferro – nicht nur ein Totschläger, son-
dern auch ein Dieb – klaut einen Benzinkanis-
ter. Der Verdacht fällt auf den Sohn, der zur
Strafe die letzte, gefährlichste Sprengung vor-
nehmen muss. Jetzt erst erkennt der Vater das
Sohnesopfer, hastet zum Sprengplatz und wird
vom niederprasselnden Sprengschutt erschla-
gen. In Schuld und Sühne treffen, erkennen
und vereinen sich die beiden. Das jahrelange
Schweigen des Sohnes wird zerrissen mit dem
ersten, erschütternden Wort: «Vater!»
Die von Otto F. Walter souverän, knapp und
neuartig inszenierte Geschichte des «Stum-
men», die sich in einem Schrei entlädt, be-
endete mit einem Schlag die gesellschaftlich
und politisch lähmenden fünfziger Jahre. Die
Sechziger sollten Umbruch, Aufbruch, auch
Abbruch bringen. Walters Literatur war anders

in Erzählton, Sprachwucht, vibrierendem
Klang, Wortwahl, Ambiente. Eine stumme Fi-
gur als Romanmittelpunkt erforderte eine Art
stummes Sprechen. Im gleichen Jahr, 1959, sollte
Günter Grass mit seiner «Blechtrommel» die
Nachkriegsliteratur in Deutschland umpflügen.
«Der Stumme» wurde 1976 unter der Regie
von Gaudenz Meili unter anderem mit Hanna
Schygulla erfolgreich verfilmt. Otto F. Walter
gehörte zu den Mitbegründern der Solothur-
ner Literaturtage und der progressiven Gruppe
Olten, die sich statutarisch dem Sozialismus
verschrieb. Als es 1992 um die Frage der politi-
schen Zukunft der Schweiz in Europa ging,
sprach sich Walter nach fragendem Ringen und
sorgfältigem Abwägen für ein Nein zum EWR
aus. Dies machte ihn bei den Genossen und un-
ter den Schriftstellerkollegen jäh zum Aussen-
seiter. Der Schöpfer von grossartiger Sohnes-
literatur hatte zeitlebens etwas Jugendliches an
sich. Er starb als Gentleman, der sein Leben lang
nach dem Guten und nach echter Liebe gesucht
hatte, mit 66 Jahren an Lungenkrebs.
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