Die Weltwoche - 05.09.2019

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Weltwoche Nr. 36.19 9
Bild: Melanie Duchene (Keystone)

I


n den spanischen Arenen blieb es eine Mi­
nute totenstill, es pochten nur die Herzen.
Noch erstaunlicher war das Schweigen davor.
Während Monaten hielten die Medien, die
sonst gierig jedes Unglück ausschlachten, die
traurige Geschichte unter Verschluss, den tra­
gischen Grund, weshalb der Fussball­Natio­
naltrainer Luis Enrique, 49, Ende März seine
Mannschaft in Malta im Stich gelassen und
schliesslich im Juni demissioniert hatte.
Die schockierende Erklärung, die Luis Enri­
que selber bekanntgab: Sein Töchterchen Xana,
das im Stadion gerne eine grosse Flagge für
den Papa flattern liess, ist mit neun Jahren an
Knochenkrebs gestorben. Ministerpräsident
Pedro Sánchez schickte «eine Umarmung»,
Rafa Nadal kondolierte, und vielleicht kam
das zerrissene Spanien einige Tage zur Be­
sinnung. Luis Enrique ist ein Grenzgänger der
Versöhnung im Katalonienkonflikt. Er
stammt aus Gijón am Atlantik, und sein Ge­
sicht, auch als er ein Star auf dem Rasen war,
zuerst fünf Jahre für Real Madrid, dann acht
Jahre für den FC Barcelona, verrät Melancholie
und Härte dieses Menschenschlags. Seine Mit­
spieler nannten ihn «Lucho» (ich kämpfe).
Seine Frau Elena Cullell, eine Ökonomin, hält
er seit 22 Jahren heraus aus dem Fussballlärm.
Sie bekamen drei Kinder, Xana war das Nest­
häkchen. Nach dem Karriereende als Spieler
stürzte er sich in Selbstfindungstrips wie den
Fünftage­Marathon durch die Sahara oder den
Ironman. Den ersten Top­Job als Trainer bei
AS Roma kündigte er, unzufrieden mit sich
selber. Dann rief ihn sein FC Barcelona zurück,
in einer traumatischen Krise, ausgelöst durch
den Krebstod eines Vorgängers, Tito Vilanova,
der bis zuletzt auf der Bank ausgeharrt hatte.
Luis Enrique gewann auf Anhieb das Triplete,
also Meisterschaft, Pokal und Champions Lea­
gue in einer Saison. Nach zwei Jahren ging
«Lucho» wieder, fast lautlos.
Den Tod seines Kindes hat er über Twitter
gemeldet. Er bedankt sich für die Anteilnahme
und das Respektieren der Privatsphäre seiner
Familie. Peter Hartmann

N


ationalratswahlen sind, wenn über Bun­
desratssitze spekuliert wird. GLP­Prä­
sident Jürg Grossen sagte kürzlich im Blick:
«Sollten sich die bisherigen Trends bewahr­
heiten und die GLP und die Grünen deutlich
zulegen und der rechtsbürgerliche Block aus
FDP und SVP verlieren, muss man die Zusam­
mensetzung des Bundesrats diskutieren. Es ist
nicht erklärbar, dass die politische Mitte mit
rund 30 Prozent bloss einen Sitz hat und die
FDP mit deutlich unter 20 Prozent auf zwei
Sitze kommt.»
Nicht erklärbar?
Die Geschichte ist verbrieft: Die GLP entstand
als Abspaltung der Grünen, eben weil die Grü­
nen nicht in der Mitte politisierten, wie sie es in
ihren Ursprüngen mitunter taten, sondern
weit links davon. Es gibt keinen Mitteblock, der
30 Prozent stark ist, wie Grossen sagt, und es
wird ihn nach menschlichem Ermessen auch
nach den Wahlen nicht geben. Wenn die GLP
die Grünen rhetorisch eingemeindet, um einen
zweiten Bundesratssitz für die Mitte zu be­
anspruchen, ist das so falsch, wie wenn die SVP
die Wähleranteile der BDP anführen würde, um
einen dritten Sitz für die ländlich­ gewerbliche
Schweiz zu fordern.
Grossen irrt aber noch in einem zweiten
Punkt: FDP und SVP haben sich nicht in einem
«rechtsbürgerlichen Block» zusammengefun­

den. Mögen die beiden Parteien auch in vielen
Fragen programmatisch übereinstimmen, sind
sie im parlamentarischen Alltag oft anderer
Meinung. Die ablaufende Legislatur ist ein ein­
ziges, überlanges Exempel dafür.
Wer Bundesratssitze nach Blöcken sortieren
will, stösst unter den herrschenden Bedingun­
gen ohnehin an Grenzen. Die Schweiz ist eine
Konkordanzdemokratie: Die wichtigsten Par­
teien sind in der Regierung vertreten, ohne dass
sie dafür eine Koalition bilden müssen. Allian­
zen können wechseln, je nach Geschäft. Das
funktioniert, weil die Konkordanz arithme­
tisch ausgestaltet ist. Konkret: Die drei wähler­
stärksten Parteien – darunter die FDP – haben
je zwei Sitze, die viertstärkste einen.
Diese Zauberformel hat keinen Ewigkeits­
anspruch, müsste aber auch in neuer Gestalt
harte Kriterien wie Wähleranteile oder Parla­
mentssitze berücksichtigen. Dass die wichtigs­
ten Parteien sich je auf eine inhaltliche Kon­
kordanz einigen könnten, ist abwegig. Zu
unterschiedlich sind ihre Interessen. Wer
anderes behauptet, unterstützt faktisch ein
Modell mit starker Opposition. Das wäre der
Schweiz nicht fremd: Es existierte bis 1959.
Letztlich ist aber die Konkordanz das kongeni­
ale Regierungsprinzip für eine direkte Demo­
kratie, denn es erleichtert breite Kompro misse,
die Volksabstimmungen überstehen. Wer dar­
an rüttelt, muss gute Gründe haben.

Affront gegenüber dem Tessin
Ganz offensichtlich fehlen solche Gründe.
«Wenn Ökoparteien bei den Wahlen zulegen:
Grüne wollen den Sitz von Cassis», titelte der
Blick. Es ist bekannt, dass viele Politiker aus der
Mitte und dem linken Spektrum mit FDP­
Bundesrat Ignazio Cassis fremdeln. Sie würden
eher ihn abwählen als Karin Keller­Sutter, seine
Amts­ und Parteikollegin – obschon sie leichter
zu ersetzen wäre. Es gibt grüne und grünlibe­
rale Frauen mit Bundesratsformat. Hingegen
ist weit und breit kein grüner oder grünlibera­
ler Tessiner in Sicht, der Cassis ab lösen könnte.
Seine Abwahl wäre ein Affront gegenüber der
italienischen Schweiz, die lange hatte warten
müssen, bis sie endlich wieder einmal einen
Bundesrat bekam.
Anders formuliert: Wer mit einem Angriff
auf Cassis liebäugelt, gefährdet nicht nur die
Konkordanz – eine neue Zauberformel müsste
erst gefunden werden –, sondern ist auch bereit,
einen Sprachenstreit zu provozieren. Beides
wäre zum Schaden der Schweiz.

Im Auge


Ich kämpfe


Kommentare


Hände weg von Cassis


Von Erik Ebneter _ GLP-Präsident Jürg Grossen denkt öffentlich
über die Abwahl eines FDP-Bundesrats nach. Treffen würde es
Ignazio Cassis. Es wäre zum Schaden der Schweiz.

Luis Enrique, Vater und Fussballtrainer.

Modell mit starker Opposition: GLP­Chef Grossen.
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