Die Weltwoche - 05.09.2019

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Weltwoche Nr. 36.19 61


tarist Asif Kapadia («Senna») schildert Mara-
donas Karriere, ohne zu beschönigen, frei von
Häme und Spott. Aus seltenem Dok-Material
stellte er eine aufregende Bio zusammen,
die auch Nicht-Fussballfans faszinieren wird.
Kapadia fand zum Teil unscharfes und dilet-
tantisches Material, das das Gefühl von
Authentizität verstärkt. HHHH✩


Le miracle du saint inconnu _ Das Wesen
des «absurden Theaters» («Warten auf Go-
dot») ist das unbegreifliche Scheitern, aber ver-
traut, zuweilen auch witzig erzählt. Ein Ma-
rokkaner hat das Konzept in einem hinreis-
senden Film aufgegriffen: Ein Mann vergräbt
auf einem Hügel mitten in der Wüste geklau-
tes Geld. Nach mehreren Gefängnisjahren


kehrt er zurück, um sich den Zaster zu holen.
Doch dort, wo er ihn vergrub, steht jetzt ein
Mausoleum für den «unbekannten Heiligen».
Pilger verhindern die Ausgrabung. Regisseur
und Autor Alaa Eddine Aljem hat die Meister
des Absurden (Adamov, Ionesco, Beckett) ge-
nau studiert. Spröde, skurril und staubtrocken
wie Sand und Klima, wird das Sisyphos-
Lebensgefühl (beinahe ohne Dialoge) in der
nackten Ödnis fast greifbar. HHHH✩


Staubtrocken: «Le miracle du saint inconnu».


Knorrs Liste
1 Toy Story 4 HHHHH
Regie: Josh Cooley
2 Parasite HHHHH
Regie: Bong Joon-Ho
3 Once Upon a Time in Hollywood HHHH✩
Regie: Quentin Tarantino
4 Yesterday HHHH✩
Regie: Danny Boyle
5 Spider-Man: Far from Home HHHH✩
Regie: Jon Watts
6 Dolor y gloria HHHH✩
Regie: Pedro Almodóvar
7 Die fruchtbaren Jahre sind vorbei HHH✩✩
Regie: Natascha Beller
8 The White Crow HHH✩✩
Regie: Ralph Fiennes
9 La paranza dei bambini HHH✩✩
Regie: Claudio Giovannesi
10 Blinded by the Light HHH✩✩
Regie: Gurinder Chadha


W


er in Hollywood aufwacht, erwacht
mit Ängsten. Hab ich ein graues Haar?
Eine neue Falte? Hab ich zugenommen? Ist
die Netflix-Aktie abgestürzt? Hollywood
hat Angst – vor den Streaming-Giganten!
Sind sie der Tod Hollywoods? Nein. Wenn es
regnet, juchzen unsere Kids: «Es netflixt!»
152 Millionen Fans in 190 Ländern haben ein
Nonstop-Abo. Es ist das neue Heimkino für
TV, Laptop und Handy.
Netflix ist ein Goldregen – 12 Milliarden
Film-Investment pro Jahr! Netflix-Guru
Reed Hastings, 58 (3,4 Milliarden Dollar),
hat kein Büro: «Mein Smartphone ist mein
Office!» Er hatte seine Genie-Idee, als er eine
ausgeliehene DVD von «Apollo 13» verlegt
hatte. Heute ist Netflix der Horror für das
alte Hollywood, von Spielberg bis Cannes:
«Das ist kein Kino! Das ist Fernsehen!»
Screen nonstop ist die Zukunft. 4000 Stun-
den Serien – ein Jahr binge watching nonstop?
Bei den Oscars war der Sunset Boulevard
zugepflastert mit Netflix-Werbung für
«Roma» (schwarzweisse Liebeserklärung an
Kindermädchen, in Spanisch, mit Unter-
titeln). Hollywood fröstelte – Fluch oder
Segen? Ich traf das neue Dream-Team Leo
DiCaprio, 44 («Titanic»), und Legende Brad
Pitt, 55, bei der Premiere der genialen Taran-
tino-Buddy-Komödie «Once Upon a Time in
Hollywood» (161 Minuten). Leo (Tom- Ford-
Jeansjacke) ist sicher: «Das Kino wird nie
sterben!» Brad (Breitling-Uhr und Käppi)
umarmt das Streaming: «Es ist ein Paradies
für alle Schauspieler!» Touché!
90 Prozent der Schauspieler in L. A. sind
Kellner – oder ohne Job. B-Star Jeff Daniels,
64 (9/11-Serie «The Looming Tower»), wirkt
wie neugeboren: «Für uns ist das eine Gold-
grube – es gibt so viele Talente!» Luxus-
dilemma: Kein Filmboss liebt Netflix, Ama-
zon, HBO und Co. – aber jeder guckt’s. Und
jeder nimmt das Geld.
Regiegenie Martin Scorsese, 76, zeigt sei-
nen Mafia-Thriller «The Irishman» nicht in

Cannes –, sondern am New York Film Festi-
val (27. 9.) – mit Kino-Ikone Robert De Niro,


  1. Na und? New York ist Hollywoods Wall
    Street – und hideaway vieler Stars, die Holly-
    woods Lifestyle hassen, etwa Matt Damon,
    Jennifer Lawrence oder Liam Neeson.
    Es wird einen Streaming-Krieg um die
    Stars und Macher geben – er tobt schon. Ein
    500-Millionen-Dollar-Vertrag für Ideen-
    genie J. J. Abrams, 53 («Star Wars», «Star
    Trek», «Mission Impossible» etc.), 300 Mil-
    lionen für die «Game of Thrones»-Zauberer
    David Benioff, 48, und D. B. Weiss, 48. Ein
    AT-&-T-Boss: «Wir müssen alle fünfzehn
    Minuten Filmreize auf die Fan-Screens pro-
    duzieren – auf Handys, Pads und Laptops.»
    Stirbt das Kino also doch? Das lineare TV
    ist schon tot. Handy statt Kinosessel? Jeder
    Hollywoodstar hat ein Privatkino – oder
    Giganten-TVs («Pate»-Coppola schwört auf
    LG-OLED). Kino ist ein Konzert der Sinne.
    Kino ist Selbstbestimmung – und Abenteuer
    to go. Spielberg, der König von Hollywood:
    «Im Kino wird man wieder zum Kind!» Tom
    Cruise glüht, wenn er übers Kino spricht
    (früher hatte er tausend DVDs): «Ich habe
    Zeitungen ausgetragen, um mir als Kind ein
    Kinoticket kaufen zu können!» Woody
    Allen seufzt: «Kino war meine Erziehung.
    Ich hätte gern so ein Privatkino wie Marty
    Scorsese!» Kino ist zwei Stunden garantier-
    tes Glück, Flucht, Zeitmaschine und Folter-
    kammer der Träume.
    Wir leben zweimal – wenn wir im Kino
    sitzen. Golden-Globe-Gewinner Fatih Akin
    («Aus dem Nichts») haut mit Espresso-
    Augen auf den Café-Tisch: «Erlebtes Kino
    ist ein Event – wie ein Rockkonzert! Grosses
    Kino ist für mich Sozialismus der Fantasie



  • weil wir ein Ereignis mit anderen gleich-
    zeitig teilen und erleben.» Kino ist eine
    Fantasie-Oper der Gefühle und Gedanken.
    Hollywood wird nie sterben.


Körzis Hollywood


Angst im Paradies


Stirbt das Kino also doch? Von Norbert Körzdörfer


Norbert Körzdörfer ist Journalist
und Schriftsteller.
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